Grimes Inspektor Jury lichtet den Nebel
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16936-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 6, 240 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-16936-7
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im ländlichen Dorset sind ein zwölfjähriger Metzgerssohn und ein Chorknabe ermordet worden; wenige Tage später wird an der Küste die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden. Besteht ein Zusammenhang zwischen diesen Morden und einem grausamen Verbrechen, das neunzehn Jahre zurückliegt? Superintendent Jury begibt sich ins neblige Dorset, um Licht ins Dunkel zu bringen. Die Zeit drängt, denn schon bald könnte es ein weiteres Opfer geben ...
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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Prolog
Das kleine Mädchen im Flanellnachthemd hielt den Hörer in der Hand und wählte bedachtsam die Nummer, die ihre Mutter immer wählte, wenn sie die Vermittlung erreichen wollte.
Die Katze mit dem seidigen Fell zu ihren Füßen machte einen Buckel, gähnte und begann, sich zu putzen, während das kleine Mädchen mehrere Brr-brrs lang darauf wartete, dass bei der Vermittlung jemand abnahm. Die scheinen spät aufzustehen, dachte das kleine Mädchen. Mami sagte immer, sie sind faul. Die Kleine sah aus dem Fenster, das mit seinen Butzenscheiben fast unter dem Überstand des reetgedeckten Daches verschwand, sah, wie es im Frühlicht perlmuttfarben zu schimmern begann, während über dem Moor dahinter noch der Morgennebel lag. Zwischen Reet und Fenster hing ein Spinnennetz mit Tautropfen. Es hatte noch immer niemand abgenommen. Sie zählte zehn Brr-brrs, legte auf und griff erneut zum Hörer. Die Katze sprang auf den Tisch, setzte sich in Positur und beobachtete die Spinne, wie sie ihr Netz gewissenhaft fertigspann.
Diese dämliche Vermittlung, sagte ihre Mami immer, wenn sie hier am Tisch saß und wie die Katze durchs Fenster und übers leere Moor blickte, das sich rings um ihren Weiler erstreckte. Der Schleier aus grauem Licht hob sich wie ein zarter Vorhang und gab den Blick auf den fernen Horizont frei, auf eine goldene Linie, so fein gesponnen wie das Spinnennetz.
Es klickte, jemand hatte abgenommen. Die Stimme schien von weit her zu kommen, so als riefe jemand draußen im Moor.
Das kleine Mädchen umklammerte den schwarzen Hörer und bemühte sich, klar und deutlich zu sprechen, denn wenn sie einen bei der Vermittlung nicht mochten, legten sie einfach auf. Das behauptete jedenfalls ihre Mutter. Unverschämt, alle miteinander. Was die sich einbilden! Benehmen sich, als seien sie die Queen höchstpersönlich! Ihre Mutter telefonierte viel, und oft knallte sie den Hörer auf.
»Meine Mami ist tot«, sagte sie.
Stille. Hoffentlich würde die Telefonistin nicht auflegen wie die Queen. Nein, das tat sie nicht. Sie bat sie zu wiederholen, was sie gerade gesagt hatte.
»Meine Mami ist tot«, sagte das kleine Mädchen geduldig, und dabei fürchtete es sich so sehr. »Sie ist noch kein Mal gestorben.«
Jetzt hörte sich die Telefonistin viel näher an – nicht mehr wie von weit her aus dem Moor –, sie klang nett, als sie weiterfragte. »Wie heißt du denn, und wo wohnst du?«
»Ich heiße Tess. Wir wohnen im Moor.« Dieses blöde Moor, sagte ihre Mutter immer. Sie wohnte gar nicht gern hier. »Meine Mami ist in der Küche. Sie ist tot.«
»Nachname?«
»Mulvanney.«
Das weiße Fell der Katze schimmerte im Schein der eben aufgegangenen Sonne. Das Spinnennetz war mit glitzernden Diamanten besetzt, und während Tess sich alle Mühe gab, die Fragen der Telefonistin zu beantworten, zerriss es, und die Spinne – klitzeklein und braun – hing an einem Silberfaden herab. Die Katze zuckte mit dem Schwanz. Die Telefonistin fragte nach der genauen Adresse und Telefonnummer.
