E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Grossmann Zur Zukunft der Bildung
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2025
ISBN: 978-3-7873-4989-0
Verlag: Meiner, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischenrufe und Interventionen
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-4989-0
Verlag: Meiner, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Um das Menschenrecht auf Bildung zu betonen und Chancengerechtigkeit im Bildungswesen einzufordern, hat die UN-Vollversammlung 2018 einen »Internationalen Tag der Bildung« ausgerufen. Doch was man jeweils unter Bildung versteht, erscheint einigermaßen disparat oder gar diffus.
Zugleich bevölkern Zauberworte und Heilsversprechen aller Art den Diskurs über Wissen und Wissenschaft. Evaluierung, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und neuerdings Diversität sind solche Begriffe, die in Schule und Universität en vogue sind. Wie Hans-Georg Gadamer schon vor der Jahrtausendwende bemerkte, ist Bildung »kein sehr beliebtes Wort mehr«. Und doch scheinen wir davon nicht loszukommen. Warum eigentlich überhaupt noch von Bildung sprechen? Ist Bildung nicht in Wahrheit ein Konzept von gestern oder vorgestern? Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen der Frage nach, was Bildung ist oder sein kann, wie Bildungsprozesse vonstattengehen und wie Bildungsinstitutionen, namentlich die Universität, am besten auszugestalten wären. Nicht zuletzt in Zeiten von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz ist eine Debatte über den Bildungsbegriff unverzichtbar.
Der Band enthält Beiträge von Andreas Dörpinghaus, Petra Gehring, Andreas Gelhard, Andreas Großmann, Konrad P. Liessmann, Antonio Loprieno, Käte Meyer-Drawe, Jürgen Mittelstraß, Christoph Paret, Markus Rieger-Ladich, Dieter Thomä und Georg Zenkert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Zur Zukunft der Bildung – oder warum Bildung unverzichtbar ist
Einführende Bemerkungen
Andreas Großmann
1. Zum Thema
Es gibt Begriffe, die zuweilen geradezu inflationär gebraucht werden, ohne dass eigentlich klar wäre, welchen Sinngehalt sie haben (oder haben sollen). Der Begriff der Kreativität ist ein solcher Begriff.1 Aber auch der Begriff der Bildung ist keineswegs klar konturiert, vielmehr bei näherem Hinsehen einigermaßen schillernd und unbestimmt. Er gleicht einem Schibboleth, bei dem jeder bereitwillig nickt und hinter dem sich alle versammeln. Was aber soll es bedeuten? Lädt vielleicht gerade seine Unbestimmtheit dazu ein, den Begriff ubiquitär zu verwenden und arbiträr zu besetzen? Bildung wird einesteils proklamiert „für alle“, sie soll berufen sein, soziale Ungleichheiten auszubügeln und Chancengleichheit zu gewährleisten. Anderenteils gilt sie als bestmögliche Investition in die Zukunft, als Garant für Aufstieg und Erfolg. Das ökonomische Paradigma gibt sich unverblümt zu erkennen: Bildung – was immer darunter verstanden werden soll – gleicht einer Ware auf dem Warenmarkt. Bildung soll sich lohnen – und am besten natürlich auch messbar sein. Denn was wäre von dem Bildung genannten Gut zu halten, wenn es nicht Gewinn abwürfe? Das Investment verlangt vorzeigbare, messbare Rendite …
Die ökonomische Logik prägt zunehmend auch Bildungsinstitutionen wie die Universität. Folgte die moderne Universität seit Humboldt dem Dreiklang von Forschung, Lehre und Bildung – am Hauptportal des alten Hauptgebäudes der 1919 gegründeten Universität Hamburg ist er noch in Stein gehauen: „Der Forschung – Der Lehre – Der Bildung“ -, verschreiben sich Universitäten seit geraumer Zeit einer sogenannten „third mission“ als der zu Forschung und Lehre hinzutretenden „dritten Mission“. Letztere ist allem Anschein nach das neue Mantra, das, unterstützt von den jeweiligen Wissenschaftskommunikationszentren (vulgo: Marketingabteilungen) der Universitäten, die Strategie für die Universität der Zukunft – einer dezidiert „unternehmerischen“ Universität – vorgeben soll. Was großspurig und nicht ohne missionarischen Eifer als „third mission“2 proklamiert wird – gemeint ist der Austausch mit Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur -, tritt augenscheinlich an die Stelle dessen, was einmal Bildung genannt wurde. In entsprechenden Strategiepapieren zur sogenannten „third mission“ der Universitäten sucht man einen anspruchsvollen Begriff von Bildung indes vergebens. Allenfalls von berufsbegleitender „Weiterbildung“ oder der Entwicklung nötiger „Kompetenzen“ ist die Rede. Der Terminus „Bildung“ passt, wie es scheint, nicht in die Textur einer von marktgängigen Worthülsen bestimmten Marketingsprache. Wozu noch Bildung, wenn es um messbare Effizienz geht? Hat der Geist, hat Bildung ausgedient?
