Groebner Ich-Plakate
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-403467-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-10-403467-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg sowie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist der Autor zahlreicher Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. 2024 erhielt er den Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung. Seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
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Gotische Charakterköpfe
Das Mandylion mochte verschwunden sein: Kopien dieses wahren Bildes vom Gesicht Christi traten als und im christlichen Westen ihren Siegeszug an. Im 12. Jahrhundert hatten sich nicht nur die Bilder vom echten Bild, sondern auch die Erzählungen von den wundertätigen, weil wahren und unmittelbar wirksamen Gesichts-Bildern vervielfältigt. In der christlichen Spätantike und im Frühmittelalter hatten von Menschen gefertigte Bilder stets unter dem Verdacht gestanden, Manipulation zu sein und eben nicht das zu zeigen, was sie vorgaben. Im Hochmittelalter begann sich das zu ändern. Bilder galten nicht mehr von vornherein als Täuschung, sondern konnten das Authentische abbilden. Im Fall des in Rom aufbewahrten Schweißtuchs Christi, das sein Gesicht zeigte, verschob sich in den Beschreibungen von Chronisten im Lauf des 12. und 13. Jahrhunderts der Fokus von der materiellen Reliquie (also dem Stück Stoff, segensreich, weil es den Körper des Erlösers berührt hatte) zu dem, was auf ihr zu sehen war, nämlich dem Gesicht Christi – wenn man sehr genau hinschaute.[21]
Parallel dazu vermehrten sich die Geschichten, in denen Menschen Personen, die ihnen in einer Vision, einer Traumerscheinung oder real begegnet waren, nachträglich als bestimmten Heiligen oder Herrscher identifizieren konnten, und zwar mit Hilfe eines Bildes.[22] Auf eine hintergründigere Pointe läuft die Geschichte hinaus, die ein englischer Autor, Gervasius von Tilbury, ebenfalls am Ende des 12. Jahrhunderts in seine Beschreibung der in den Kirchen Roms aufbewahrten Schätze eingefügt hat. Unter ihnen befände sich auch das wahre Bild Christi, schreibt Gervasius. Wenn ein Kleriker im Stand der Sünde diesem in die Augen blicke, erblinde er auf der Stelle. Dieses wunderbare echte Antlitz, fügte er hinzu, sei allerdings heute vollkommen mit Gold bedeckt.[23] Das war auch eine Technik, die schwer kalkulierbaren Wirkungen eines echten Bildes zu kontrollieren, das ununterbrochen Wahrheit erzeugte; und die Passage sagt einiges über die ironischen Untertöne beim Reden über wahre Gesichter, die auch hochmittelalterlichen Berichterstattern zur Verfügung gestanden haben.
Im 12. und 13. Jahrhundert erschienen aber auch die Gesichter der Sterblichen in neuer Intensität. In den Steinskulpturen und Porträtreliefs, die in St.-Denis, Reims und Paris für längst verstorbene französische Könige angefertigt wurden, bekamen Herrscher, von denen zuvor keine oder keine befriedigenden figürlichen Darstellungen existiert hatten, nachträglich ein Gesicht, wie 1163 der fünf Jahrhunderte zuvor verstorbene König Childebert. (Stirnrunzeln inklusive; die waren vermutlich von Darstellungen biblischer Propheten übernommen worden.)[24] Ludwig der Heilige ließ in der Mitte des 13. Jahrhunderts in Reims allen seinen Vorgängern Gesichter verleihen, bartlos und mit neuester modischer Frisur – ein König sollte schließlich auch wie einer aussehen. Ungefähr zur selben Zeit wurden die Porträts der Stifter des Naumburger Doms in Auftrag gegeben, unter ihnen Markgräfin Uta von Meissen. Sie zeigen Personen, die zweihundert Jahre früher gelebt hatten. Die Dargestellten haben die Künstler, die ihre Gesichtszüge modelliert haben, nie gesehen.
