E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Grüter Magisches Denken
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400703-8
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie es entsteht und wie es uns beeinflusst
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
            ISBN: 978-3-10-400703-8 
            Verlag: S.Fischer
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thomas Grüter wurde 1957 in Münster geboren. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er fünf Jahre lang in Osnabrück, Paderborn und Münster als Arzt, bevor er ein eigenes Softwareunternehmen gründete, dessen Geschäftsführer er war. Er forscht seit 2002 über die Neuropsychologie der Gesichtserkennung und hat darüber eine Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen verfasst. Von 2006 bis 2008 hatte er einen externen Lehrauftrag an der psychologischen Fakultät der Universität Wien und ist seit 2009 Affiliate am Lehrstuhl für allgemeine Psychologie der Universität Bamberg. Seit einigen Jahren schreibt Thomas Grüter populärwissenschaftliche Bücher und Artikel, z.B. für Spiegel Online und Focus. Er lebt und arbeitet in Münster.
Autoren/Hrsg.
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Ausprägungen des magischen Denkens
Keines der bisher aufgezählten Beispiele beschreibt einen wirklichen Zusammenhang, also sollten die Menschen auch keine Intuition dafür entwickeln. Zahlreiche Studien haben aber das Gegenteil nachgewiesen: Beispielsweise glauben Menschen intuitiv daran, dass es öfter regnet, wenn sie das Haus ohne Regenschirm verlassen. Warum foppt uns die Intuition und gaukelt uns Zusammenhänge vor, wo keine sind? Wenn alle Menschen für diese Verzerrung der Wahrnehmung anfällig sind, müssten nicht die Wissenschaft, die Politik oder die Medizin darunter leiden? Dies und einiges mehr wird das Thema der nächsten Kapitel sein. Zunächst aber bedarf es einer Definition des magischen Denkens. Und die ist gar nicht so einfach.
Magisches Denken – die Schwierigkeit einer Definition
Psychologen tun sich schwer mit der Frage, was magisches Denken eigentlich umfasst. Ein Beispiel:
»Der Glaube an die Fähigkeit, Ereignisse aus der Ferne zu beeinflussen, ohne dass eine physikalische Erklärung dafür bekannt wäre, wird magisches Denken genannt.«
Diese Definition stammt aus einer Arbeit von amerikanischen Psychologen im angesehenen aus dem Jahre 2006. Sie wirft allerdings mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Wir leben heute in einer Welt mit vielen unbestreitbaren Fernwirkungen. Rundfunk, Fernsehen, Handys oder drahtlose Computernetze sind Beispiele dafür. Die meisten Menschen sind zu Recht davon überzeugt, ihren Fernseher auf fünf Meter Entfernung mit der Fernbedienung beeinflussen zu können. Denkt der Fernsehkonsument also magisch, wenn er die physikalischen Grundlagen seiner Fernbedienung nicht kennt, oder nur dann, wenn er glaubt, dass sie auf übernatürliche Weise funktioniert? Oder ist sein Glaube völlig egal, solange auf der Welt die physikalische Erklärung kennt?
Viele Menschen neigen dazu, physikalisch erklärbare Fernwirkungen so zu verallgemeinern, dass die Physik ihren Beistand verweigern muss. »Strahlen« und »Felder« sind nun einmal unsichtbar und stehen deshalb im Verdacht, alle möglichen magischen Wirkungen zu entfalten, zum Beispiel chronische Müdigkeit, allgemeines Unwohlsein oder den vorzeitigen Tod von Zimmerpflanzen. Das ist aber eher ein Bauchgefühl und stammt nicht aus einer logischen Schlussfolgerung auf der Grundlage physikalischen Wissens. Andere Forscher sehen deshalb nicht die Physik, sondern das kulturelle Umfeld als Kriterium an. Die Psychologen Danielle Einstein und Ross Menzies definieren magisches Denken als eine von den Mitmenschen nicht akzeptierte Erklärung für eine Ursache-Wirkung-Beziehung. Nach dieser Definition wären die Ideen der Planetenbewegung von Galileo Galilei und von Kepler ein Beispiel magischen Denkens, ganz unabhängig davon, wie sie zustande kamen, denn sie widersprachen dem damals anerkannten Weltbild.
