Grimes Inspektor Jury kommt auf den Hund
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18832-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 20, 416 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-18832-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inspektor Jury schweigt - schließlich ist er ja zum Trinken und nicht zum Reden in den Pub gekommen. Sein Gegenüber redet dafür umso mehr: Er erzählt Jury die unglaubliche Geschichte eines befreundeten Physikers, dessen gesamte Familie spurlos verschwunden ist. Einzig der Hund Mungo taucht Monate später wieder auf. Zum Glück - denn ohne Mungo stünde Inspektor Jury bei diesem schwierigen Fall auf ziemlich verlorenem Posten ...
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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»Das Haus selbst – es heißt übrigens Winterhaus – wieso, weiß ich auch nicht, nun, über das Haus selbst wollte ich mehr erfahren. Ein Ort, fand ich, der etwas Besonderes an sich hatte.«
Sie saßen inzwischen in einem dieser angenehmen Restaurants, wo Speisen und Service offensichtlich wichtiger waren als die Einrichtung, denn es gab weder diese schrecklichen Raumteiler aus Kunstharz oder Milchglas noch Wandleuchter mit eingraviertem Muster, auch keine ausladenden Ledermöbel und grellweiße Tischwäsche. Der Abstand zwischen den Tischen war so groß, dass man nicht das Gefühl bekam, die Leute am Nebentisch belauschten die Unterhaltung. Harry Johnson war hier offenbar Stammgast, denn der Oberkellner kannte ihn mit Namen und behandelte ihn sehr zuvorkommend.
Sie hatten bestellt, oder vielmehr hatte Harry vorgeschlagen, dass der Ober die Bestellung für sie ausführte, ebenso wie er den Sommelier gebeten hatte, den Wein auszusuchen.
»Das Haus hatte etwas Besonderes an sich?«
Harry zuckte die Achseln. »Genau weiß ich auch nicht, was ich damit sagen will. Etwas Unheimliches. Als wir wieder wegfuhren, kam uns am Ende der Auffahrt ein alter Mann entgegen, vermutlich jemand aus dem Dorf. Wir hielten an und fragten nach dem Swan, einem Pub ganz in der Nähe. Er sagte, es sei noch ein kleines Stück weiter, und raunte uns dann zu, dass er Jessup heiße, hier in der Gegend wohne und uns vor ›dem Haus da drüben‹ warnen wolle. Er meinte, wir sollten uns vor dem Wald hüten. Stellen Sie sich das mal vor.« Harry lachte.
»Kam Ihnen der Wald denn irgendwie schaurig vor?«
»Nein.«
»Was ist mit dem Besitzer? Was hatte der zu sagen?«
»Der lebt in San Gimignano, einem von diesen Bergstädtchen in der Toskana, in einer casa torre. Dort wimmelt es von solchen Türmen.«
»Sie waren dort?«
»Ja. Wir haben schließlich nach allen möglichen Spuren gesucht. Hugh war dazu nicht in der Lage, also bin ich hingefahren. Der Besitzer wollte nicht nach England kommen – wieso sollte er auch? Er hatte das Haus einer Maklerin anvertraut, sollte die sich verdammt noch mal darum kümmern.«
»Aber hätte es nicht auch telefonisch geklärt werden können? Dafür extra nach Italien zu fahren, erscheint mir ein bisschen übertrieben.«
»Ist eine Reise nach Italien denn nicht immer die Mühe wert? Außerdem war ich noch nie dort gewesen.«
Jury lachte. »Verstehe. Und weiter?«
»Interessant, was Ihren Einwand wegen des Telefons betrifft: Er wollte es nicht am Telefon besprechen. Falls ich zu ihm kommen wollte, könnte ich das gerne tun.«
Der Ober hatte ihre Salate gebracht, vorwiegend neue, trendige Sorten mit Stilton und Walnüssen in einem Zitronendressing.
Harry fuhr fort: »Zwei Tage später stand ich bei ihm vor der Tür. Wir tranken etwas, aßen in einer kleinen Trattoria zu Abend. Solche capesante wie dort hatte ich noch nie gegessen.«
»Ich habe überhaupt noch nie welche gegessen. Und weiter?«
Harry lächelte. »Er hatte keine Ahnung, weshalb ich seine Geschichte hören wollte. Er wusste lediglich, dass ich mich für das Haus interessierte und mehr darüber erfahren wollte, denn die Grundstücksmaklerin hatte ja keinen blassen Dunst davon. Das lag daran, klärte Ben Torre mich auf, dass er ihr nicht viel gesagt hatte. Er hatte es nicht für notwendig erachtet. Wenn ich aber etwas über die Geschichte des Hauses wissen wollte, bevor ich die Immobilie mietete, würde er es mir gern erzählen. Ich präsentierte mich natürlich als zukünftiger Mieter oder jedenfalls als nichts anderes. Es gefiel ihm, glaube ich, dass ich die weite Reise nach Italien gemacht hatte, nur um etwas über dieses Haus zu erfahren. Torres Vater war Italiener, seine Mutter Britin. Er war in England aufgewachsen, hatte bis etwa Mitte zwanzig dort gelebt. Fand es dort scheußlich – so trist, nass und kalt, und die Leute nicht besonders warmherzig.
Seine Eltern waren geschieden, sein Vater lebte in Siena. Dieses Winterhaus, also das Haus, das Glynnis Gault besichtigte, gehörte der Familie seiner Mutter.
