E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Gruenter Sommergäste in Trouville
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25732-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
            ISBN: 978-3-446-25732-0 
            Verlag: Carl Hanser
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Undine Gruenter, 1952 in Köln geboren, studierte Jura, Literaturwissenschaft und Philosophie. Sie lebte bis zu ihrem Tod 2002 in Paris. Bei Hanser erschienen Ein Bild der Unruhe (1986), Nachtblind. Erzählungen (1989), Vertreibung aus dem Labyrinth (1992), Das Versteck des Minotauros (2001), Sommergäste in Trouville. Erzählungen (2003), Der verschlossene Garten (2004) und Pariser Litertinagen. Erzählungen (2005)
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Übungsstunde
Noch vor einem Jahr machten wir Schattenspiele, wenn wir rund um den Tisch saßen und uns langweilten, weil draußen Regen war und die Ferien uns zwischen den Fingern zerrannen. Jean-Paul war schon vierzehn, und wir wußten, er ließ sich ein wenig herab zu uns Kleinen, aber weil wir Mädchen waren, ließ er es durchgehen, und so hüpften lauter Kaninchen als Schatten seiner Finger über die Wand, hüpften, hoppelten, sprangen, schlugen Haken oder starben im Straßengraben. Andrée war dreizehn, aber sie spielte die Altkluge, an Schulwissen dem älteren Bruder weit überlegen, und stellte ihm Fangfragen, wann die Pyramiden von Gi- zeh gebaut wurden oder in welcher Epoche Honfleur Exporthafen war. Sie trug jetzt eine runde Nickelbrille und steife Zöpfe und übte sich in der Rolle einer puritanischen Gouvernante, die sich, war der Zeitpunkt gekommen, als eine Julia Roberts entpuppen würde. Jedenfalls sprach sie viel über Charakter und Persönlichkeit einer Filmrolle und wußte noch nicht, daß sie im nächsten Jahr in Lisieux bei der Bank arbeiten würde, in den Ferien. Von Charakter oder den Pyramiden würde sie nichts mehr sagen, statt dessen redete sie von der hohen Schule der Praxis. Jean-Paul wäre in diesem Jahr der Sieger, auch mit Brille, aber ohne Verpflichtung zur Arbeit, mit einem Haufen Bücher in seinem Dachstübchen und freien Ferientagen, an denen er mit der Badehose zu seinen Freunden verschwände. Aber noch vor einem Jahr liefen wir, wenn der Regen vorbei war, in den Hof, Andrée sagte automatisch, paßt auf, daß ihr nicht in die Rosen von Mama rennt, und wir spielten mit den Kindern von nebenan eine Art Versteckspiel, dessen Auftakt wir abwechselnd ansagten:
War einmal ein kleiner Kreis
Standen Mädchen auf dem Eis
Kam ein Vogel ganz in Weiß
Streute aus den harten Reis
In dem Reis da stand geschrieben:
»Du bist da und du bist hier
Und am dritten Ort ist keiner
Ich bin fort und du bist weg
Wo wir sind das weiß nur einer«
Das alles war voriges Jahr, und dieses Jahr ist alles anders, und dieses Jahr hat man mich wieder ans Meer nach Trouville geschickt, das Haus der Tante Silvie ist groß genug, und ich könne dort so schön spielen, da wir alle im gleichen Alter sind. Aber wir sind nicht mehr im gleichen Alter, Jean-Paul lehnt es ab, mit kleinen Mädchen zu spielen, und verschwindet mit seinen Büchern und seiner Badehose, und Andrée ist unter der Woche in Lisieux, wo sie den Bankangestellten belegte Brote und Bier aus der Brasserie holt und Briefe sortiert. Natürlich läßt sie am Abend nur Namen wie IBM und Cannon fallen und Formeln von Computerprogrammen, die auf uns wie ägyptische Hieroglyphen wirken.
Amüsier dich gut, sagt die Tante am Morgen, wenn sie in ihren Laden geht, sie hat einen kleinen Bric-à-Brac-Laden in der Rue des Bains mit alten Büchern und Gläsern, Besteck, Spiegeln, Schmuck und Spielzeug, und da Saison ist, sitzt sie dort, und das Haus ist leer. Es ist ein Eckhaus, mitten in der Stadt zwischen der Rue des Bains und der Rue Général-de-Gaulle. Das Haus ist weiß gestrichen, im ersten Stock ist seitlich eine Balustradenterrasse und vor der Tür der Hof mit den Ziegelpflastern und Kletterrosen, Korbweiden und Hortensien. Neben der Tür steht in schmiedeeiserner Schrift Ville Méridienne. Ein paar Häuser weiter ist die Post von Trouville, ein alter Schinken aus den dreißiger Jahren, die Schalterhalle so groß wie die Hauptpost in einem Pariser Arrondissement. Gegenüber die Lieferantenzufahrt auf der Rückseite von MONOPRIX und die Milchglasscheiben vor den Lagerräumen. Das ist alles, was über die Straße zu sagen ist, meist wirkt sie still, schattig und verlassen, denn die Leute, die einen Brief einwerfen, sind nie zu sehen. Ich bin also allein, mir selbst überlassen, wie man sagt, und aus Höflichkeit verabrede ich mich auch weiter mit den Kindern von nebenan, die noch auf den Ponys am Strand reiten und stundenlang im Meer planschen und Muscheln sammeln. Aber es gibt Tage, an denen sie etwas anderes vorhaben, und Tage, an denen ich sie nach ein paar Schwimmrunden im Meer unter einem Vorwand verlasse. Erst gegen Abend, wenn die Tante den Laden schließt, der letzte Kunde hat ihr gerade einen Satz Käsemesser mit Elfenbeingriffen abgekauft, findet sie uns wieder vereint auf der Straße vor, wo wir Federball spielen, bevor wir zum Essen gerufen werden.
