Grimes Inspektor Jury spielt Katz und Maus
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18838-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 7, 256 Seiten
Reihe: Die Inspektor-Jury-Romane
ISBN: 978-3-641-18838-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erdrosselte und vergiftete Haustiere sind nur der Anfang - bald werden in dem romantischen englischen Jägerdörfchen Ashdown Dean auch drei Menschen ermordet. Stecken womöglich geheime Machenschaften im Rumford-Tierversuchslabor hinter den furchtbaren Verbrechen? Oder könnte die Baronin de la Notre ein falsches Spiel spielen? Ohne Hilfe von oberster Stelle kommt die Polizei nicht weiter, und so nehmen Superintendent Richard Jury, sein Assistent Wiggins und sein adliger Freund Melrose Plant die Fährte des mysteriösen Täters auf. Ein aufregendes Katz-und-Maus-Spiel beginnt ...
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Zeit. Lange Zeit unterrichtete sie kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University. Durch ihre Serien um Inspektor Richard Jury und die 12-jährige Ermittlerin Emma Graham wurde sie weltbekannt. Die 'Mystery Writers of America' kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum 'Grand Master', und ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde nun auch fürs deutsche Fernsehen entdeckt und erfolgreich verfilmt. Martha Grimes lebt heute in Bethesda, Maryland.
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3
»FEIERABEND!«, rief Dick Scroggs.
Schon um zehn rief der Wirt der »Hammerschmiede« zu letzten Bestellungen auf. Seinen gelegentlichen Übernachtungsgästen brachte er ja noch einen gewissen Respekt entgegen, aber wenn er seinen Stammkunden die Sperrstunde ansagte, hielt er sich nicht lange mit Höflichkeiten wie »bitte« oder »meine Damen und Herren« auf.
Angesichts des Mangels an Damen und Herren – alle außer Mrs. Withersby saßen um den Tisch in der Fensternische – war seine Forschheit vielleicht verzeihlich.
Marshall Trueblood warf einen Blick auf die Uhr und rief Dick zu: »Ist es nicht ein bisschen früh, alter Schwede? Es ist gerade erst zehn vorbei. Seit wann machen Sie vor halb elf dicht? Auf jeden Fall noch eine Runde.« Marshall nickte in Richtung von Mrs. Withersby, die am Feuer schlief. Ein Pistolenschuss hätte sie nicht schneller aufgescheucht als ein Schuss Gin.
»Du musst dir natürlich keine Sorgen machen«, sagte Lady Ardry zu ihrem Neffen Melrose Plant.
Der ließ sein Kreuzworträtsel sinken und zog die Brauen in die Höhe. Die Bemerkung war ohne jeden Zusammenhang zu dem vorher Gesagten dahergekommen, wie ein Schwanz ohne Hund. Sie hatte den Telegraph weggelegt und dann den Wirtschaftsteil der Times durchgeblättert. Lady Ardrys Anwesenheit zu dieser eher späten Stunde war für alle der Beweis, dass das Bier, der Tag und höchstwahrscheinlich auch der Herbst zur Neige gingen. Im Allgemeinen musste man zu jeder Tageszeit damit rechnen, dass sie hier oder in Ardry End aufkreuzte – wenn sie auch eisern verkündete, dass für sie der Morgen um sieben begann. Sie war keine Tagediebin wie andere. Immer um zehn im Bett.
»Worüber brauche ich mir keine Sorgen zu machen, liebe Tante?« Mit einer Antwort rechnete er nicht: Es war eh eine Fangfrage gewesen, da war er sicher.
»Über Kapital, Plant, über Kapital. Investitionen. Geld. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, mit deinem Erbe.«
Er sparte sich die Mühe zu antworten. Dass der siebte Earl of Caverness, sein Vater, seiner Schwägerin Agatha nicht zumindest einen Flügel von Ardry End vererbt hatte, machte Melrose Plant in ihren Augen für immer und ewig zu einem Spitzbuben und Schurken. Sie schien sich auch nicht zu entsinnen, dass Melroses Vater in Form eines Cottages in der Plague Alley und einer jährlichen Unterhaltszahlung für sie Vorsorge getroffen hatte. Wahrscheinlich hatte sie ihren Besitz wie ein Eichhörnchen irgendwo verscharrt, den Eindruck hatte man zumindest, wenn man sich ansah, was sie in Ardry End, dem Familiensitz der Caverness-Linie, so zum Abendessen verspeiste.