Die Diskussion um Gestalt und Gestaltung der Universität ist freilich nicht neu. Auch Wilhelm von Humboldts Universitätsreform und seine Begründung der modernen, neuhumanistischen Universität richteten sich zu seiner Zeit bekanntlich schon gegen die bestehenden Universitäten. „Gibt es noch eine Universität?“ Die Frage gab über 100 Jahre nach Humboldt, 1931/32, den Anstoß zu einer Artikelserie in der Frankfurter Zeitung.3 Die Neuordnung der Universitäten infolge der „Bologna“-Reform gab in jüngerer Vergangenheit verschiedentlich Anlass für Publikationen. „Die Krise der Universitäten“4 oder „Universität ohne Zukunft?“5 lauten einschlägige Titel, die die durch jene Reform initiierten Veränderungen in der Universitätslandschaft zumeist kritisch begleiteten – und mitunter dann doch auch wieder eine „Idee“ anmahnten, für die die Universität im Besonderen und Bildung im Allgemeinen einzustehen hätten. Wenn heutige Bildungs- und Hochschulpolitik mit so etwas wie einer „Idee“ von Universität oft nichts mehr anzufangen weiß, kann sie doch den Begriff der Bildung nicht umstandslos verabschieden. Er weigert sich, seine vielfältige Verwendung zeigt es, einfach von der Bildfläche zu verschwinden. Bildung mag, wie Hans-Georg Gadamer bereits vor der Jahrtausendwende bemerkt hat, „kein sehr beliebtes Wort mehr“ sein.6 Und doch scheinen wir von dem Wort nicht loszukommen. So fällt auf, dass mit der Distanzierung vom altehrwürdigen, in der Moderne vor allem mit Wilhelm von Humboldt verbundenen Begriff der Bildung zugleich die Klage um den Verlust oder die Krise der Bildung einhergeht, sei es im Blick auf die Misere an deutschen Schulen – den Mangel an Lehrern und das zum Teil desaströse Niveau von Schülerleistungen – oder im Blick auf die Geisteswissenschaften an Universitäten.7 Die Antwort der Politik – inszenierte „Bildungsgipfel“ und die Ausschüttung sogenannter „Bildungsmilliarden“ (sofern noch Geld zur Verfügung steht …) – verspricht freilich kaum eine Lösung der Probleme, wo man, zumal unter Vorzeichen der Digitalität,8 kaum mehr noch versteht, warum man Goethe, Kant oder Hegel überhaupt noch lesen soll. Es ist ja alles „im Netz“ verfügbar. Und reicht es nicht, sich von Sprachautomaten wie ChatGPT gewünschte Texte ausspucken zu lassen? Wozu überhaupt noch selber denken und sich der Mühe und Anstrengung unterziehen, schwierige Texte selbst zu lesen und kohärente Gedanken aufs Papier zu bringen? Wenn allem Anschein nach, wie es die Schriftstellerin Nina George formuliert, „Selberdenken in der heranwachsenden Generation krass uncool“ ist,9 steht allerdings mehr noch auf dem Spiel als die von manchen belächelte und vielleicht sogar despektierlich als gestrig verabschiedete Sache der Bildung. Wer mit dem Wahlspruch der Aufklärung – denn darum geht es: um das „Sapere aude!“ – nichts mehr anzufangen weiß und nur noch papageienhaft nachplappert, was Social Media und Sprachautomaten der künstlichen Intelligenz auf Anfragen (sogenannte „Prompts“) auswerfen, und ansonsten in moralistisch aufgeladenem, im Gestus tendenziell autoritärem Aktivismus Surrogate sucht, der weiß zuletzt auch nicht mehr, welche Gründe es geben sollte, die liberale Demokratie einer Autokratie vorzuziehen. Bei der Frage nach der Zukunft der Bildung geht es zuletzt – auch – um die Frage nach der Zukunft der Demokratie. Heike Schmoll bringt es auf den Punkt:
