E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Gstättner Das Geisterschiff
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7117-5186-7
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Künstlerroman
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7117-5186-7
Verlag: Picus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Mann sucht im Süden sein Glück - der erfolgreiche Maler Josef Maria Auchentaller aus dem Kreis der Wiener Secessionisten entflieht dem Trubel der Großstadt in ein kleines Fischerdorf an der österreichischen Adria. Es ist eine Insel außerhalb der Zeit, die vom Untergang Österreich-Ungarns, dem Ersten Weltkrieg, dem italienischen Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg nur am Rande berührt wird. Dort beginnt er langsam in den Schatten seiner Frau zu gleiten, als diese ein Hotel eröffnet und er bald hauptsächlich Werbepostkarten malt. Sein ganzes Herz hängt an der geliebten Tochter. Er will nicht wahrhaben, dass sie den Freitod gewählt hat, will nicht wahrhaben, dass seine Frau ihn betrügt und seine Karriere versandet, einzig der Tod ist ihm allgegenwärtig: Kollegen, Freunde, Bekannte sterben der Reihe nach, und er selbst sehnt sich nach dem eigenen. Fast vierzig Jahre verbringt er so auf seinem Geisterschiff.Ohne ihn wäre die Wiener Secession nicht das, wozu sie wurde: Auchentaller war Gründungsmitglied der Künstlergruppe - und doch ist er heute ihr unbekanntester Vertreter. Egyd Gstättner erzählt voll Esprit ein Künstlerleben im Abseits und erweckt den romantisch Todessehnsüchtigen noch einmal zum Leben.
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2. BILD
SEEBAD GRADO. ÖSTERREICHISCHES KÜSTENLAND
(SILVESTER 1906)
Freude, schöner Götterfunke; das Fortino oder das Plakat Seebad Grado. Österreichisches Küstenland: Was ist nun bis dato mein Hauptwerk? Wenn man einmal über vierzig ist, darf man sich solche Fragen schon stellen! Das Fortino, unser großer Dampfer – fast möchte ich sagen: unsere Titanic –, ist ein Prachtstück geworden! Schöner als wir alle uns das in unseren Träumen ausgemalt hatten – und im Unterschied zur Titanic, die ja erst im Planungsstadium und in den Köpfen der Schiffsbauingenieure existiert und wer weiß wann gebaut wird, ist es wirklich wahr. Das Fortino ist Wirklichkeit! Tatsächlich hat es so viel von einem Hochseedampfer, dass unser Commissär Horst Gasser allen Ernstes vorgeschlagen hat, anlässlich der Eröffnungsfeier eine Schiffstaufe vorzunehmen und eine Flasche Champagner am Fortino zerschellen zu lassen. Meine Emma, die immer bei mir ist und meine Gedanken kennt und denkt, hat das aber zum Glück verhindert. Ich werde mir wegen eines billigen Jokus doch nicht meine Fassaden versauen lassen! Ich will nicht unbescheiden sein. Das Fortino ist ein großes Gesamtkunstwerk. Ich habe nur einen kosmetischen Beitrag geleistet, wenn auch einen wesentlichen kosmetischen Beitrag. Emma ist die Eigentümerin, die Geschäftsführerin, die Chefin. Sie teilt ein, sie schafft an, sie delegiert, sie dirigiert. Und sie macht das alles hervorragend. Ich bin bloß der Künstler an ihrer Seite. Jedenfalls hier sieht man das so. Emma hat der Commissär bei der Eröffnung als Erstes gratuliert. »Liebe gnädige Frau Auchentaller«, hat er gesagt, »Ihr Fortino ist die Wiege und Quelle des Fortschritts in Grado. Wir alle hier sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet! Wir sind sehr stolz, Sie hier bei uns in der Stadt zu haben!