E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Grube Im Paradies wie immer
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-949899-35-5
Verlag: onomato
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine poetische Philosophie Franz Kafkas
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-949899-35-5
Verlag: onomato
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Axel Grube ist ein deutscher Verleger, Hörbuchsprecher und Produzent mit Sitz in Düsseldorf. Er gründete 1998 den onomato Verlag, der sich auf literarische und philosophische Hörbücher spezialisiert hat. Grube ist für seine sorgfältige Auswahl und Interpretation von Texten bekannt, darunter Werke von Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Søren Kierkegaard und Heinrich Heine. Seine Produktionen zeichnen sich durch eine klare, ruhige Sprechweise und eine hochwertige Gestaltung aus, die sowohl akustisch als auch visuell ansprechend ist. Grube sieht seinen Verlag weniger als ein kommerzielles Unternehmen, sondern vielmehr als ein künstlerisches Projekt zur mündlichen Überlieferung von Literatur und Philosophie.
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Vorwort
Im Verweis von Denkbildern, Reflexionen und Aussagen in den Formen und Redeweisen Kafkas erscheint eine poetische Form von Philosophie. Aus jüdischer wie universaler Überlieferung gestaltet Kafka dabei eine neue Tradierbarkeit, eine universale Kabbala in der Moderne.
In einer Zeit in der, wie es im Märchen heißt, »Die Sonne schon hoch am Himmel steht«, inmitten einer Ratlosigkeit der Moderne, erneuert Kafka die weit ausgreifende, kontinuierliche, dabei allerdings eher hintergründige Ambition einer über zweitausendjährigen Überlieferung und stellt sie einer offenen Anverwandlung anheim.
Mit der Methode eines Komplements von Unabschließbarkeit und Gewissheit sowie dem Hinweis auf ein Lebensgefühl im Zusammenfallen von Teilnahme und Verantwortung, erweist sich das Denken Kafkas in seinen grundlegenden anthropologischen Motiven als Hindeutung auf die Möglichkeit eines Weltethos.
Zur Darstellung in diesem Buch bedarf es einer erläuternden Sprache. Wie aber Friedrich Hölderlin die Existenz als »excentrische Bahn«, als Bogen und Rückkehr zu einer gleichsam ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ beschreibt, so mag auch der Leser wieder zu einem unmittelbaren, möglicherweise aber tieferen Erlebnis der Prosa Kafkas zurückkehren.
Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus. 1
Humor als Moment von Unabschließbarkeit im Denken war Kafka aus Überlieferungen vertraut. Beim talmudischen Dialog, zu dessen Übung er sich mit dem Schulfreund Hugo Bergmann verabredete, handelt es sich, wie auch beim sokratischen Gespräch, um Verabredungen zum gemeinsamen Denken »ohne Geländer«, zum »Sprachspiel« mit offenem Ende. Alle denkbaren Perspektiven gilt es, meist ausgehend von einem Motiv der Überlieferung, aufzufinden und bis zur Erschöpfung aller denkbaren Sichtweisen abzuwägen. Perspektiven werden probeweise eingenommen, durchgespielt und variiert, auf den Kopf gestellt, ins Paradoxe, Aberwitzige, Groteske gekehrt. Eine bewusste Übung im ›wilden Denken‹. Die Aporie, das Aufsuchen des Zweifelhaften, die immer noch mögliche, letzte Wendung ins Offene ist charakteristisch für die Musikalität dieser jüdisch-hellenischen Überlieferung. »Sich für eine Sache tausend Augen einsetzen«, heißt es bei Nietzsche. Kafka, der, im Gegensatz zu seinem Freund Max Brod, Nietzsche schätzte, notierte in Zürau: Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört Halt zu sein.2
Halt auf allen Seiten haben …3, schien für Kafka jedoch ebenso von vitalem Interesse zu sein, im zügelloseste[n] Individualismus des Glaubens 4 wie auch kommemorativen Formen einer Tradierbarkeit.