Andererseits sind bestimmte magische Rituale ausdrücklich kulturell anerkannt, sie können sogar gesetzlich vorgeschrieben sein. Zum Beispiel legt das deutsche Grundgesetz die Eidesformel zum Amtsantritt des Bundespräsidenten wortwörtlich fest. Der Eid an {16}sich entspringt bereits magischem Denken, denn er ruft höhere Mächte zu Zeugen eines Versprechens an. Die Festschreibung des Wortlauts macht den Eid endgültig zu einer Zauberformel, die ihre Wirkung nur entfaltet, wenn man sie buchstabengetreu rezitiert. Magisches Denken lässt sich also weder an der Existenz einer physikalischen Erklärung noch am kulturellen Umfeld festmachen. Aber was ist es dann?
Die amerikanischen Psychologen Leonard Zusne und Warren H. Jones haben ein ganzes Buch über magisches Denken geschrieben und sich deshalb sehr viele Gedanken über die Definition gemacht. Sie schreiben:
»Magisches Denken ist der Glaube, dass (a) ein Transfer von Energie oder Informationen allein wegen einer Ähnlichkeit oder einer räumlichen und zeitlichen Nähe stattfinden kann, oder (b) dass Worte oder Aktionen einen bestimmten physikalischen Effekt erzielen können, und zwar auf eine Art und Weise, die nicht von den Prinzipien der normalen Übertragung von Energie oder Informationen beherrscht wird.«
Das klingt ein bisschen wie ein Paragraph aus einer EU-Verordnung, denn die Autoren haben versucht, alle Aspekte und Einschränkungen in einem einzigen Satz unterzubringen. Trotzdem ist die Beschreibung weder vollständig noch richtig. Es fehlt beispielsweise das Prinzip der Weitergabe menschlicher Eigenschaften durch Gegenstände und der Glaube an die Wirkung von Amuletten. Und was ist mit dem Glauben an Wahrsagung, an Zukunftswissen? Außerdem fehlt der Hinweis, auf welche Art der Glaube vom Typ (a) oder (b) zustande kommt, also welche Wege oder Abwege das Denken nimmt, um als magisch zu gelten. Denken ist ein Vorgang, damit hat es einen Ablauf, Zwischenschritte, Übergänge, Pfade. Alle bisher vorgestellten Definitionen urteilen nur vom Ergebnis her. Sie argumentieren also, dass ein Glaube, der nicht der Kultur oder der Physik entspricht, auf magischem Wege entstanden sein muss. Gerade geniale Neuerungen wie zum Beispiel die Quantentheorie {17}oder die Relativitätstheorie würden durch diese Definition in die magische Ecke gedrängt, obwohl sie auf strenger mathematischer Logik beruhen.
Wir entwickeln eine Definition
Wenn wir magisches Denken sinnvoll beschreiben wollen, müssen wir den des Denkens in den Vordergrund rücken, nicht das Ergebnis.
