E-Book, Deutsch, 226 Seiten
Grimmer / Krähenmann / Seifritz Psychodynamische Psychiatrie
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-17-042743-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aktuelle Impulse für die klinische Praxis
E-Book, Deutsch, 226 Seiten
ISBN: 978-3-17-042743-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
PD Dr. phil. Bernhard Grimmer ist Leitender Psychologe des Psychotherapiebereichs an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. PD Dr. med. Rainer Krähenmann ist Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Dienste Thurgau. Prof. Dr. med. Erich Seifritz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Mit Beiträgen von: Bernhard Grimmer, Rainer Krähenmann, Cord Benecke, Erich Seifritz, Heinz Böker, Stephan Doering, Thomas Fuchs, Katharina Fleig, Harald Gündel, Paul Hoff, Fritz Lackinger, Mathias Lohmer, Christiane Montag, Carl Eduard Scheidt, Daniel Sollberger und Carsten Spitzer.
Autoren/Hrsg.
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3 Formen von belastungsbezogenen Störungen
»Ich möchte, dass du mir aufmerksam zuhörst, Harry. Du bist kein böser Mensch. Du bist ein sehr guter Mensch, dem Böses widerfahren ist.«
(Gary Oldman als Sirius Black in »Harry Potter und der Orden des Phönix« [Yates 2007])
Harry Potter hat in seinem jungen Leben bereits einiges durchgemacht. Der Tod seiner Eltern, den er selbst als Kleinkind miterlebt hat, und die z.?T. herabwürdigenden Bedingungen bei seinem Onkel und seiner Tante, bei welchen er bis zur Aufnahme in Howards, der Schule für Zauberei, gelebt hat. Aus diesen Erfahrungen sind in ihm Überzeugungen entstanden, die es ihm erleichtert haben, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind. Diese Überzeugungen können ein Teil einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder anderer Traumafolgen sein. Das Böse, das wir erleben, kann so überwältigend sein, dass die entlastende Erklärung sein kann, dass wir das Böse sind. Nicht selten entwickeln sich auch Symptome, wie z.?B. Emotionsregulationsstörungen (? Kap. 7), die wiederum die Überzeugung, von Grund auf schlecht zu sein, weiter zu bestätigen scheinen.
3.1 Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Die Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung wurden im ICD-11 stark eingegrenzt. Schlafstörungen, Autoaggressionen, Konzentrationsstörungen und Reizbarkeit bzw. Wutausbrüche sind nicht mehr Teil der PTBS-Diagnosekriterien. Hier vor allem, weil diese Symptome zu unspezifisch sind und auch bei anderen psychischen Erkrankungen auftreten. Diese Änderungen können verschiedene Folgen haben. Zum einen erfüllen nun wahrscheinlich mehr Menschen die Diagnosekriterien einer PTBS, weil es schlichtweg weniger Kriterien sind. Zum anderen kommt es nun evtl. vermehrt zu Doppeldiagnosen. Was bisher die PTBS abgedeckt hat, bedarf nun u.?U. verschiedener Diagnoseschlüssel.
Die im ICD-11 nun aufgeführten Symptome einer PTBS umfassen:
-
Dissoziationen/Flashbacks/Depersonalisationen
-
Hyperarousal (Übererregung)
-
Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit)
-
Alpträume
-
Aktives Vermeidungsverhalten
Beispiel
Eine 63-jährige Frau erlebt einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sie selbst mehrere Knochenbrüche erleidet und ihr Ehemann tödlich verletzt wird. Sie muss längere Zeit im Fahrzeug ausharren, während ihr verstorbener Mann neben ihr im Auto liegt. Noch ein halbes Jahr nach den Geschehnissen leidet sie unter schweren Symptomen einer PTBS. Sie hat nach einer intensiven Physiotherapie weiterhin phasenweise starke, körperliche Schmerzen in den beim Unfall verletzten Körperregionen. In anderen Momenten spürt sie die gleichen Körperregionen gar nicht. Immer wieder nimmt sie den Geruch von Benzin wahr, obwohl dieser real nicht vorhanden ist. Sie schläft schlecht, da sie nur sehr schwer zur Ruhe kommt und wenn sie einschläft, leidet sie unter intensiven Träumen vom Unfall. Sie vermeidet es, mit dem Auto (mit) zu fahren und versucht alle Wege zu Fuß zu bewältigen. Dies führt zu einer starken Einschränkung ihres sozialen Lebens, da sie viele Bekannte und Familienmitglieder nun nicht mehr erreichen kann. In Phasen mit starken körperlichen Schmerzen sind ihr auch die Fußwege nicht möglich und sie bleibt gänzlich isoliert zu Hause. ?
