E-Book, Deutsch, 136 Seiten
Reihe: Essay [KUP]
Groebner Abgefahren
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8353-9784-2
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reisen zum Vergnügen
E-Book, Deutsch, 136 Seiten
Reihe: Essay [KUP]
ISBN: 978-3-8353-9784-2
Verlag: Konstanz University Press
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Valentin Groebner ist Professor fu?r Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Universität Luzern. Er hat zahlreiche Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte vorgelegt. Bei KUP erschienen Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen (2023), Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat (2020), Wissenschaftssprache digital (2014) und Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung (2012).
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Die Überschriften sind immer die gleichen: »Der Luxus der Leere«, »Vergessene Orte«, »Die 10 Länder mit den wenigsten Reisenden«.[1] Am hintersten Ende eines abgelegenen Bergtals, in Wüsten, zwischen Dschungelbergen und auf einsamen Atollen in der Südsee, da gibt es sie noch, die unberührten Landschaften, die Oasen jenseits des Tourismus, die perfekten Destinationen also für Touristen. Kaum etwas wird so intensiv zur Werbung für Besucher eingesetzt wie die angebliche Abwesenheit anderer Besucher.
Welcome, könnte man mit einem berühmten Titel der Popband Frankie Goes To Hollywood von 1984 sagen, to the Pleasuredome. Um diese Reisen wird es hier gehen, Reisen zum und ins Vergnügen. Also nicht um die Kilometer, die man auf dem Weg zur Arbeit und wieder zurück bewältigen muss, fünfmal in der Woche. Und nicht um die Geschäftsreisenden im engen Anzug und mit smartem Rollkoffer, die frühmorgens die Züge zum Flughafen füllen, mit etwas angespanntem Gesichtsausdruck; und auch nicht um ihre schlechter bezahlten Brüder und Schwestern aus den weniger wohlhabenden drei Vierteln des Planeten, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben und einen Job auf den Weg gemacht haben und zerknittert und unausgeschlafen im Wartesaal stehen, in der Schlange vor der Passkontrolle, vor dem Migrationsamt.
Die Reisen, von denen die folgenden Kapitel handeln, sind alle freiwillig. Diejenigen, die sie unternehmen, haben sie sich verdient. Sie haben sie herbeigesehnt, denn sie sind die Auszeit, das Abenteuer, das Entkommen aus Zwängen und Pflichten. Wenn diese Reisen die Reisenden so sehr beglücken, befreien und erlösen, wie die Reiseliteratur, die Anbieter der entsprechenden kommerziellen Dienstleistungen und die Reisenden sich selbst unablässig versichern, wieso ist dann die Abwesenheit anderer Reisender ein so unwiderstehlicher Magnet? Und warum kann man mit diesem Reisen nicht aufhören, im Zeitalter von Klimakatastrophe und touristischer Überfüllung?
Denn es ist ganz schön voll im Pleasuredome. Meistens sogar sehr voll, und das Vergnügen auf Reisen ist deswegen vermischt mit einer gewissen Unruhe, jedenfalls bei mir. Und der Angst, etwas zu verpassen. Dabei ist das Reisen zum Vergnügen doch die große persönliche Belohnung. Sicher?
Transformation
Rom, Spätherbst 2022. An einem kalten Novembermorgen stauten sich die Besucher rund um die Fontana di Trevi. Die Fußgängerzonen im Zentrum waren voll, voll war es auch auf der Piazza Navona, lange Schlangen am Pantheon und vor den Vatikanischen Museen. »Overbooking« hieß die Tagung, die der Nachhaltigkeit des Städtetourismus gewidmet war. Ich war dort, weil ich zwei Jahre zuvor ein kleines Buch über die Erschöpfung am Reisen herausgebracht hatte. Das war mitten in der Pandemie gewesen, in den Monaten der Ausgangssperren und geschlossenen Grenzen. Das Ende des Tourismus in der uns vertrauten Form, hatte ich damals geschrieben, sei eine Chance. Letzter Satz: »Gibt es wirklich nichts Besseres als den Urlaub?«[2]
Zweieinhalb Jahre später war die Antwort klar. Nach dem Wegfallen der Beschränkungen kamen mehr Touristen als je zuvor, nach Italien ebenso wie an alle anderen Destinationen, und die auf der Tagung versammelten Spezialistinnen trugen dazu eindrucksvolle Zahlen vor. Rom etwa werde wieder jährlich von sieben- bis achtmal mehr Personen besucht, als dort wohnten. Der Stadt fehlten mindestens 60 000 Sozialwohnungen. Dafür würden allein im historischen Zentrum auf Airbnb mehr als 18 000 Apartments für Touristen angeboten. Zwei Drittel der Angestellten in italienischen Hotels und Restaurants arbeiteten für Gehälter unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Noch groteskere Proportionen habe die Entwicklung in Venedig angenommen, wusste der nächste Vortragende zu berichten. Ein dort eingerichteter »Smart Control Room« zur Erfassung und Steuerung der Touristen, 2021 mit großem Pressewirbel eröffnet, liefere bislang keine offiziellen Zahlen; die neuen Besucherrekorde von Ostern 2022 beruhten auf Schätzungen. Von den häufig zitierten 25 bis 30 Millionen Besuchern, die jährlich das historische Zentrum mit seinen 50 000 Einwohnern fluten, hielten die auf der Tagung versammelten Spezialistinnen wenig. »These are plastic numbers.«
Dann kam die offizielle Vertreterin von Schweiz Tourismus. Sie hatte eine farbenfrohe Powerpoint-Präsentation mit eingebetteten Videos mitgebracht, und die spulte sie ab, mit alpinen Idyllen, pittoresken Altstädten, leeren Skipisten vor blauem Himmel und den denkmalgeschützten Viadukten der Rhätischen Bahn. »Swisstainable« sei das neue Zauberwort, sagte sie ein ums andere Mal, und Nachhaltigkeit die neue schweizerische Tugend, die ehrwürdige Traditionen aufs Beste mit den Herausforderungen der Zukunft verbände. Zahlen trug sie keine vor. Irgendwann fingen die Zuhörer in den hinteren Reihen zu lachen an, aber davon ließ sie sich nicht beirren.
