E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Grémillon Das geheime Prinzip der Liebe
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-455-81035-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-455-81035-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ich hatte diesen Brief nur überflogen. Dann blätterte ich ungläubig zurück und musste ganze Sätze noch einmal lesen. Seit Mamans Tod konnte ich mich nicht mehr auf das konzentrieren, was ich las. Für ein Manuskript, das ich sonst in einer Nacht beendet hatte, brauchte ich jetzt mehrere Tage. Bei dem Brief musste es sich um einen Irrtum handeln, ich kannte keinen Louis und keine Annie. Ich drehte den Umschlag um, doch dort standen tatsächlich mein Name und meine Adresse. Sicherlich eine rein zufällige Namensgleichheit. Dieser Louis würde merken, dass er sich geirrt hatte. Ich machte mir keine weiteren Gedanken und öffnete die anderen Briefe, die richtige Kondolenzschreiben waren.
Als gute Concierge hatte Madame Merleau den Stapel von Briefen natürlich richtig gedeutet und mir einen Zettel geschrieben: Wenn ich sie bräuchte, sollte ich nicht zögern, sie sei für mich da. Madame Merleau würde mir mehr fehlen als meine Wohnung. Die nächste Wohnung würde größer sein, aber die Concierge bestimmt nicht netter. Ich wollte nicht mehr umziehen. Wollte mich nicht mehr rühren, im Bett liegen bleiben, in diesem einen Zimmer, das mir vor kaum einer Woche unerträglich gewesen war. Ich wusste nicht, wie ich die Kraft aufbringen würde, mein Leben bis dorthin zu schleppen. Aber ich hatte keine Wahl mehr, jetzt brauchte ich ein zweites Zimmer, und sowieso waren der Vertrag unterschrieben und die Anzahlung geleistet. In drei Monaten würde jemand anderes hier an meiner Stelle sein und ich dort, anstelle von jemand anderem, der wiederum an der Stelle von … und so weiter. Am Telefon hatte mir der Mann vom Umzugsunternehmen erklärt, es sei erwiesen, dass man irgendwann unweigerlich wieder auf sich selbst stieß, wenn man allen Gliedern dieser Kette folgte. Es war mir völlig gleichgültig, wenn ich irgendwann wieder auf mich stieß. Alles, was ich wollte, war, wieder auf meine Mutter zu stoßen. Maman wäre so glücklich gewesen zu erfahren, dass ich umzog. Sie mochte diese Wohnung nicht und hatte mich hier nur ein einziges Mal besucht. Ich habe nie verstanden, weshalb, aber so war sie eben, manchmal etwas zu absolut.
Trotzdem musste ich Madame Merleau über meinen Auszug informieren und ihr für das Briefchen danken. »Ich bitte Sie, das ist doch das Mindeste.« Nichts geschieht, ohne dass eine Concierge es bereits wüsste. Sie war voller Anteilnahme und bat mich herein, falls ich reden wolle. Ich wollte überhaupt nicht, aber ich ging trotzdem für ein paar Minuten zu ihr hinein. Sonst unterhielten wir uns immer nur am Fenster, nie in ihrer Loge. Wenn ich nicht ohnehin gewusst hätte, wie ernst meine Lage war, hätte mir diese schlichte Einladung gereicht, um es zu begreifen. Nachdem sie den Vorhang hinter uns zugezogen hatte, schaltete sie den Fernseher aus und entschuldigte sich: »Sobald ich das verdammte Fenster aufmache, starren die Leute in meine Wohnung. Es ist stärker als sie. Ich glaube nicht, dass sie wirklich neugierig sind. Trotzdem ist es mir unangenehm. Aber sobald der Fernseher läuft, schenken sie mir kaum einen Blick ... Zum Glück genügt das Bild als Ablenkung. Ich würde es nicht ertragen, den Fernseher auch noch den ganzen Tag lang zu hören.« Ich schämte mich, und sie merkte es. »Pardon, das habe ich nicht wegen Ihnen gesagt. Bei Ihnen stört es mich nicht, wenn Sie einen Blick in meine Wohnung werfen.« Ich war erleichtert. Ich stach also aus der aufdringlichen Allgemeinheit heraus. »Bei Ihnen ist es anders. Sie sind ja kurzsichtig.« Ich war verblüfft. »Woher wissen Sie das?« »Weil der Blick von Kurzsichtigen anders ist. Die Kurzsichtigen sehen einen immer besonders eindringlich an. Weil ihre Augen von nichts anderem abgelenkt werden.« Ich war sprachlos und fühlte mich plötzlich wie eine Behinderte, auf die alle mit dem Finger zeigen. Sah man das wirklich so deutlich? Madame Merleau lachte. »Nicht doch, ich nehme Sie auf den Arm. Sie haben es mir erzählt. Wissen Sie nicht mehr? An dem Tag, an dem ich Ihnen das mit meinen Fingern erzählt habe, haben Sie gesagt, das sei so ähnlich wie mit Ihren Augen. ›Leben heißt, von den Launen seines Körpers abhängig zu sein.‹ Das haben Sie gesagt. Ihre Erklärung hat mich ein wenig erschreckt, und ich merke mir immer alles, was ich erschreckend finde. Man muss sich stets erinnern, was man wem gesagt hat, sonst fällt es eines Tages auf einen zurück ... « Sie beugte sich lächelnd zu mir, um mir Kaffee einzugießen. Aber in diesem Moment wurde ihre Hand von starkem Zittern erfasst, und die heiße Flüssigkeit ergoss sich über meinen Arm. Ich blies auf die verbrannte Stelle, um die Haut zu beruhigen, aber mehr noch, um Madame Merleau nicht anzusehen, so verlegen war ich, Zeugin ihrer Schwäche zu sein.