Das letzte Mal sei er auf seinem Besitz in Surrey gewesen, als er das Objekt damals vor zwei Jahren einer Maklerfirma übergeben hatte. Mir gegenüber sagte Ben Torre: ›Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Das Anwesen gehörte der Familie meiner Mutter. Meine Mutter starb vollkommen unerwartet mit kaum vierzig Jahren in London. Sie war überhaupt nicht krank gewesen. Ich war damals sechzehn. Mein Vater lebte zu jener Zeit schon hier. Sie waren bereits seit Jahren geschieden. Ich wunderte mich, dass sie sich überhaupt zusammengetan hatten – sie waren so verschieden. Manchmal glaube ich, eine Ehe ist nichts anderes als die Aussöhnung von Unterschieden, die manchmal nur gelingt. Kein erhebender Gedanke, oder?
Jedenfalls hatte meine Mutter – sie hieß Nina – dieses Haus in Surrey immer gern gehabt. Sie hatte ihre Kindheit dort verbracht, es geheimnisvoll gefunden. Aber die meisten Kinder finden ja Dinge geheimnisvoll, die Erwachsenen völlig gleichgültig sind. Mehr als einmal hatte meine Mutter Kaufangebote für das Haus bekommen – und wenn Sie es sehen könnten, wüssten Sie, dass es ein recht hübsches Anwesen ist, wenn auch nicht ordentlich instand gehalten. Meine Mutter wollte aber nicht verkaufen, nicht, weil sie dort als Kind gelebt hatte, sondern weil sich dort etwas zugetragen hatte, für das sie sich gewissermaßen verantwortlich fühlte. Nicht, dass sie etwas getan hätte, meine ich, sie wollte einem Fremden diese unselige Geschichte nur nicht zumuten.‹«
Jury ließ die Gabel sinken. »›Unselige Geschichte?‹«
Harry Johnson hob aber bloß abwehrend die Hand.
»Torre fuhr fort: ›Ich selbst war acht Jahre alt, als sie mir davon erzählte. Immer wieder hatte ich sie bekniet, mir doch zu erklären, was sie damit meinte. Eines Abends schließlich, als sie mich zu Bett brachte und mir eine Geschichte vorlesen wollte … Sie hatte eine wunderschöne Stimme. Ich wollte aber keine Geschichte vorgelesen bekommen. Ich wollte, dass sie mir eine erzählte. ‹
›Na gut, Benji, ich werde dir eine Geschichte erzählen.‹ Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite. Und dann erzählte sie mir diese Geschichte und seither weiß Gott wie oft, weil ich immer wieder danach verlangte.
›Ein Fremder stand dort draußen am unteren Ende des Gartens. Erst dachte ich, es sei ein Lieferant oder ein Bekannter deines Vaters. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Ein Vagabund war es nicht, das sah man an seinem Mantel und dem Spazierstock. ‹
›Und an seinem Bowlerhut‹, sagte ich, ›den hast du ausgelassen. ‹ Ich unterbrach sie oft auf diese Weise, um sicherzugehen, dass alle Einzelheiten drin waren, auch Allgemeinplätze wie Wetter und Licht, der Einfallswinkel der Sonne, das bunte Herbstlaub – all diese Details mussten absolut stimmen, also immer gleich sein, bevor ich ihr erlaubte weiterzureden.‹«
Harry Johnson hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken. Wie durch Zauberhand erschien ihr Abendessen. Das Gericht hatte einen atemberaubend komplizierten Namen. Was immer es war, es war gut.
Bei diesem »Fremden« (dachte Jury) handelte es sich bestimmt um den Überbringer schlechter Nachrichten oder gar die schlechte Nachricht selbst. Er würde sterben, war Jury sich sicher. »Er wurde ermordet, stimmt’s?«
Erstaunt riss Harry die Augen auf. »Sie ziehen übereilte Schlüsse. Dafür würde Ben Torre Ihnen den Kopf abreißen.« Harry lachte.
»Erzählen Sie weiter. Der Fremde.« (Der, fügte er bei sich hinzu, später ermordet wird.)
»Ben Torre sagte: ›Meine Mutter korrigierte also die Sache mit dem Hut, dann fuhr sie fort:
›Er blieb ziemlich lange dort unten am Fußweg stehen, und ich weiß nicht, warum ich nicht hinausging und ihn fragte, wer er war und was er wollte. Ich hatte ein bisschen Angst. Ich hatte an meinem Fensterplatz gesessen und versucht, mein Buch zu lesen – doch ich konnte nicht, und als ein Sonnenstrahl über die Seite fiel, blickte ich wieder hoch. Er war verschwunden. Ich war erleichtert. Er war fort, Gott sei Dank. Aber drei Tage später tauchte er wieder auf. Am unteren Ende des Gartens, an der gleichen Stelle. Ich …‹ Dann hielt sie inne, und ich sagte: ›Du sagtest dir, du musst was unternehmen.‹
›Ja. Es war so, wir waren ganz allein dort. Du warst damals erst acht.‹
An dieser Stelle klang Ben Torres Stimme ganz aufgeregt, als spürte er die Unsicherheit und Angst seiner Mutter immer noch. ›Meine Mutter rief also auf der Polizeiwache an.‹
›Aber was soll ich denen denn sagen? Dass ein Mann zwei Mal unten am Gartenweg gestanden hatte? Wieso sollte die Polizei da mühselige Ermittlungen anstellen? Ich rief aber trotzdem an, Benji, und war überrascht, dass sie so höflich waren.‹«
»Englands Stolz und Zierde«, ließ Jury sich vernehmen und erntete einen vernichtenden Blick von Harry Johnson.
»Ben Torre fuhr fort: ›Der rätselhafte Fremde faszinierte mich eher, als dass er mir Angst machte, allerdings war es auch nicht so einfach, mir Angst einzujagen. Das wusste meine Mutter. Trotzdem – den Rest erzählte sie mir nicht.‹« Wieder hielt Harry inne, um einen Schluck Wein zu trinken.
Jury sagte: »Machen Sie wenigstens eine Pause zum...