Grimes | Gewagtes Spiel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 14, 100 Seiten

Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane

Grimes Gewagtes Spiel

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18925-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 14, 100 Seiten

Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane

ISBN: 978-3-641-18925-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eigentlich geht es in der stillen Marschlandschaft von Lincolnshire am Rande der Nordsee recht beschaulich zu. Doch dann wird Verna Dunn, eine Schauspielerin mit Starallüren, tot am Strand aufgefunden. Und wenig später treibt die Leiche eines erdrosselten Dienstmädchens in einem der zahlreichen Kanäle. Die Spuren beider Fälle führen nach Fengate, dem Landsitz eines reichen Kunstsammlers, und schnell fällt der Verdacht der Ortspolizei auf Lady Kennington, die auf einer Party dort zu Gast war. Verzweifelt wendet sich die mutmaßliche Täterin an ihren alten Freund Inspektor Jury. Doch während dieser seine heimliche Liebe zu verteidigen sucht, wird die Last der Gegenbeweise immer drückender ...

Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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1


Dorcas haßte die Fens.

Ein Niemandsland, wenn man einmal am Pub vorbei war, dessen Fensterscheiben kalt hinter ihr glänzten wie eine Reihe goldener Fingerabdrücke. Ansonsten kam nur Licht von den Autos, die ab und zu über die A17 fuhren. Die endlose Monotonie der Fens war schon bei Tage schlimm, aber bei Nacht wurde es richtig gespenstisch. Immer wieder blickte Dorcas sich um, sah aber nichts als eine ungeheuer weite schwarze Ebene und die winzigen Lichter des Pub.

Es war kurz nach elf Uhr an einem kühlen Februarabend. Mitte Februar, um genau zu sein. Dorcas wanderte über das Wyndham Fen, dessen klitschiger Boden von dem unaufhörlichen Regen noch matschiger war. Sie hätte die Pumps nicht anziehen sollen. Die Absätze waren vier Zentimeter hoch! Doch ihre Beine sahen einfach besser damit aus. Sie war überzeugt, daß es hier Treibsand gab, obwohl die Leute immer behaupteten, die Fens seien Marschland und man müsse nicht befürchten, verschlungen zu werden, selbst wenn der Untergrund morastig und weich sei. Aber man weiß ja nie, dachte sie.

Das Pub lag nun ein ganzes Stück hinter ihr, gewiß achthundert Meter, die Lichter sah man immer noch. Sie wirkten so weit weg wie Sterne, und zwischen ihr und dem Rand des schwarzen, leeren Horizonts lag das Nichts. Dorcas haßte das Wyndham Fen vor allem wegen der Touristen, die ins Pub kamen und dumme Fragen stellten. Manchmal machte sie sich einen Spaß daraus, ihnen dumme Antworten zu geben und zu beobachten, wie sich auf ihren Gesichtern Verwirrung ausbreitete. Lächerlich, wie die Leute geradezu begierig Geld ausgaben, um ein Fen zu erleben, wie es vor Hunderten von Jahren ausgesehen hatte. Herr im Himmel, war der Anblick nicht jetzt schon gräßlich genug? Mußte man auch noch dem nachtrauern, was früher war? Ihre Mutter, die hockte ja auch ständig über alten Fotos von Skegness und solchen Käffern, wo sie immer Urlaub machten.

Die dunkle Silhouette des Besucherzentrums trieb auf dem unsteten Boden wie ein Schiff. Die Fens verliehen allem ringsum etwas seltsam Lebendiges – die Dinge wirkten größer, die Bäume wuchsen höher, auch der spitze Turm einer Kirche bohrte sich höher hinauf, und die Baumstümpfe schwollen an. Wenn es hell wurde, gewannen die Dinge ihre natürliche Gestalt zurück, aber selbst im Tageslicht konnte die überwältigende Fläche der Fens das, was in der Ferne auftauchte, noch ferner erscheinen lassen und gleichzeitig das Nahe noch näher. Als könne man sich zu keiner Zeit, weder tags noch nachts, auf das verlassen, was man mit eigenen Augen sah.