Folgt man der Theorie des amerikanischen Psychologen Seymour Epstein, dann steht langsames, rationales, analytisches und verbales Denken dem schnellen, intuitiven und ganzheitlichen Denken gegenüber, wobei das magische Denken Letzterem entspringt. Mit den Mitteln der Logik, der Vernunft und der Analyse (vom altgriechischen a?a??se?? »auflösen [in Einzelteile]«), einer Portion Unglauben und einer Prise Geduld kann man viele Phänomene erklären, die intuitiv übernatürlich erscheinen. Das intuitive Denken arbeitet schneller, deshalb stammt die erste Beurteilung einer Situation von dort. Wer übernatürliche Ideen grundsätzlich für plausibel hält, wird vermutlich nicht weiter nach rationalen Lösungen suchen. Der Züricher Biologe Peter Brugger und der kanadische Psychologe Roger Graves haben diese Idee Mitte der neunziger Jahre überprüft. Sie gaben Studenten folgende Aufgabe: Auf einem Computerbildschirm sollte die Abbildung einer Maus mit den Pfeiltasten in einem Spielfeld von 3 x 3 Kästchen zur Abbildung einer Mausefalle gesteuert werden. Dort angekommen, stahl die Maus entweder den Käse, oder die Falle schnappte zu. Es ging darum, mit der Maus den Käse zu holen, ohne in die Falle zu gehen. Einzige Regel: Wer mehr als vier Sekunden für den Weg brauchte, sicherte der Maus den Käse, wer schneller war, löste die Falle aus. Der Annäherungsweg war dabei ganz unwichtig. Bei der Aufgabe ging es darum, durch mehrfaches Probieren die Erfolgsregel zu finden. Wie vermutet, überprüften Teilnehmer {18}mit stärkerem Glauben an paranormale Phänomene weniger Lösungsstrategien und waren schneller bereit, an die Richtigkeit von zufälligen, aber falschen Zusammenhängen zu glauben. Zum Beispiel probierten sie einen besonders komplizierten Annäherungsweg – und hatten Erfolg, weil sie beim ersten Mal mehr als vier Sekunden dafür brauchten. Sie wiederholten ihren Weg aber nicht, was eventuell nicht mehr funktioniert hätte, sondern buchten die Strategie gleich als richtige Lösung. Am Ende hatten übrigens nur zwei von vierzig Teilnehmern die Erfolgsregel gefunden. Halten wir als erste Definition also fest:
Die unzureichend überprüfte Annahme von magischen Wirkzusammenhängen ist eine wichtige Voraussetzung magischen Denkens.
Es ist aber nur Voraussetzung, denn nicht jeder Irrtum ist magisch. Zwei Beispiele: Ein Forscher stellt zur Beschreibung eines Zusammenhangs eine mathematische Formel auf, doch sie erweist sich als falsch. Ein Arzt nimmt an, die Depression eines Patienten beruhe auf seinen Lebensumständen, tatsächlich leidet der Mann aber unter einer Fehlfunktion der Schilddrüse, was ganz ähnliche Beschwerden hervorrufen kann. Sowohl Forscher als auch Arzt gehen von einem falschen Zusammenhang aus, aber es wäre verfehlt, hier von magischem Denken zu sprechen. Genauer müsste man also sagen:
Das Festhalten an der Idee, ein Phänomen beruhe auf übernatürlicher Fernwirkung, obwohl man die Möglichkeit einer natürlichen Ursache nicht hinreichend geprüft hat.
Das übernatürliche Element
Das Wort »übernatürlich« ist ein Widerspruch in sich. Geht man davon aus, dass die Wirklichkeit aus Materie und Energie besteht, {19}dürfte es übernatürliche Phänomene nicht geben. Würden sie irgendeine Wirkung auf die Materie ausüben, wären sie (per definitionem) Kräfte. Dies ist die Auffassung der unter den Philosophen. Für sie ist der Geist nur eine Illusion, hervorgerufen durch eine besondere Konstellation der Materie. Die Welt lässt sich durch Naturgesetze vollkommen beschreiben (das heißt aber nicht, dass die Menschen alle Gesetze kennen oder finden können).
Weil aber viele magische Phänomene nach den Naturgesetzen unmöglich sind, setzt magisches Denken ein Weltbild aus geistiger und materieller Welt voraus. Die geistige Welt müsste demnach eigene, weitgehend unbekannte Gesetze haben und auf die materielle Welt einwirken können. Eventuell wäre sogar die Welt des Geistes...