Um das Paradox von Unabschließbarkeit und Gewissheit kreist das Denken Kafkas. Wahrheit ist ihm dabei kein unmöglicher Begriff, vom Glauben zu sprechen nicht fremd. Die Entdeckung des Zweifellose[n] in sich, zu dem er gar nicht viel an [sich] verändern, sondern nur die alten, engen Umrisse [seines] Wesens nachziehen musste,5 scheint dabei das Agens einer praktischen Philosophie zu sein, bei der es Kafka letzthin um die nächsten Bedürfnisse des Lebens geht, vor allem in der Frage zur Bildung eines Verantwortungsgefühls, einer ethischen Musikalität.
Im Sinne einer Schulphilosophie ist Kafka nicht als Philosoph in Erscheinung getreten, eine systematische Philosophie nicht zu erwarten. Theorien und Lehrgebäude lagen ihm nicht. In den Bezügen der gleichnishaften Motive aber, im Verweiszusammenhang der Denkbilder in allen Schriftformen und Redeweisen, erscheint sein Denken als beispiellose Form einer poetischen Philosophie. Im Geflecht von korrespondierenden und sich gegenseitig erhellenden Bildern, offenbart sich, verwoben im gesamten Werk, in Briefen, der Kurzprosa, den epischen Texten und ausdrücklicheren Formen wie den Zürauer Schriften, ein Denken, das wohl nur in einem solchermaßen offenen Beziehungsgeflecht seinen Ausdruck, seine ›Entsprechung‹ finden konnte.
In einer Gestalt, wie man sie sich unsystematischer kaum denken kann, erscheint der Zusammenhang doch als Gewebe in gleichsam plastischer Evidenz. Die Form vermag dem komplementären Charakter in dem Paradox von Unabschließbarkeit und Gewissheit zu entsprechen. Wenn von einer Philosophie Kafkas die Rede ist, wird es vor allem um seine Methodik des Humors, der Beweglichkeit im Komplement von Unabschließbarkeit und Gewissheit gehen:
Besondere Methode des Denkens. Gefühlsmäßig durchdrungen. Alles fühlt sich als Gedanke selbst im Unbestimmtesten.6
Die Texte selbst, vor allem aus der Zürauer Zeit, lassen keinen Zweifel darüber, dass Kafka der Zusammenhang und seine Quellen klar vor Augen stand. Auf Transformationen mystischer Überlieferungen fußend, richtet sich sein Denken – besonders auch im Hinweis auf die »erfüllte Zeit« – vor allem auf die Frage einer ethischen Musikalität und Verantwortlichkeit in einem uneingeschränkt bejahenden und weltzugewandten Geschmack.
Bei der Darstellung in diesem Buch werden Stücke einbezogen, die bisher wenig wahrgenommen, wenn nicht gar ausgeblendet und professionell übersehen wurden. Texte, in denen Kafka von dem Einen, Absoluten und Allerheiligsten, vom Zweifellosen sowie vom sündhaften Stand 7, von der christlichen Lehre, von Christus und immer wieder vom Glauben spricht. Es ist wohl allzumenschlich, wenn Betrachter, Motive die ihnen nicht geheuer sind, auszublenden wissen und nicht wahrnehmen, nicht wahrnehmen wollen. Andererseits wäre es unangebracht, Kafka aufgrund weniger, womöglich suchender, tastender Äußerungen, für eine Tendenz zu vereinnahmen. Wenn aber die Motive in ihrer geistigen Atmosphäre, im Geschmack und der Musikalität des Denkens nicht zusammenhanglos erscheinen, sondern sich in der Korrespondenz von Wiederholungen und Varianten als grundlegende Perspektiven erweisen, ist doch geboten, sie einmal herauszuarbeiten und zu erinnern.
