E-Book, Deutsch, Band 2, 416 Seiten
Gross Deutschland 1927
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2812-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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E-Book, Deutsch, Band 2, 416 Seiten
Reihe: Eine Frau in unruhigen Zeiten
ISBN: 978-3-8412-2812-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Frau versucht ihre Liebe zu retten.
Deutschland, 1927. Trotz vieler Warnungen hat Anna den so charmanten wie verwegenen Kapitän Brandis geheiratet. Als er von einer langen Seefahrt nach Kiel zurückkehrt, wird er noch im Hafen verhaftet. Angeblich hat Brandis seinen Bootsmann erstochen. Er bleibt zwar auf freiem Fuß, darf aber bis zum Prozess kein Schiff mehr führen. Anna weiß jedoch nicht, ob sie ihm noch trauen kann. Zudem verhärten sich die Fronten im Land immer mehr. Sozialer Unruhen drohen. Kommunisten kämpfen gegen Nationalsozialisten. Und es scheint immer mehr, als wäre Brandis das Opfer einer Intrige ...
Ein spannendes Frauenschicksal vor dem Hintergrund der Weimarer Republik.
Claudia Gross, im nordhessischen Arolsen geboren, studierte Germanistik und Philosophie in Düsseldorf, bevor sie eine eigene Buchhandlung eröffnete. Sie lebt in Nettetal am Niederrhein. Ihr Faszination für die zivilen Seefahrt, besondere für Segelschiffe, deren Tage Anfang des 20. Jahrhunderts schon gezählt waren, führte sie an die Ostsee und inspirierte sie zu diesem Roman. Von ihr ist bisher im Aufbau Taschenbuch erschienen: 'Deutschland 1925 - Annas Reise'.
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Der Kontrast hätte nicht größer sein können. Draußen ein sonnendurchfluteter Tag, nach Rosen und Maiglöckchen duftend – drinnen stickige Luft, das Dröhnen der Motoren und der verstörte Blick der wenigen Zuschauer auf eine sich hektisch im Rhythmus dieser Maschinen bewegende Menschenmasse.
»Metropolis«. Die letzte Vorstellung. Hugenberg, ein deutschnationaler Unternehmer, hatte die UFA gekauft und würde auch die letzte Filmrolle einstampfen lassen. Das Rezept für diesen »Hexentrank« hatte allerdings auch die Zuschauer nur wenig überzeugt, und die Presse hatte es verrissen. Zu monumental, zu verkitscht, Gigantismus aus verzerrten Fratzen und überfrachteten Botschaften, die Hugenberg sowieso ein Gräuel waren. Sozialkritizismus in seiner übelsten Form, schrille Bilder, ohrenbetäubendes Klassenkampfgetümmel, ein Planet außer Rand und Band. Der Exitus des guten Geschmacks. Schluss damit!
In der dritten Reihe saßen zwei Frauen, Anna und Sabine. Beide Ende zwanzig, die eine schlank, die andere etwas mehr als vollschlank, die eine aus Kiel, die andere aus Berlin. Sie hatten dieses missglückte Wunderwerk der Filmgeschichte unbedingt sehen wollen, bevor es vernichtet werden und selbst aus den Archiven verschwinden würde. Nach zweieinhalb Stunden dröhnten ihnen die Ohren, und sie waren froh, endlich wieder an die frische Luft zu kommen. Draußen vor dem Kino am Nollendorfplatz standen die Leute etwas ratlos herum, die einen diskutierten, die anderen trugen ziemlich konfuse Mienen zur Schau. Auch Anna und Sabine wussten nicht so recht, was sie mit dem, was sie gerade gesehen hatten, anfangen sollten.
»Bemerkenswert«, murmelte Sabine, um überhaupt etwas zu sagen.
Anna lachte. Ja, bemerkenswert war genau das richtige Wort. Die zweieinhalb Stunden lagen ihr im Magen wie ein zu scharf gewürztes Essen, aber sie hatte nicht vor, sich allzu lange davon den restlichen Abend verderben zu lassen.