Ihre Schuhe versanken in dem schwammigen Boden. Unter dem Gras war Torf. Aus irgendeinem Grund hatte sie immer das Gefühl, daß der Boden nicht trug. Als treibe sie auf einem schwankenden Floß durch den Nebel.

Das Besucherzentrum war das einzige Gebäude hier, also auch die einzige Zufluchtsmöglichkeit. Trotzdem, was für ein komischer Treffpunkt, dachte sie. Sie hätten sich doch genausogut irgendwo anders treffen können, wo es warm und hell war. Hier kam nur Licht von ihrer Taschenlampe, deren schmaler Strahl den Boden traf. Aber sie machte sie bald aus. Als sie nach rechts schaute, wo der hölzerne Promenadensteg sich über die Kanäle wand, fiel ihr ein, wie sehr sie Wasser haßte. Schon immer gehaßt hatte, seit man sie als kleines Gör mal in der Wanne allein gelassen hatte und sie fast ertrunken wäre. Ihre winzigen Hände hatten an dem glatten Emaille keinen Halt gefunden – selbst jetzt noch wurde ihr bei dem bloßen Gedanken daran übel. Als sie mit ihrer Familie dann jeden Sommer nach Skegness fuhr, näherte sie sich dem Meer nie weiter als bis zur Hälfte des Strandes. Dort ließ sie sich mit ihrem geheimen Schatz an Filmillustrierten und Liebesromanen nieder. Die Schutzumschläge ersetzte sie durch andere, und als Jane Eyre, Adam Bede oder David Copperfield verkleidet, bildeten sie eine unterhaltsame Lektüre. Mum und Da dachten, sie läse die englischen Klassiker. »Na, tuste was für deine Bildung, Dorcas? Brav, aber werd nicht zu schlau! Sonst kriegst du keinen Job, der dich ernährt. Haha«, sagte ihr Vater immer. Gewöhnlich nicht gerade ein Spaßvogel, ihr Da, aber wenigstens nervte er nicht dauernd wie die Väter ihrer Freundinnen.

David Copperfield hatte sie in der zehnten Klasse sogar fast ganz gelesen. Ihre Mitschüler hatten sich vor allem auf die Worte gestürzt, die der maulfaule Fuhrmann Barkis dem Copperfieldschen Dienstmädchen Peggotty als Heiratsantrag zukommen läßt: »Barkis will.« Den Satz riefen sie nun Dorcas, die schon mit dreizehn kein unbescholtenes Blatt mehr gewesen war, in einer revidierten Fassung hinterher: »Dorcas will! Dorcas will!« Sie tat so, als sei ihr das völlig schnuppe, aber der Spott tat weh, und ihr Ruf wurde immer schlimmer. Daß sie tatsächlich »wollte«, lag daran, daß sie nicht hübsch war, nur ihre »Willigkeit« machte sie attraktiv. Es hatte sich in der Schule wie ein Lauffeuer verbreitet. Dorcas haßte Charles Dickens.

Seit mehr als zwanzig Jahren nun kämpfte sie insgeheim mit ihrem Aussehen. Auf nichts, aber auch gar nichts, konnte sie stolz sein. Außer vielleicht auf ihre Zähne, aber erzählte ein Mann einer Frau, daß er ihre Zähne liebte? Höchst unwahrscheinlich. Ihr Haar war rostrot und drahtig wie die Topfkratzer, die sie zum Abwaschen benutzte. Nur die reichlich sprießenden Sommersprossen verliehen ihrem Gesicht etwas Farbe. Und ihre Figur glich das Gesicht auch nicht aus. Wenn sie auf dem warmen Sand von Skegness lag, wurde ihr peinlich bewußt, daß ihr Lycrabadeanzug eng wie ein Hüfthalter saß und man die Furchen und Wülste um ihre Taille sah.

Zumindest konnte Da ihr nicht vorwerfen, daß sie faul war. Sie hatte immerhin zwei Jobs, den im Haus und den im Pub. Wenn er natürlich gewußt hätte, warum, na, da hätte er aber ganz schön geguckt. Sie hatte bereits ihr »Weggeh«-Outfit erstanden: ein goldbraunes Waschseidenkostüm. Da wirkten ihre Augen ein wenig honigfarben, nicht einfach nur braun, ja schlimmer als braun, schlickbraun, schlammbraun.