« Beim Wort Stadt habe ich mir ein Schmunzeln kaum verkneifen können, aber Giacomo, der Bürgermeister, hat im Hintergrund heftig und dauerhaft genickt. Emmas Eltern sind in der ersten Reihe gesessen und haben gestrahlt wie frische Kronen. Obwohl schon fast siebzig hatte der alte Herr Scheid aus der Gumpendorfer Straße die weite Reise nach Grado nicht gescheut, um die größte Tat seiner Tochter zu bewundern. Von allen seinen Töchtern war Emma die bestimmendste, die wagemutigste, die eigenständigste Persönlichkeit. War das eine glanzvolle Feier damals! Beim Händeschütteln ist Gasser dann doch auch auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könne, dem touristischen Förderungskomitee der Insel beizutreten. Giacomo hat wieder heftig genickt. »Verstehen Sie, Auchentaller«, sagte der Commissär, »es geht doch darum, Grado nach vorne zu bringen!« Ich habe genickt und den Commissär angeschaut und gefragt: »Wo ist denn vorne?« Da tippte mir Gasser mit dem Finger an die Brust, begann schallend zu lachen und rief: »Sie Schlawiner!« Na habe die Ehre! Giacomo lachte schallend, ich lachte schallend und hörte plötzlich zu lachen auf. »Im Ernst«, meinte Gasser, »es wäre eine ganz große Ehre, einen der führenden österreichischen Künstler im Förderungskomitee zu haben, einen Originalsecessionisten, einen der ganz Großen seines Faches!« »Wenn ich Ihnen helfen kann …« »Oh, das könnten Sie, Auchentaller, das könnten Sie …! Ich habe an ein Plakat gedacht, an ein Werbeplakat für die Sommerfrische in Grado. Sie wissen ja, es geht darum, Grado nach vorne zu bringen! Mit dem Plakatmotiv könnte man auch Ansichtspostkarten herstellen und ins ganze Reich verschicken: Machen Sie doch einmal Urlaub am österreichischen Meer! Etwas in der Art.« Ich versprach dem Commissär und dem Bürgermeister, darüber nachzudenken. Ich nahm eines der Hotelboote, ruderte ein bisschen hinaus und sah mir Grado vom Wasser aus an: das Fortino, die Badeanstalt, das große Zeltlager dahinter, und hinter dem Zeltlager wiederum die Ville Bianchi. Mir fiel nichts ein. Ich sah nichts. Das heißt, ich sah nur mit dem einen Auge, dem Alltagsauge, dem Menschenauge. Mit dem Künstlerauge sah ich nichts. Meine Suche nach einem Blickwinkel, nach einem Motiv verlief vergeblich. Man kann das Künstlerauge nicht zwingen zu sehen. Ohne Inspiration geht gar nichts. Der Einfall entscheidet, davon hängt die ganze weitere Schwerarbeit ab! Einfall ist Zufall. Was ich wollte, wusste ich wohl: Etwas ganz Einfaches, Helles, Stimulierendes, Luftiges, vom Wind Herbeigewehtes. Etwas Federleichtes! Aber wo war die Form dafür? Das Leichte ist eben das Schwere! Apropos Wind: Das Meer war ruhig und glatt, als ich hinausfuhr. Ich war ein leidlich guter Ruderer. Das Rudern hatte ich am Grundlsee gelernt. Nun aber kam eine leichte Brise auf, und ich fürchtete mit einem Mal, es könnte sich ein Schirokko daraus entwickeln. Mit dem Schirokko und den Meereswinden und Böen und Stürmen überhaupt hatte ich keine Erfahrung. Ich bin eben letztlich Wiener und Festländer, und gleich bei meinem ersten kleinen Bootsstudienausflug in der Adria ertrinken wollte ich nicht. So machte ich kehrt und ruderte zurück. Als ich das Ruderboot am Ufer festmachte, trafen gerade die ersten Badeärzte im Fortino ein. Ich grüßte und grüßte, es blieb mir ja nichts anderes übrig. Emma – sie ist ein Genie – hatte einen balneologischen Kongress organisiert: der Badearzt als Badegast; der eigentliche Geschäftshintergedanke war aber, dass die Badeärzte in weiterer Folge Badegäste bringen, dass sich die Badegäste durch die Badeärzte sozusagen multiplizieren sollten. Oder um es so zu formulieren: Wo es Ärzte gibt, gibt es auch Patienten. Wenn man bedenkt, dass auch die heilende Wirkung von Sonne und Sand mittlerweile medizinisch bestätigt ist, könnten wir im nächsten Sommer einen Kongress für Sonnenbadeärzte veranstalten, für Sandärzte, für Sandburgbauärzte, Strandspazierärzte, Flirtärzte, Kurärzte, Kurschattenärzte, Kuhschattenärzte. Im Grunde könnte man alles und jedes, was man am Meer