»Clerihew Marsh«, sagte Tess und gab der Telefonistin die Nummer durch, die auf der Wählscheibe stand. »Sie ist in der Küche und will nicht aufstehen. Ich hab gedacht, sie spielt bloß. Rufen Sie jetzt das Krankenhaus an, und schicken Sie einen Krankenwagen?«
Die Telefonistin war sehr nett, sie sagte, ja, natürlich doch. Und sie meinte, vielleicht wäre ihre Mami ja gar nicht tot, bloß krank, und sie würden einen Arzt schicken. Die Telefonistin bat sie nachdrücklich, sie solle ja nicht auflegen, sie würde jemanden anrufen und sich dann gleich wieder mit ihr unterhalten.
Erneut Stille. Die Katze trug jetzt einen Heiligenschein aus Licht, und die Spinne flickte ihr Netz mit unendlicher Geduld.
Dann meldete sich die Stimme der Telefonistin wieder, und Tess versuchte, sich ihr verständlich zu machen: »Ich hab gedacht, sie spielt bloß mit meinen Fingerfarben. In der Schule haben wir so Farben. Ich hab gedacht, sie hat sich das Rot genommen. Die Küche ist ganz rot. Sie hat sich geschnitten. Sie blutet. Sie hat Blut auf ihrem Kleid und im Haar.«
Die Telefonistin redete beschwichtigend auf Tess ein, sprach mit ihr über Schule und dergleichen. Ja, sagte Tess, sie gehe schon in die Schule. Die anderen Kinder ärgerten sie, aber sie sei kein Baby mehr. Sie sei schon fünf. Sie erzählte der Telefonistin von ihrer Lehrerin, die potthässlich war. Sie unterhielten sich lange, und Tess begriff jetzt, warum die Vermittlung so selten abnahm: Sie hörten nicht zu, sie schwatzten die ganze Zeit.
Die Katze gähnte und sprang vom Tisch, und Tess wusste, sie wollte Frühstück haben und würde in die Küche gehen. »Ich muss jetzt auflegen. Ich möchte nicht, dass Sandy, unsere Katze, in die Küche geht.« Tess hängte auf.
Rose Mulvanney lag mit verrenkten Beinen und in einem blutgetränkten Kleid unter dem Küchentisch. Überall Blutspritzer: auf dem Fußboden, auf den weiß getünchten Wänden, sogar auf den dunklen Balken der niedrigen Decke.
Teresa Mulvanney überlegte, wie das Blut dorthin gekommen sein mochte. Sie stand da und schüttelte unaufhörlich den Kopf, aber dann vergaß sie alles, ihr Verstand verwirrte und trübte sich. Sie schloss die Augen und kratzte sich am Ellbogen. Sie hatte wohl wieder einmal eine schlechte Nacht, wahrscheinlich träumte sie bloß. Vielleicht war es nur Farbe oder Tomatenketchup. Rose, ihre Mutter, hatte ihr erzählt, dass man den immer beim Film nahm. Tess kniff fest die Augen zu und sagte zu ihrer Mutter, ist ja gut, aber jetzt kannst du aufstehen. Es war ein Spiel und sowieso alles nur ein Traum. Sogar das Brr-brr des Telefons und die Sirene in der Ferne, die sich nach dem Martinshorn eines Krankenwagens anhörte: Es fühlte sich an, als handele es sich um die Machenschaften dunkler Gestalten im Nebel. Und Teresa summte ein Lied, das Rose Mulvanney ihr vorgesungen hatte, als sie noch ganz klein war.
Sie vergaß, die Katze zu füttern.
Als Detective Inspector Nicholson und Sergeant Brian Macalvie von der Devon/Cornwall-Polizei das kleine Cottage in Clerihew Marsh betraten, summte Teresa Mulvanney vor sich hin. Und schrieb mit dem Blut ihrer Mutter ihren Namen auf die weiße Wand.