»Gehen wir noch irgendwo hin?«, fragte sie, während sich die Menge um sie herum allmählich zerstreute.
Sabine nickte. »Gute Idee. Wie wäre es mit dem ›Eierhäuschen‹? Da spielt heute eine Kombo.«
Der Saal im »Eierhäuschen« war gut besucht. Zur Kombo gehörte eine Sängerin mit einer etwas schrillen Stimme, fast schwarzen Lippen und einem gewagten Dekolleté. Ihr von goldenen Pailletten glitzerndes Kleid blendete die Augen, wenn der Scheinwerfer sie ins Licht tauchte, in dem sie badete wie eine Göttin in den Schaumkronen des Meeres. Der Hunger nach Leben war auch Jahre nach dem Krieg und der Rezession nicht weniger geworden, als ahnten die Menschen, dass das Füllhorn der Fortuna immer leerer zu werden drohte. Das Geld floss, es kam über die Menschen wie ein strahlender Vogel mit ausgebreiteten Schwingen des Glücks. Wir tanzen, wir feiern, wir sind trunken von der Wirklichkeit, bis wir eines Tages ins Grab fallen, hatte Sabine einmal gesagt.
Sie fanden einen Platz am Fenster, hinter dem die Sonne unterging. Es war ein seltsames, ein wenig bläuliches Rot, ein faszinierendes Abendblau.
Sie bestellten Sekt und sahen den tanzenden Pärchen zu. Die Sängerin hatte sich zu einem männlichen Gast auf den Schoß gesetzt und hauchte ihm ihre Worte ins Ohr. Dann strich sie ihm lasziv mit der Hand über den Oberschenkel, lachte, stand auf und trat zurück ins Licht.
Während Sabine sich von einem Mann zum Tanzen hatte auffordern lassen, war Anna sitzen geblieben. Sie gab auch dem nächsten einen Korb, bis sie plötzlich Meike Wolff entdeckte, die geradewegs auf sie zusteuerte. Meike war aus Kiel, die Tochter eines Kapitäns. Sie und Anna waren sich ab und zu am Hafen oder in der Stadt begegnet, hatten ein paar Worte gewechselt, aber näher kannten sie sich nicht. Meike war schwarzhaarig, mit dunklem, südländischem Teint und dunklen Augen, etwas älter als Anna und mit einem Mann der Gaswerke verheiratet. Sie trat lächelnd an den Tisch.
»Hallo, Anna.«
»Hallo, Meike. Was machst du in Berlin?«
Meike setzte sich auf Sabines Stuhl. »Ich besuche meine Tante.«
»Bist du allein hier?«
»Nein. Mein Cousin sitzt da hinten, aber er ist sterbenslangweilig. Tanzt nicht, trinkt nicht, spricht nicht.«
Meike lachte und bestellte beim vorbeikommenden Kellner eine Flasche Sekt. Die beiden Frauen kamen ins Gespräch, plauderten über Belangloses, bis Meike beiläufig bemerkte: »Du hast Chris Brandis geheiratet, habe ich gehört.«
Anna nickte nur. Sie sah den Tanzenden zu, nippte an ihrem Sekt und ahnte nichts Böses, während Meike mehr trank, als ihr guttat. Bald war die Flasche halb leer, und Meike wurde immer beschwipster.
»Vielleicht solltest du zu deinem Cousin zurückgehen«, schlug Anna vor, aber Meike schüttelte entschieden den Kopf und füllte ihr Glas nach.
»Bist du glücklich mit Chris, Anna?«
»Ja. Warum fragst du?«
»Weißt du, dass er und ich heiraten wollten?«
Anna schüttelte etwas überrascht den Kopf. Nein, das hatte er ihr nie gesagt.