An solchen Tagen bin ich Stunden um Stunden allein im Haus, und ich könnte nicht sagen, wie ich sie verbringe, obwohl ich wie nach einem verabredeten Plan vorgehe. Ich bleibe meist im Parterre in dem doppelten Salon mit dem Durchgang. Die Hälfte liegt zur Straße, mit gerafften Vorhängen, Kanapee, ein paar Sesselchen und einem kleinen Sekretär. Im anderen Teil stehen Tisch und Stühle und eine Kommode, da wird gegessen. Neben dem Durchgang hängt ein schmaler Spiegel, in dem das Kanapee und das Eckfenster zur Straße zu sehen sind. Diese wenigen, zierlichen Möbel und ein kleiner Gebetsteppich, den Tante aus Ägypten mitgebracht hat, verwandeln das Zimmer, wenn ich allein bin, in eine Puppenstube, eine kleine Theaterbühne, und ich spiele die Figuren, mit denen ich Andrée eines Tages am Ende der Ferien überraschen will. Agonie: ich lege mich auf das Sofa, die Beine hoch über die Seitenlehne drapiert, den Kopf ein wenig herabpendelnd, zwischen den Brüsten den Handspiegel, auf dem ein dumpfer Fleck den letzten Hauch symbolisiert, die Augen geschlossen. Es ist schwierig, Totenblässe zu bewahren, das Herabhängen des Kopfes treibt Blut ins Gesicht, und das Puterrot einer Sterbenden muß durch angehaltenen Atem in Schach gehalten werden. Atem: ich stelle mich auf das Sofa, immer in meinem kurzen Röckchen, im demi-plié, vierte Position, linker Fuß mit Spitze nach links außen parallel zu rechtem Fuß mit Spitze nach rechts außen, die Arme halbhoch erhoben, fast zum Bogen geschlossen. Bis dahin besteht die Übung aus Atemanhalten. Dann aus langsamem Ausatmen und gleichzeitigem In-die-Höhe-Wachsen des Körpers, die Rechte oder Linke hält abwechselnd einen Drahtring, in dem sich langsam eine Seifenblase so vergrößert, bis sie sich löst und als torkelnder kleiner Ballon durch das Zimmer schwebt. Geheimnis: ich sitze, ohne mich anzulehnen, ein wenig seitlich auf dem Sofa, um den Kopf das Tuch einer alten Frau, das Gesicht in uralte Falten gelegt, und spähe in den Handspiegel. Variation: ich sitze in ähnlicher Position auf dem Kanapee, ein wenig zurückgelehnt, die Arme über die Rücken- und Seitenlehne gelegt, auf den Augen eine kleine Höhensonnenbrille mit schwarzen Plastikkappen und Rändern aus weißem Schaumgummi. Gewalt: ich stehe auf dem Kanapee, halte den Handspiegel wie einen Schild vor die Brust, Spiegelseite nach außen. Die Beine, wie in Schienen, ein wenig gegrätscht und im Knie angewinkelt. Ausfallstellung. Auf die Spiegelfläche ist mit schwarzer Farbe eine Maske aufgemalt, Schreckensfratze einer Bestie, speiender Mund, rollende Augen, drohende Augenbrauen. Variation: auf dem Sofa stehend mit gesenktem Kopf und hocherhobenen, nach vorne gebogenen Armen. Angriffsstellung. Gespreizte Finger mit langen schwarzen Krallen. Rätsel: ein schwarz-weiß gewürfeltes Dominotuch stellt ein Schachbrett dar. In der Mitte des Zimmers, auf dem Parkett ausgebreitet. In schwarzem Trikot und Strümpfen, mit schwarzem Reifen um die Taille, an dem kurzer Tüll befestigt ist, stelle ich die schwarze Dame dar. Die Arme in zwei Stufen übereinander vor die Brust gehalten. In der linken Hand ein weißer Läufer, in der rechten Hand ein weißes Pferd. Schachmatt oder Remis ist die Position. Variation: Hände eng an den Körper gelegt. Um die Stirn eine weiße Binde. Stillstand: um den Kopf ein Reifen mit von der Stirn abstehendem Steg: am Ende des Stegs ist an langem Faden die kleine Taschenuhr befestigt, die immer auf dem Sekretär liegt. Die Uhr stammt aus dem 19. Jahrhundert und geht nicht. Ich, stehend vor dem Wandspiegel, geschlossene Augen. Erotik: Haltung ähnlich wie bei Agonie. Gespreizte Beine, über die Lehne des Kanapees gelegt, etwas herabhängender Kopf. Augen verdreht. Regloser Leib, wie im Krampf. Das Röckchen hochgeschlagen bis an die Ränder des Höschens. Variation: kein Höschen, Röckchen hochgeschlagen bis zur Taille. Licht: die Stühle des Eßzimmers sind im Durchgang so aufgestellt, daß sie eine perspektivisch sich verengende Allee darstellen. Ich stehe im ersten Drittel der Strecke, im langen weißen Nachthemd, vor der Brust eine Messinglampe mit Glaszylinder: die Petroleumflamme brennt. Variation: nackt.
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