Als sie über den Weg stakste – sie hätte diese Schuhe nie anziehen dürfen –, wurde ihr die Bürde ihres unscheinbaren Äußeren ein wenig leichter, denn letztendlich hatte es ihr nicht geschadet, es war unwichtig. Sie hatte jemanden gefunden, der ihre innere Schönheit sah. Die besaß sie reichlich, davon war sie immer überzeugt gewesen.

Sie ging die paar Stufen des Besucherzentrums hinauf. Ihre Füße taten höllisch weh. Oben angekommen, zog sie die Pumps aus und schlug den Schmutz ab. Mit den in Händen baumelnden Schuhen stand sie da, schaute hinaus auf das Wyndham Fen und seufzte. Sehr geschichtsträchtig. Sie konnte allerdings keinerlei Begeisterung dafüraufbringen. Damals in der zehnten Klasse hatten sie sich einen stinklangweiligen Vortrag über die Trockenlegung der Fens anhören müssen und tausend öde Einzelheiten über die flachen Ebenen. Interessierte das denn wirklich jemanden außer den Leuten, die hier Kilometer um Kilometer Tulpen und Narzissen anbauten?

Da stierte sie nun hinaus auf das dunkle Wyndham Fen, wie es vor hundert Jahren ausgesehen hatte. Oder vor tausend? Wie konnte ein Mensch die vielen Daten und Ereignisse behalten? Die Fens waren alle trockengelegt worden – von wem, wußte sie nicht so genau, vielleicht von den Wikingern? Nein, das war zu lange her. Von diesem dämlichen Holländer, Vanderbilt? Nein, das war der amerikanische Milliardär. Vander … Van der – was? Egal, eines schönen Tages hatte er die Idee, daß man die Fens trockenlegen und in fruchtbares Ackerland verwandeln könnte. Gut und schön, wenn man Bauer war, freute einen das vielleicht, dabei war es doch der stupideste Job der Welt. Aber bitte, manche Leute mochten ihn. Als dann fast ganz Lincolnshire urbar gemacht worden war, hatte jemand anderes – der National Trust? – die Idee, es wäre ganz nett, wenn wenigstens eins der Fens wieder so aussähe wie früher. Warum, warihrschleierhaft. Also setzten sie die Gegend hier um das Besucherzentrum wieder unter Wasser. Überfluteten es oder so. Dorcas stand da, ließ die Schuhe noch immer in den Händen baumelnund dachte, mein Gott, all die Arbeit für nichts und wieder nichts. Idiotisch, das war ja noch größere Zeitverschwendung als die zehnte Klasse. Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.

Das war für Dorcas ein tiefsinniger Gedanke, sie freute sich, denn sie dachte eigentlich nicht gern. Sie wollte ihn sich merken und wiederholen, wenn sie beide miteinander redeten. Er würde angenehm überrascht sein, wenn er feststellte, daß er eine Frau heiratete, die gut kochen konnte, gut im Bett und eine tiefsinnige Denkerin war. Traumverloren summte sie in der kalten Februarluft vor sich hin und wünschte, sie hätte noch einen tiefsinnigen Gedanken. Vielleicht sollte sie David Copperfield noch mal lesen.

Sie schlang die Arme um sich. Nun ärgerte sie sich, weil sie nicht den Mantel, sondern den dicken Pullover angezogen hatte, der hübscher war als das alte schwarze Ding. Sie zitterte, diesmal nicht vor Kälte. Aber sie würde nicht an die tote Frau denken. Nein, sie würde nicht an sie denken, ihren Namen nicht nennen, nicht einmal insgeheim, nur für sich. Sie würde sie verdrängen. Wenn die Frau namenlos blieb, verlor sie ihre Macht, einem Angst einzujagen und alles zu zerstören. Die Polizei würde das in die Hand nehmen oder auch nicht, je nachdem. Sie hatten mit allen im Haus gesprochen, mit ihr auch, bis es ihr zum Hals raushing.

Unter dem Vordach des Besucherzentrums zog Dorcas die Schultern ein, kuschelte sich in den weiten Pullover...


Grimes, Martha
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die »Mystery Writers of America« kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum »Grand Master«, und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.



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