»Einmal möchte ich doch was Sicheres. Etwas, das mir einen ordentlichen Batzen Gewinn einbringt, sollte ich mich entscheiden, es zu verkaufen. Etwas Marktunabhängiges. Etwas absolut Stabiles.« Sie leerte ihr Sherryglas in einem Zug. »Ich erwäge Edelmetalle. Was würdest du vorschlagen?«
»Den Heiligen Gral«, sagte Melrose.
»Antiquitäten, altes Mädchen«, schlug Marshall Trueblood vor, der als Einziger in Long Piddleton damit handelte. »Ich habe da einen feinen Jadedrachen, Ming-Dynastie, denke ich – ein paar hundert Jährchen hat er jedenfalls auf dem Buckel –, ich würde ihn billig abgeben, an Sie.« Er schenkte ihr ein blitzartiges Lächeln und zündete sich eine rosafarbene Sobranie an. Wie üblich passte die Zigarette zu seinem Outfit. Trueblood trug eine Safarijacke, ein flamingorotes Halstuch und ein hellgrünes Hemd. Auf dem Tisch lag ein Panamahut. Im Oktober. Melrose dachte oft, dass Trueblood die Papageien im Dschungel blass aussehen lassen würde.
»Wie wär’s mit meinem Haus?«, sagte Vivian Rivington zu Agatha.
»Die alte Bruchbude? Sie haben zu lange nichts mehr daran gemacht, Vivian.«
Trueblood schnaubte: »Bruchbude? Es ist das schönste Cottage in Long Pidd, und das wissen Sie ganz genau.« Er wandte sich an Vivian. »Aber wirklich, Viv-viv, dauernd wollen Sie es an den Meistbietenden verkaufen, und dann ziehen Sie es wieder vom Markt zurück.«
Melrose konnte das absurde Geschwätz über das »Investitionspotential« seiner Tante keine Sekunde länger ertragen. Das Einzige, was Agatha je investieren würde, war Zeit – einen Großteil davon verbrachte sie vor dem Kamin ihres Neffen und konsumierte Tee und Kuchen. Er schlug sein Scheckheft auf und drehte die Kappe von einem dünnen goldenen Stift. »Was wollen Sie dafür, Vivian?«
Vivian Rivington sagte mit dünner Stimme:
»Was reden Sie da, Melrose? Sie wollen doch mein Haus nicht.«
»Stimmt. Aber wenigstens hätten Sie es dann verkauft und müssten nicht immer zwischen Northants und Venedig hin- und herflitzen.« Er lächelte verbindlich. »Sechzigtausend? Siebzig …? Wir könnten den ganzen Heckmeck mit den Maklern und so weiter umgehen.« Der Stift schwebte einsatzbereit über dem Scheckheft, jetzt kam die Stunde der Wahrheit.
Sie räusperte sich. »Na ja … so fest steht es ja gar nicht, dass ich verkaufen will … Ich meine, Franco hat schon mal darüber geredet, dass wir’s behalten sollten. Vielleicht als Ferienhaus …«
Stift und Scheckheft wanderten wieder in die Tasche. »Graf Franco Dracula wird feststellen, dass Piddleton bar jeglicher geschlechtsreifen Jungfrauen oder günstig gelegener Grüfte ist, in denen er sie verstauen kann …«
Die sonst so ruhige Vivian brauste auf. »Ich hab Ihnen gesagt, Sie sollen aufhören, ihn so zu nennen.«
»Ja, wirklich, Melrose«, sagte Trueblood. »Seit sie wieder hier ist, sieht Vivian einfach fantastisch aus. Überhaupt nicht blass.«
Ihre haselnussbraunen Augen blitzten auch Trueblood warnend an. »Bei Ihnen beiden wird mir speiübel.« Sie legte sich das schalähnliche Gebilde um (schrecklich de la Renta) und wollte aufstehen.