Luzern im Juni 2023, eine Pressekonferenz. Von touristischer Übernutzung wollte der Chef von Schweiz Tourismus nichts hören. Die Branche habe sich vielmehr exzellent erholt, erklärte er gleich in mehreren Interviews. »Overtourism gibt es in der Schweiz nicht.« Es bräuchte aber dringend mehr Gäste aus Übersee, weil die mehr Geld ausgäben; mit 18 Prozent Übernachtungen schufen sie 30 Prozent vom Umsatz. »Die phänomenale Infrastruktur« der Schweiz, sagte er außerdem, all die Skigebiete, die Schifffahrt, die Restaurants, die Infrastrukturen, die die Einheimischen nutzten, seien zu einem Großteil dem Tourismus zu verdanken. Die Schweizerinnen und Schweizer, das war seine Botschaft, sollten also gefälligst demütig und dankbar sein. Zum Ergebnis einer Luzerner Volksabstimmung zur strikten Begrenzung der Vermietung von Privatwohnungen via Airbnb zwei Monate zuvor – fast zwei Drittel hatten für die Beschränkung gestimmt – äußerte er sich nicht.
September 2023, eine bayrische Universitätsstadt. »Zur Veränderung des Reisens« hieß die Tagung zur Zukunft des Tourismus, die dort am Zentrum für Entrepreneurship stattfand. Man versammle Expertinnen und Experten zur Zukunft des Fremdenverkehrs, hatte es in der Einladung geheißen, Forscherinnen, Praktiker und Verantwortliche aus der Branche, und überschrieben war das mit Rufzeichen: »Transformation ist eine Haltung!« Wie würde sie aussehen?
Der Spezialist von der World Tourism Organisation hatte die aktuellsten Vorhersagen mitgebracht. Vor der Pandemie, so hatten die Statistiker ausgerechnet, waren weltweit 20 Milliarden Reisen unternommen worden. 2030, so ihre neue offizielle Prognose, würden es 37 Milliarden sein. 2010 hatten 14 % der Weltbevölkerung eine Ferienreise gemacht. 2030 würden es 22 % sein, schätzte die Organisation. Und weil in Europa die Bevölkerung überaltert ist und schrumpft, sie aber anderswo zunimmt, würden von Europa aus im Jahr 2030 selbst deutlich weniger Reisen unternommen werden als umgekehrt; Europa werde zum Ziel von immer mehr Besuchern von außerhalb. Also mehr Tourismus – und zwar viel mehr, in immer schnelleren Steigerungsraten. Er selbst, sagte der freundliche Spezialist am Mikrophon, leite die Abteilung für nachhaltige Entwicklung. Im Jahr 2030 würde ein Viertel aller menschengemachten CO2-Emissionen überhaupt durch den Tourismus erzeugt werden. Im Januar 2024 würde auch das größte je gebaute Kreuzfahrtschiff seinen Betrieb aufnehmen, die »Icon of the Seas«, 365 Meter lang, Kosten: 1,1 Milliarden Dollar. Noch größer – zehn Meter länger und zwei Meter breiter – sind sonst nur die beiden Öltanker »TI Europe« und »TI Oceania«, sagte mir eine Recherche im Netz. Die eindrucksvollen Zahlenkaskaden seines Vortrags hatte der Mann für nachhaltige Entwicklung mit schönen Luftbildern von menschenleeren Wasserlandschaften und Urwald unterlegt.
Wenn sich 2030 fast doppelt so viele Leute in die Ferien aufmachen wie noch 2015, fragte ein Tagungsteilnehmer besorgt, brauche es dann eigentlich noch Tourismusförderung? Allein in der BRD, konnte man auf der Tagung lernen, gibt es mehr als 80 Verbände, die sich mit nichts anderem beschäftigen als mit der Förderung des Tourismus. Man traut sich kaum, sich die entsprechenden Zahlen für Österreich und die Schweiz vorzustellen. Alle diese Institutionen verbreiten die Botschaft, dass es zur Fremdenverkehrsförderung keine Alternative gäbe. Denn dafür sind sie da.
So formulierte es auch die Vertreterin des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft auf der Konferenz. Tourismus sei das beste Mittel, die Abwanderung aus den Berggebieten zu reduzieren. Eine andere Botschaft hatte der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende eines großen deutschen Reiseveranstalters mitgebracht, ein strenger Mann im engen Anzug. »Wenn wir aufhören, nach Ägypten zu reisen«, sagt er mit drohendem Unterton, »werden sich von dort noch mehr verzweifelte junge Menschen auf den Weg nach Westeuropa machen.« Fremdenverkehr in dem uns vertrauten Sinn, konnte man auf der Tagung lernen, ist also eine Art selbstorganisierte Festung gegen Veränderung. Und eine Pflicht, die erfüllt werden muss, damit die vertrauten Bilder – oder die künstlichen Welten? – weiterhin aufrecht erhalten bleiben.
Meldung in der Lokalzeitung am nächsten Morgen: In Mittelbayern würden jetzt versuchsweise Erdnüsse angebaut. Die seien besser angepasst an die heißen Sommer.
Ich bin zu spät
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