Wie etwa sein Hinweis auf einen sündhaften Stand,7 sind es oft Motive, die im »Erwachsenenalter der Menschheit« (Kant), im Zeitalter der ›reinen Vernunft‹ und Säkularisierung, in breitem Einverständnis und nach den Stereotypen der aufgeklärten Moderne als für alle Zeiten überwunden und abgetan gelten. Sie kommen nicht mehr in Frage, ja erregen Affekte der Abwehr und Ärgernis.
Im Sinne des oben erwähnten Gesprächs mit offenem Ausgang aber mag doch zugebilligt werden, diese Motive, wenn auch nur vorübergehend oder als obskure Gehalte, zuzulassen und nicht unbesehen und im gewohnten Affekt von sich zu weisen, zumal sie doch unleugbar von Kafka selbst stammen und nicht vereinzelt, sondern wiederholt und in einem schlüssigen Zusammenhang erscheinen. Denkbar wäre doch, dass gerade diese ›belasteten‹ Motive, auch in der Resonanz, die Kafka in seinem Ausgreifen in die Jahrhunderte, ja in jahrtausendealten Transformationen aufruft, noch einmal in einem unerwarteten, annehmbaren Licht erscheinen. Für die Entdeckung einer Philosophie Kafkas oder die Menschheitsfrage, was es mit dem beispiellosen Werk Kafkas auf sich habe, erscheinen womöglich gerade diese Hinweise, bald nach der ›Zulassung‹, als unverzichtbar.
Auch wenn das Denken Kafkas mit seiner Perspektive auf das Unerklärliche, Züge jahrtausendealter mystischer Traditionen trägt, zielt es doch zuletzt immer auf das Hier und Jetzt, das nächste Leben, auf jeden Augenblick und die Frage, was die Haltung in dieser Perspektive, was ein »Verhältnis zum Verhältnis« mit dem Leben macht. Kafka ist kein Dualist. Das Leben wird nicht der Transzendenz übergeben oder auf ein Jenseits verwiesen. Wie in den Reisebeschreibungen der Hekhalot-Erzählungen der frühen jüdischen Mystik geht es bei der Reise zu dem Unerklärlichen immer vor allem um den Rückweg, den seelischen Niederschlag, die sich einstellende Veränderung der Lebenswelt in der Wahrnehmung des ›Ganz Anderen‹ und zugleich Einen: Ein Denken in einem anderen Licht, gefühlsmäßig durchdrungen, als Erlebnis – im Zusammenfallen von unendlicher Teilhabe und Verantwortung.
Die Entwicklung einer ethischen Musikalität, die sich, anders als Moral und Tugend, in der Unmittelbarkeit des Handelns äußert, ist das Grundanliegen Kafkas bei dem Gehe hinüber 8, dem Hinweis auf das Unfassbare. Der Eros seiner diesseitigen Mystik liegt im Hinweis auf die Eudämonie im Zusammenfallen von unermesslicher Verantwortung und Teilhabe. Es ist Befreiung in die Verantwortung, die Soteriologie eines zügellosesten Individualismus, in welchem die Angst, als Intuition einer ewigen Verantwortung, im Denken und Auf-sich-nehmen, umschlägt – in jedem Augenblick umschlägt, ja eins wird, im Fühlen einer unendlichen, unverbrüchlichen Teilnahme.
Wird dir alle Verantwortung auferlegt, so kannst du den Augenblick benützen und der Verantwortung erliegen wollen, versuche es aber dann merkst Du, dass dir nichts auferlegt wurde, sondern dass du diese Verantwortung selbst bist, 9
Als »philosophischen Glauben« beschreibt auch Karl Jaspers dieses Bild Kafkas einer Eupathie, der Koinzidenz von Teilnahme und Verantwortung:
»Aus der Erfahrung des Nichts, angesichts der Grenzerfahrung erst eigentlich beschwingt, vertraue ich mich, von neuem glaubend, der Weite an im Aufhellen aller Weisen des Umgreifenden, das ich bin und in dem ich mich finde.«
Es ist eine andere...