3.2 Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS)
Lange hat es gedauert, aber jetzt gibt es die Möglichkeit, auch offiziell eine KPTBS zu diagnostizieren. Bisher ergaben sich Probleme (z.?T. sogar ganz andere Diagnosen, wie z.?B. Persönlichkeitsstörungen oder Störung des Sozialverhaltens), wenn Betroffene über die oben genannten Symptome einer PTBS hinaus noch andere Schwierigkeiten aufwiesen, wie z.?B. in den Bereichen:
-
Emotionsregulationsprobleme
-
Selbstkonzeptveränderungen
-
Probleme in der Beziehungsfähigkeit
Von diesen drei Symptomen muss mindestens eins pro Bereich, zusätzlich zu den Symptomen der PTBS, vorhanden sein. »Die KPTBS ist eine Erkrankung, die sich entwickeln kann, nachdem man einem Ereignis oder einer Reihe von extrem bedrohlichen oder schrecklichen Ereignissen ausgesetzt war, meist lang anhaltend oder sich wiederholend, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann (z.?B. Folter, Sklaverei, Völkermordkampagnen, lang anhaltende häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Missbrauch in der Kindheit)«. (Eberle & Maercker 2023) ?
Menschen, die das Symptombild der KPTBS aufweisen, sind in ihren Grundfesten erschüttert und bekamen in der Vergangenheit oft die Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Nicht zuletzt auch wegen der bei beiden Krankheitsbildern vorliegenden Emotionsregulationsprobleme, auf die in diesem Ratgeber an anderer Stelle genauer eingegangen wird. (? Kap. 7) Allerdings unterscheiden sich diese beiden Diagnosen in kleinen, aber durchaus entscheidenden Details. So hat eine Person mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (welche ebenfalls häufig in Folge von komplexer Traumatisierung entsteht) oft ein eher wechselndes Selbstbild. In einem Moment sind diese Personen davon überzeugt, nichts wert zu sein und im nächsten können sie auch wieder sehr von sich überzeugt sein. Diese Wechsel verunsichern Betroffene stark und bringen einen großen Leidensdruck mit sich. Betroffene einer KPTBS haben eher ein konstanteres Selbstkonzept, welches allerdings meist ausschließlich negative Einschätzungen über sich selbst erlaubt. Diese beinhalten vor allem auch die Überzeugung, ein beschädigtes Leben zu führen, welches nicht mehr repariert werden kann. Schuld- und Schamgefühle sind ebenso oft stark ausgeprägt. Viele sind der Überzeugung, »von Grund auf schlecht« zu sein. Sie befürchten oft, dass andere Menschen ihr »wahres Ich« irgendwann erkennen und merken, wie abstoßend sie in Wirklichkeit sind. Dieses Selbstbild hat zu einem früheren Zeitpunkt einmal geholfen, das Erlebte zu überstehen und ist in der Gegenwart häufig ein großes Problem. Häufig steht diese Überzeugung dem Annehmen von therapeutischer Hilfe im Weg. Immer wieder erlebe ich, dass mir Betroffene sagen, sie würden ihren Therapieplatz nicht verdienen oder jemand anderes sollte an ihrer Stelle den Platz bekommen. Alle diese Symptome können den Selbstkonzeptveränderungen zugeordnet werden.
Außerdem ist bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Angst vor einem realen oder imaginativen Verlassenwerden häufig sehr präsent und ein handlungsweisendes Motiv, während Betroffene einer KPTBS diese Angst nicht in dieser Ausprägung oder gar nicht haben. Oft fühlen sie sich allein sogar sicherer, da sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie anderen Menschen nicht trauen können. Sie haben oft das Gefühl, sich anderen Menschen nicht nahe fühlen zu können oder schaffen es nicht, Beziehungen aufrechtzuerhalten, weil sie sich immer wieder aus ihnen zurückziehen. Borderline-Betroffene ziehen sich selten zurück. Sie suchen unablässig den Kontakt oder gehen aus einem Gefühl des Zurückgewiesenwerdens zum Angriff über, was häufig andere Menschen dazu veranlasst, die Beziehung zu beenden. Diese Probleme können den »Problemen in der Beziehungsfähigkeit« zugeordnet werden.
Ob sich aus den oben beschriebenen Bedingungen eine BPS oder eine KPTBS entwickelt (beides ist denkbar, möglich und in der Praxis zu beobachten), hängt von vielen individuellen und objektiven Schutz- und Risikovariablen ab.
Beispiel
Eine 16-jährige Patientin kommt wegen Dissoziationen und Alpträumen in die Behandlung. Sie berichtet von Nachhallerinnerungen, die mehrmals täglich auftreten und welche sie als sehr belastend empfindet. Während des Gesprächs wirkt sie unruhig, schaut mehrfach zur Tür und ist schreckhaft. Sie knetet nervös ihre Hände und sitzt weit vorn auf ihrem Stuhl. Im Verlauf berichtet sie davon, bereits seit sechs Monaten die Schule nicht mehr besucht zu haben, aus Angst mit dem Bus zu fahren. Dort fühle sie sich eingesperrt und würde häufig Panikattacken erleben. In der Schule habe sie nur wenige Freundschaften, da sie oft in Konflikte gerate. Besonders, wenn es um ihr selbstverletzendes Verhalten geht, reagieren Mitschüler verständnislos und würden sich abwenden. Seit einem Suizidversuch vor sechs Monaten würde niemand mehr mit ihr sprechen und sie fühle sich so unwohl in der Klasse, dass sie den Schulbesuch aus diesem Grund vermeide. Die Patientin selbst erlebt sich meist als »gereizt« und glaube, sie sei es nicht wert, dass jemand mit ihr Freundschaften schließe. Sie würde ja sowieso jeden von sich...