»Ich« gesagt haben schon einige dieser steinernen Gesichter. Über dem Stadttor von Capua, 1234 bis 1239 von Friedrich II. errichtet, war eine große Büste angebracht, mit dem Schriftzug: »Ich werde durch kaiserliche Gewalt zur Wächterin des Königreichs.« Direkt über diesem Gesicht, der Personifikation der Gerechtigkeit, thronte als monumentale Sitzfigur mit drohend ausgestrecktem Arm der Kaiser selbst. Sein Bild spricht ebenfalls in der ersten Person: »Ich werde die ins Elend stürzen, die ich als wankelmütig erkenne.« In einem dreißig Jahre später entstandenen Bericht hat ein Betrachter von den starken Gefühlen geschrieben, die beide Gesichter zusammen erzeugten. Der Mund der Kaiserskulptur donnere seine Drohung auf die Passanten des Tors herunter, um ihnen Furcht einzuflößen. Aber auch diese Schilderung könnte ironische Untertöne haben. Die kaiserliche Macht, von denen die sprechenden Gesichter in Stein kündeten, gab es zu diesem Zeitpunkt nämlich nicht mehr. Und der Berichterstatter, der über die Gefühle der Betrachter schrieb, war Hofkaplan jenes französischen Fürsten, Karl von Anjou, der diese staufische Herrschaft in Süditalien beendet hatte.[25]
Es gab im Hochmittelalter aber auch andere Weisen, ein Gesicht anzuschauen. In der »Compilatio singularis exemplorum«, einer Sammlung von kurzen Predigtexempeln, die ein anonymer Dominikanermönch zwischen 1290 und 1297 in Frankreich zusammengestellt hat, findet sich die Geschichte von einem Gaukler, der nackt aufgetreten sei – , , also unbekleidet bis auf seine Unterhosen. Ob er nicht friere?, fragt ihn ein Zuschauer. Der Gaukler verneint. »Auch nicht im Gesicht?« Aber sicher nicht, antwortet der Gaukler: .[26]
»Ich bin als ganzes Gesicht« – und deswegen nackt. Das Exempel diente dem Dominikanerprediger dazu, sein Publikum zum Lachen und gleichzeitig zum Nachdenken zu bringen, eine viel gebrauchte rhetorische Technik der Bettelorden. Denn um ironische Verfremdung geht es dabei; im Gesicht friert man eben normalerweise nicht. Aber dieses Gesicht, so die Lektion der Geschichte, ist nicht einfach Kürzel für den gesamten Menschen, sondern ein Teil des menschlichen Körpers, für den besondere Regeln gelten. Das Gesicht ist im Normalfall eben nicht stillgestellt, sondern pathognomische Kommunikationsschnittstelle, erinnert das Exempel. Es kann deswegen so schnell Signale übermitteln, weil es wie kein anderer menschlicher Körperteil seine sichtbare Form verändert: Runzeln der Stirn, Hochziehen der Augenbrauen, Aufreißen oder Zusammenkneifen von Augen und Mund, Blecken der Zähne; manche Menschen können sogar mit den Ohren wackeln. Ein komplett stillgestelltes Gesicht gehört entweder einem Toten. Oder es ist kein lebendiger Körper, sondern ein Bild.
Die Geschichte legt dem Gaukler – keine sehr positive Figur der mittelalterlichen Didaktik – aber noch mehr in den Mund. Das Gesicht, sagt er stolz, ist nicht nur besonders beweglich, sondern obendrein stets nackt. In der hochmittelalterlichen Bildproduktion und Plastik hatten unanständige, verzerrte und grimassierende Gesichter ihren festen Platz, in den Marginalien von illustrierten Handschriften ebenso wie in Darstellungen von Allegorien der Laster und anthropomorphen Dämonen und Teufeln, samt deren Hinterteilen und Genitalien.
An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert waren auch die ersten bildlichen Darstellungen von Dichtern erschienen, gewöhnlich in Abschriften ihrer Werke. Ovid, Lukan und Vergil, von denen niemand wusste, wie sie ausgesehen hatten, wurden mit frischen Gesichtern ausgestattet.[27] Dasselbe gilt für sehr viele Figuren der christlichen Heilsgeschichte, für spätantike und frühmittelalterliche Heilige und Stifter, von denen über Jahrhunderte keine Bilder oder detaillierten Personenbeschreibungen überliefert waren, ebenso wie für andere Kleriker und Laien. Sie alle bekamen ab dem 13. Jahrhundert Gesichter, weil ihre Bilder auf nachträglich angefertigten Plastiken, Reliefs, Grabmälern und Fresken erschienen.[28] So eindrucksvoll ihre Züge vor allem nach 1220 ausfielen, als die in Stein gemeißelten Gesichter auf Kathedralen und Grabmälern zunehmend kunstvoll und ausdrucksstark wurden, so sehr waren sie praktische Zeitpolitik, Vergegenwärtigung im Wortsinn: Sie demonstrierten die nachträgliche Visualisierung einer verschwundenen Vergangenheit durch die Gesichter ihrer Protagonisten.
Je intensiver sich das christliche Europa des Hochmittelalters den Bildern zuwandte und je größere, buntere und wirkungsvollere Gesichter diese Medienrevolution produzierte, zuerst in religiösen, dann auch in weltlichen Räumen, desto deutlicher wurden ihre besonderen Eigenschaften. Am Beginn des 14. Jahrhunderts wurde in der »Steirischen Reimchronik« zum ersten Mal die Erzählung vom Künstler formuliert, der ein Porträt eines Fürsten – des Königs Rudolf von Habsburg – anfertigen sollte, als steinerne Skulptur. Der Künstler, so der Chronist Ottokar, sei aber nicht fertig geworden, weil sich Rudolfs Gesicht durch Alter, Sorgen und Krankheit verwandelt und immer mehr Falten bekommen habe: Der Bildhauer habe sein Abbild ständig nachbessern müssen.[29]
Die Gesichter dargestellter Personen verändern sich, eben weil sie lebendig sind; ihre Abbildungen aber nicht. Der Chronist, der die Geschichte berichtet, hat aber weder den Bildhauer noch den lebendigen König samt Falten je selbst gesehen. Sein Bericht ist erst zehn Jahre nach Rudolfs Tod 1291 begonnen und um 1321 abgeschlossen worden. Auch Ottokars Geschichte wird also nachträglich erzählt. Sie hat vermutlich unter anderem dazu gedient, die auffällige Gestaltung der Grabskulptur im Speyrer Dom zu erklären. Noch eine 1997 erschienene Untersuchung war sich allerdings sicher, aus deren Gesichtszügen direkte Schlüsse auf höchst persönliche Empfindungen des Herrschers...