»Ich habe mich aber dann für Marius entschieden, einen grundsoliden Mann. Ein Kapitän ist nichts für eine Frau, immer unterwegs, man weiß nie, was er so treibt in den Häfen dieser Welt.«
»Seemannsgarn«, gab Anna gereizt zurück.
Meike musterte Anna. »Es geht mich ja nichts an«, bemerkte sie nach einer kurzen Weile, »aber Brandis soll für den Tod eines Seemanns verantwortlich sein. Du hast doch sicher davon gehört?«
»Ich bin seit zwei Wochen in Berlin. Ich habe gar nichts gehört.«
»Ich weiß es von meinem Vater. Auf der Kristina Sund soll zwischen dem Bootsmann und Brandis ein heftiger Streit ausgebrochen sein, als sie im Hafen von Rio lagen. Brandis soll den Bootsmann erstochen und dann seine Leiche über Bord geworfen haben.«
»Das kann nicht sein«, rief Anna entsetzt. »Das würde Chris niemals tun.«
»Glaub es oder auch nicht«, versetzte Meike schulterzuckend und stand auf. »Brandis hatte immer den Ruf eines Schinders und Sklaventreibers, als er noch Erster Maat war. Wusstest du das nicht?«
Sabine war zurückgekommen. Meike nickte Sabine und Anna lächelnd zu und kehrte zu ihrem langweiligen Cousin zurück.
Anna gab vor, zur Toilette gehen zu müssen, stand auf und durchquerte den Saal. Eine der Nebentüren nach draußen stand auf. Mittlerweile war es dunkel geworden, nur die Laternen brannten. Die Stühle auf der Uferterrasse waren verwaist, auf den Tischen glänzten noch die Tropfen vom letzten Regenschauer. Auf der Spree hatte sich das Spiegelbild eines halben Monds niedergelassen und trieb mit den Wellen flussabwärts.
Anna stand am Wasser und starrte in die leise rauschende, schwarze Tiefe.
Mit dem heftiger werdenden Wind kamen auch die Erinnerungen. Erinnerungen an ihre Reise vor zwei Jahren nach Kiel. Sie hatte dem in Berlin angeschossenen Maxim Rose, dem Sohn eines Kieler Reeders, das Leben gerettet. Sie war der Einladung seines Bruders Franz nach Kiel gefolgt, wo sie sich in Kapitän Chris Brandis verliebt und ihn geheiratet hatte. Sie erinnerte sich auch an den Tod von Franz, der auf seinem eigenen Grundstück erschossen worden war, ein Tod, der bis heute vom zuständigen Kommissar Moritz Sand nicht aufgeklärt werden konnte. Franz’ gewaltsamer Tod lag immer noch wie ein Schatten über der Familie und der Reederei, die nun von Maxim geführt wurde.
Bilder ihrer Hochzeit stiegen auf, ihre offizielle Verbindung mit dem Mann, der sie so verzaubert hatte. Maxim und seine Schwester Lilly waren ihre Trauzeugen gewesen, und dann hatten sie in einem der besseren Hafenlokale gefeiert. Mit Seeleuten, Kapitänen, Freunden. Selbst der alte Bürovorsteher Berger nebst Frau war gekommen. Ein rauschendes Fest, aber eine Hochzeit ohne Hochzeitsreise. Die war ausgefallen, weil Brandis einen Tag später nach Irland und dann direkt weiter nach Brasilien gesegelt war. Doch die befürchtete Einsamkeit war ausgeblieben. Anna war eingebunden in die Reederei, in die Arbeit im Hafenbüro, da war nur wenig Zeit zum Grübeln gewesen. Was geblieben war, war die Sehnsucht; die brauchte keine Zeit, die war zeitlos. Sie war Annas ständiger Begleiter. Bis gerade eben. Aber jetzt hatte die Sehnsucht noch einen anderen Begleiter. Das Misstrauen. Was, wenn Meike die Wahrheit gesagt hatte?...