unternimmt, »Therapie« nennen: Badetherapie, Sandtherapie, Sandburgbautherapie, Lichttherapie, Bewegungstherapie, Tanztherapie, Kurschattentherapie, Tintenfischtherapie, Rotweintherapie, Grappatherapie …; die alten, ausgemergelten Fischer am Hafen, die ihr ganzes Leben hier im Küstenland verbringen, müssten konsequent gedacht vor lauter Dauertherapie von Geburt an ununterbrochen kerngesund und außerdem unsterblich sein. Aber so darf man eben nicht denken: Wenn man sich an eine Therapie einmal gewöhnt hat, gewöhnt man sich ihren therapeutischen Effekt offenbar wieder ab. Das Paradies ist immer dort, wo man gerade nicht ist. Das heißt: Die Fischer müssten in die Berge! Ob ich meinen Therapiemultipliziervorschlag einmal im touristischen Förderungskomitee zur Sprache bringe? Na, ich blödle so vor mich hin. Aber es hört mich ja keiner. Für einen einsamen Plakatmaler im Dachgeschoß hat keiner Zeit! Für einen einsamen Ehemann hat die geschäftige Ehefrau natürlich auch keine Zeit, wenn zweihundertfünfzehn Balneologen im Haus sind. Das muss man sich einmal vorstellen, was das heißt: Zwei-hundert-fünf-zehn! Da kann man schon ins Schwimmen kommen! Das geht an die Substanz! Das fordert das Letzte! Da muss man Verständnis haben. Da muss man auch einmal zurücktreten können. Das Kindermädchen Monika schaut auf den kleinen Peter. Maria Josepha kommt nachts in unser Bett gekrochen und kuschelt sich zwischen mich und Emma. Tagsüber vergräbt sie sich in ihre Bücher. Mein Goldschatz hat sich zu einer richtigen Leseratte entwickelt! Ich habe ihr versprochen, später einmal, wenn sie größer ist, oben unterm Dach neben meinem Atelier eine kleine Hausbibliothek für sie einzurichten – mit Blick aufs Meer. Es lässt sich wohl denken, dass mich immer wieder Anfälle schlechten Gewissens attackieren ob meiner Untätigkeit inmitten der rasenden Geschäftigkeit. Während alle unermüdlich, nein ermüdlich und sogar bis zur totalen Erschöpfung schuften, schlendere ich im weißen Leinenanzug missmutig durch das Gassengeflecht des Ortes, schaue hierhin und dorthin, lamentiere über meine Einfallslosigkeit und künstlerische Flaute, anstatt Emma zu helfen und mich im Fortino nützlich zu machen. Schließlich habe ich mich doch durchgerungen, wenigstens den Anschein von Interesse an unseren Gästen zu erwecken: Ich bin hinunter in den großen Speisesaal gegangen, der zwischen den Mahlzeiten als Kongresssaal genutzt wurde, habe mich zu den Balneologen gesellt, ihren Vorträgen gelauscht und sie auf den bereitliegenden Bögen Briefpapier mit meinem Fortino-Briefkopf unauffällig gezeichnet. Die Zeichnungen sind Karikaturen geworden, die ich ganz schnell in meiner Tasche verstecken musste: Wie leicht hätte einer dieser bedeutenden Herren beleidigt sein können! Wie schnell hätten alle beleidigt sein können. Ich hätte Emma damit direkt ins Fleisch geschnitten. Als Sommerfrische-Werbeplakate waren die Balneologenkarikaturen natürlich auch nicht zu gebrauchen. Aber was soll ich machen: Badeärzte sind nun einmal Lachnummern. Hoffentlich wird mir mein Hang zu Karikatur und Persiflage nicht noch einmal zum Verhängnis! Damit macht man sich keine Freunde! Man schadet sich auf Dauer nur selbst damit, wenn man die Schadenfreude anderer bedient. Aber wie soll ich aus meiner Haut heraus? Jedenfalls war ich ganz froh, mich wenn auch nur für ein paar Tage davonstehlen zu können und zur Secessionsausstellung nach Wien zu reisen. Zweihundertfünfzehn Badeärzte! Das Haus platzte gleich in der ersten Saison aus allen Nähten. Um den Gästeansturm einigermaßen bewältigen zu können, hatte Emma sage und schreibe siebenundzwanzig Dienstleute eingestellt: siebenundzwanzig Arbeitsplätze für ein armes Fischerdorf! Die Königin von Grado! Die Heilige von Grado!...