So etwas hatte Brian Macalvie noch nie im Leben gesehen, und er würde es nie vergessen. Damals war er dreiundzwanzig und wurde von allen für den besten Kriminalbeamten der Polizei von Devon und Cornwall gehalten. Selbst Macalvies Feinde dachten so. Er nahm nur ungern Befehle entgegen und wurde ständig befördert. Andauernd redete er von seinen schottisch-irisch-amerikanischen Vorfahren und hätte England lieber heute als morgen den Rücken gekehrt.
Auch als die Akte über den Mordfall Rose Mulvanney längst offiziell geschlossen war, beschäftigte er sich noch damit. Drei Monate nach dem Mulvanney-Mord hatte man einen jungen Medizinstudenten, der in Clerihew Marsh wohnte und an der Universität Exeter studierte, verhaftet, der unschuldig war, wie Macalvie beharrte. Man hatte ihn auf Grund von fadenscheinigen Beweisen festgenommen, ein reiner Indizienprozess. Der Angeklagte war leidenschaftlich in die fünfzehn Jahre ältere Rose Mulvanney verliebt gewesen. Man hatte auf das Motiv Eifersucht geschlossen.
Zur gleichen Zeit klärte Macalvie ganze sechs weitere Fälle auf, sodass der Divisional Commander nicht recht wusste, auf welcher Grundlage er ihm den Fall Mulvanney entziehen sollte. Macalvie ersetzte eine ganze Polizeitruppe. Wenn er ins Laboratorium kam, hielten sich Pathologen und Assistenten an ihren Mikroskopen fest. Macalvie behauptete, die Leutchen vom Erkennungsdienst könnten nicht einmal einen Stiefelabdruck auf einem Krankenhauslaken finden. Und das gesamte Ressort sei nicht dazu in der Lage, einen direkt vor dem Polizeipräsidium in Moorcombe abgestellten Rolls-Royce aufzufinden.
Als ihm der Divisional Commander dann befahl, den Fall Mulvanney endlich zu vergessen, warf Macalvie seine Polizeimarke auf den Schreibtisch und sagte: »Ich kündige!« Er hatte die Tür noch nicht erreicht, da änderte sich der Ton seines Vorgesetzten. Solange die Mulvanney-Sache Macalvie nicht von seinen anderen Pflichten abhielte …
»Sagen Sie das Sam Waterhouse«, sagte Macalvie und ging.
Sam Waterhouse war der Medizinstudent, den man ins Gefängnis von Dartmoor gesteckt hatte. Lebenslänglich, vielleicht würde er mit Bewährung eher rauskommen, da er nicht vorbestraft war und der Mord an Rose Mulvanney als crime passionnel angesehen worden war.
Die Polizei von Devon und Cornwall hatte Macalvies Zorn tüchtig zu spüren bekommen: Sie hatte das Leben des jungen Mannes und möglicherweise eine brillante Karriere zerstört.
Und wenn sich einer mit brillanten Karrieren auskannte, dann Brian Macalvie.
Der Weiler Clerihew Marsh bestand aus ein paar gedrungenen Cottages, die sich beiderseits einer Straßenbiegung eng zusammenduckten, und wirkte wie das Zerrbild eines Dorfes, so als sei man in einem Spiegelkabinett. Als Erstes kam eine Gruppe Häuser, die aussah, als bedeckte ein einziges Reetdach sie alle, die übrigen Häuschen standen einzeln darum herum. Das Cottage der Mulvanneys war das Letzte am Dorfrand. Es stand allein, hatte Fenster nach allen Seiten und war nicht zu übersehen.
Aber anscheinend war niemand vorbeigekommen, als jemand Rose Mulvanney mit dem Messer so übel zugerichtet hatte. Kein Zeuge hatte jemanden hinein- oder hinausgehen sehen. Niemand hatte einen Fremden herumlungern sehen. Niemand hatte etwas gehört. Und...