Die Orientierung an Anwendbarkeit und am wirtschaftlichen Nutzen, die in Großbritannien zum Dogma erhoben wurde, führt zu einer geradezu selbstzerstörerischen Nivellierung des Niveaus. Aber auch hierzulande scheinen die Aktivisten, die mit wohlfeilen, aufgeladenen Forderungen die Welt retten wollen, viel mehr Anklang zu finden als komplexe Verstehens- und Deutungsangebote, die jedenfalls reichlich Leseanstrengung erfordern. Das wird auch demokratiepolitisch nicht folgenlos bleiben, wenn womöglich diejenigen mit den einfachsten Lösungsversprechen den größten Zulauf bekommen.10
Immanuel Kant, der in seinem Essay Was ist Aufklärung? den Wahlspruch der Aufklärung entscheidend mit dem Mut und Risiko (!) des Selberdenkens verbunden hat, hat freilich auch davon gewusst, dass sich der Mensch gerne seiner Bequemlichkeit und Faulheit hingibt:
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurtheilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.11
Ist, wer sich gedankenlos dem Diktat künstlicher Intelligenz unterwirft, nicht auf dem Weg zu neuer Unmündigkeit? Bildung ist ein anstrengender Prozess und, wie gesagt, auch riskant. Sie erfordert Zeit und Anstrengung – und nicht zuletzt, auch an Universitäten, Freiräume abseits von Modulen und Credit Points, Möglichkeiten auch für Umwege über den disziplinären Tellerrand hinaus. Denn nur so ist ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu erlangen. Manifestiert sich Bildung nicht genau darin: in der Suche nach dem geeigneten, passenden Wort der jeweiligen Sache, um die es geht, näher zu kommen und auf diesem Wege seine Urteilskraft zu schärfen, in diesem Prozess auch Freiheit und Kreativität zur Geltung kommen zu lassen – die es unter der Vorherrschaft generativer künstlicher Intelligenz nicht gibt? Es ist wohl wahr: Bildung ist „ein anspruchsvolles Konzept, das nur durch den Erwerb von Urteilskraft auf der Grundlage von Sachkenntnis realisiert werden kann“.12
Insofern Urteilskraft jedoch eines sorgsamen und differenzierten Umgangs mit Sprache bedarf, wäre weiterhin zu fragen, was es heißt, in der Sprache – und so im Denken – zu sein, Sprache als „Haus des Seins“ (Martin Heidegger) zu begreifen.13 Ist doch Sprache der – nicht bloß virtuelle! – Raum des Mit-Seins mit Anderen, in dem sich Welt erschließt und nicht lediglich Information geteilt wird. Aber das weiß nicht mehr, wer meint, es genüge, Internet-Suchmaschinen und Sprachautomaten der künstlichen Intelligenz Texte auswerfen zu lassen. Was bedeutet eine solche Haltung für die Zukunft schulischer und universitärer...