Trueblood hatte recht. Immer wenn sie aus Italien zurückkam, sah sie ganz anders aus – aber auch darauf hätte Melrose liebend gern verzichtet. Er hegte den Verdacht, dass ihr Verlobter (der sich jetzt schon seit geraumer Zeit in Geduld übte) nicht unwesentlich mit den hellen Strähnchen in ihrem hochgebauschten Haar, den lackierten Nägeln, den Kleidern, die aussahen wie aus einer Modezeitschrift, zu tun hatte. Warum schlackerte da zum Beispiel dieser Knautschledergürtel um ihre Hüften herum? Melrose seufzte. Ein paar Wochen würde es dauern, bis sie wieder, ganz die alte Vivian, mit Twinsets und hübschem, glänzendem, schulterlangem Haar herumlaufen würde.
»Jetzt setzen Sie sich doch um Himmels willen hin«, sagte er ärgerlich.
Sie setzte sich. »Dick macht eh Feierabend.«
»Na ja, er muss sich ja zuerst mal um seinen treuesten Gast kümmern.«
Mrs. Withersby lagerte, alle viere von sich gestreckt, vor dem Kamin, völlig hinüber. Scroggs hatte seinen Ruf zum letzten Gefecht vor fast einer halben Stunde vergessen und hielt den Telefonhörer in der ausgestreckten Hand. »Für Sie, Mylord«, rief er Melrose Plant zu.
Plant runzelte die Stirn. »Für mich? Um diese Zeit …«
Bestimmt Ruthven, dachte er. Wahrscheinlich stand Ardry End in Flammen – wie Manderley.
Die Verbindung war fürchterlich. Es knackte und knisterte in der Leitung, als ob man wirklich die Feuerwehr holen müsste.
Zu seiner großen Überraschung war es ein Ferngespräch.
Zu seiner noch größeren Überraschung war es Polly Praed. Er konnte es nicht fassen, dass sie ihn anrief. »Was reden Sie da, Polly? Sie sind aus einem Telefonhäuschen gefallen?«
Polly hätte ihn am liebsten erdrosselt. »Nein! Ich bin nicht rausgefallen, sie ist … nein, nein, nein!« Als könne Melrose sie über die vielen Kilometer sowohl sehen als auch hören, schüttelte sie ihre dunklen Locken wie wahnsinnig. »Ich war nicht mit ihr in der Telefonzelle, Sie Idiot!«
Melrose lächelte. »Idiot« war ein Kompliment. Melrose schien der einzige erwachsene Mensch zu sein, gegen den diese krankhaft schüchterne Frau aggressiv werden konnte. Bei Kindern und Tieren konnte sie es ganz gut. Er hatte sie in ihrem Dorf Littlebourne beim Zwiegespräch mit einem Baum kennen gelernt. »Hallo, die Verbindung ist ja schrecklich. Hören Sie mich?«
»Zur Genüge.«
Er fragte sich, was das nun wieder bedeutete.
Sie ließ einen gehörigen Abstand zwischen den einzelnen Worten, als spräche sie mit einem geistig Minderbemittelten. »Die Frau fiel einfach auf mich.«
»Wo sind Sie?«
Bis aufs Blut gereizt, kniff sie die Augen zu. Sie hatte es ihm schon zweimal gesagt. Mit zusammengebissenen Zähnen buchstabierte sie: »A-S-H-D-O-W-N D-E-A-N. Liegt direkt am New Forest. Sie lassen mich nicht gehen …«
Als Constable Pasco ihr einen fragenden Blick zuwarf, glitt sie am Tresen herunter, legte sich das Telefon in den Schoß und flüsterte nur noch.
»Hat die Polizei Ihnen gesagt, dass sie ermordet worden ist?«
»Du meine Güte, was denn sonst?«
»Versuchen Sie, sich zu beruhigen, Polly. Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie, dass ich stante pede komme.«
»Wenn Sie wollen.«
Wenn er wollte. Wie gnädig. Der New Forest war über einhundertfünfzig Kilometer entfernt.
»Ich habe gerade überlegt …« Polly saß auf dem...