Bevor sie Concierge wurde, war Madame Merleau Mieterin im Haus gewesen. Sie war ganz kurz nach mir eingezogen, zwei oder drei Monate. Ihr Klavier hallte durch alle Etagen, aber niemand beklagte sich, denn ihre Schüler waren gut, und so wurden die Stunden für die Mitbewohner nie zur Qual. Im Gegenteil, dieses ständige Konzert war angenehm. Dann aber hörten wir das Klavier immer seltener. Ich dachte erst, dass ihre Schüler vielleicht heirateten und Verheiratete keinen Unterricht mehr nehmen. Schließlich verstummte das Klavier jedoch ganz und gar, und eines Tages öffnete Madame Merleau das Fenster der Hausmeisterloge. Sie hatte akuten Gelenkrheumatismus. Die Ärzte hatten gesagt, sie sei noch sehr jung dafür, aber es komme besonders bei Berufsmusikern auch in ihrem Alter vor. Weil die Gelenke ständig beansprucht würden, ermüdeten sie schneller. Irgendwann werde sie die Kontrolle und die Beweglichkeit ihrer Finger verlieren, aber sie müsse sich keine Sorgen machen: Für den Alltag werde sie die Hände immer noch gebrauchen können, zum Essen, Waschen, Kämmen, den Haushalt machen. Nur für ihren Beruf reiche es nicht mehr. In wenigen Wochen verlor Madame Merleau die kostbare Fingerfertigkeit, für deren Erwerb ihre Hände so viele Jahre gebraucht hatten. Die Krankheit erschütterte sie zutiefst. Wovon sollte sie leben? Der Unterricht war ihre einzige Einnahmequelle, sie hatte keine Ersparnisse und niemanden, der sie unterstützen würde, und sei es nur, bis sie sich neu orientiert hätte. Weder Eltern noch Kinder. Als sie erfuhr, dass die Concierge wegziehen würde, hatte man ihr zuvor wochenlang bei jeder Bewerbung erzählt, dass sie weder das richtige Alter noch die nötigen Kenntnisse für die ausgeschriebene Stelle habe. Also fragte sie den Eigentümer des Hauses, ob sie die Stelle der Concierge übernehmen könne, und er war einverstanden. Sie trennte sich von ihrem Klavier, weil sie fand, eine schlecht gelebte Leidenschaft sei eine Last, die man aufgeben müsse, damit eine neue Leidenschaft entstehen könne. Warum nicht Astrologie? Das würde gut zu ihrem neuen Beruf als Concierge passen, die immer eine gut informierte Klatschbase zu sein hatte. Und es würde ihr helfen, ihre Anfälle von Ungeschicklichkeit vorauszusagen.
Wenn sie gewusst hätte, dass sie Kaffee über mich gießen würde, hätte sie mir nicht eingeschenkt. Sie lächelte mich entschuldigend an. »Mit diesem Pullover kann ich Sie nicht zur Arbeit lassen. Gehen Sie bitte hoch und ziehen Sie sich um. Ich bringe ihn zur Reinigung, heute Abend ist er sauber. Es tut mir wirklich leid.« »Machen Sie sich keine Gedanken, es geht schon so.« »Ich bestehe darauf.« Ich bestand nicht darauf und ging wieder hoch. Sie konnte nicht wissen, dass ich keinen sauberen Pullover mehr im Schrank hatte, dass ich überhaupt nichts mehr im Schrank hatte, dass meine Sachen auf dem Boden lagen und ich gleichgültig darüber hinweglief. »Wie Vater«, sagte ich mir, sobald ich ein Stück Stoff unter meinen Füßen spürte, und in Gedanken flehte ich Maman an: »Heb sie auf, bitte heb sie auf! Du hebst doch auch Vaters Sachen auf. Heb bitte meine Sachen auf!« Aber Maman hob sie nicht auf. Ich griff nach meiner Jacke, die nach Zigaretten roch. Ich musste jetzt wirklich aufhören zu rauchen. Madame Merleau winkte mir hinter ihrem Fenster zu. Als ich die Gardine flattern sah, kam mir kurz der Gedanke, dass der letzte Überlebende einer Familie niemals Gegenstand von Kondolenzbriefen ist. Bei der ganzen Aufregung hatte ich vollkommen vergessen, ihr zu sagen, dass ich auszog, aber wenigstens hatten wir nicht über Maman gesprochen. Madame Merleau schien sich auf dem Feld der Klagen ebenso wenig wohlzufühlen wie ich. Umso besser.
Als ich abends nach Hause kam, wunderte ich mich, keine Post im Briefkasten zu haben. Offenbar war schon Schluss mit den Kondolenzschreiben. Magere Beute, Maman. Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf, und ein intensiver Geruch von Sauberkeit schlug mir entgegen. Alles war aufgeräumt, der Abwasch, zu dem ich mich seit mehreren Tagen nicht mehr aufgerafft hatte, war erledigt, meine Wäsche gewaschen und gebügelt, das Bett frisch bezogen. Durch die Zimmertür sah ich ein Licht flackern. Vielleicht Mamans weißer Geist, der mich anlächeln würde, sobald ich das Zimmer betrat. Es war der Fernseher, der ohne Ton...