E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Guillén 2030
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-455-01256-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt von morgen
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-455-01256-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mauro Guillén, geboren 1964 in Spanien, ist Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe und gilt als einer der einflussreichsten Professoren an der renommierten Wharton Business School in Philadelphia, der ältesten Wirtschaftshochschule der Welt. Er ist Experte für die Herausforderungen der Globalisierung für Gesellschaft und Unternehmen.
Weitere Infos & Material
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Einige Zahlen und Fakten
Einleitung
Vorwort zur deutschen Ausgabe
1 Folge den Babys
2 Siebzig ist das neue Fünfzig
3 Mithalten mit den Singhs und den Wangs
4 Nie wieder das andere Geschlecht?
5 Die Städte gehen zuerst unter
6 Mehr Handys als Toiletten
7 Imagine No Possessions
8 Mehr Währungen als Länder
Schluss
Nachwort
Danksagung
Quellen
Biographien
Impressum
Einleitung
Die Uhr tickt
»Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.«
Wir schreiben das Jahr 2030.
In Westeuropa ist es von Paris bis Berlin ungewöhnlich heiß. Das Ende der Rekordtemperaturen dieses Sommers ist nicht in Sicht, und die internationale Presse gibt sich zunehmend alarmiert. Rehema ist gerade in ihrer Heimatstadt Nairobi gelandet. Sie kommt aus London, wo sie zwei Wochen bei entfernten Verwandten verbracht hat. Da sie Großbritannien durch die Augen von Einwanderern sehen konnte, erhielt sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Welt, die sie dort umgab. Während sie durch den Flughafen läuft, sinniert sie darüber, wie sehr sich ihre Heimat von jenem Land unterscheidet, das vor noch nicht einmal einem Jahrhundert zu den unangefochtenen Kolonialmächten auf dem Kontinent zählte. Sie war schockiert, als sie sah, dass die Briten immer noch Bargeld benutzen. In Kenia ist das Bezahlen mit Smartphones lange schon die Regel, das Smartphone hat die Brieftasche ersetzt. Auf der Heimfahrt scherzt sie mit dem Taxifahrer über die seltsamen Reaktionen der Briten, wenn sie davon sprach, dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr zusammen mit ihren Nachbarskindern eine Online-Schule »besucht« hatte.
Tausende Kilometer entfernt wartet Angel im John-F.-Kennedy-Flughafen von New York auf ihre Zollabfertigung. In zwei Wochen will sie an der New York University einen zweijährigen naturwissenschaftlichen Magisterstudiengang beginnen. Während sie wartet, liest sie die aktuelle , die mit einem Artikel darüber aufmacht, dass in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Geschichte mehr Großeltern als Enkelkinder leben – eine Wirklichkeit, die für Angel in starkem Gegensatz zur Situation zu Hause auf den Philippinen steht. Wie sich herausstellt, vermieten Zehntausende ältere amerikanische Bürger, die sich im Alltag von Robotern unterstützen lassen, einzelne Zimmer in ihren Eigenheimen, um über die Runden zu kommen – vor allem seit die Renten ihnen keine finanzielle Sicherheit mehr garantieren, wie dies so viele Jahre selbstverständlich war. Angel blättert zu einem ziemlich reaktionären Gastkommentar, der sich darüber beklagt, dass amerikanische Frauen mittlerweile einen höheren Anteil am Gesamtvermögen im Land besitzen als Männer, ein Trend, den der Autor des Artikels mit Blick auf die Zukunft der US-Wirtschaft beunruhigend findet. Angel hat viel Zeit. Sie kann fast die ganze Zeitung lesen, da die Schlange für Ausländer lang ist und sich nur langsam bewegt. Gleichzeitig werden US-Bürger und Menschen mit Aufenthaltserlaubnis zügig durch die Kontrollen geschleust. Angel schnappt das Gespräch zweier Männer auf, die sich darüber unterhalten, wie Amerikaner sich bei der Einreise eine ausgeklügelte Blockchain-Technologie zunutze machen. Sie erlaubt es ihnen, die Umsatzsteuer auf Waren, die im Ausland erworben wurden, geltend zu machen und gleichzeitig ein selbstfahrendes Auto zu bestellen, das kurz nach der Gepäckaufnahme bereitsteht.
2020: »China wird in allem die Nummer eins sein.«
Diesen Satz hört man heute oft. Ein weiterer lautet, dass die Vereinigten Staaten und China in absehbarer Zukunft um die globale Vorherrschaft streiten werden. In beiden Behauptungen steckt jeweils ein Körnchen Wahrheit, doch sie zeigen kaum das ganze Bild. Im Jahr 2014 verblüffte Indien die Welt, als es erfolgreich eine Raumsonde in die Umlaufbahn des Mars brachte. Dieses Kunststück war noch keinem Land im ersten Anlauf gelungen. Seit Beginn des Weltraumzeitalters war weniger als die Hälfte aller von den Vereinigten Staaten, Russland und Europa gestarteten Missionen erfolgreich, was Indiens Leistung wirklich herausragend erscheinen lässt. Noch dazu erzielte die indische Weltraumforschung diesen Erfolg mit einem Budget von nur 74 Millionen US-Dollar.
Um einige Vergleichszahlen zu bemühen: Eine einzige Space-Shuttle-Mission verbrennt gut und gerne 450 Millionen US-Dollar. Die Produktion des Films verschlang 165 Millionen US-Dollar, und immerhin 108 Millionen US-Dollar waren nötig, um in ein Kino ganz in Ihrer Nähe zu bringen.
Die Inder bewiesen, dass auch sie über verfügen, um mit einem Buchtitel von Tom Wolfe zu sprechen. Sie zeigten, dass sie eine technologische Macht von Weltformat sind. Die Marsmission war kein Glückstreffer. Tatsächlich war es bereits das zweite Mal, dass Indien an den etablierten Supermächten der Welt vorbeigeprescht war. 2009 erbrachte seine erste Mondmission erstmalig den Beweis, dass es auf dem Erdtrabanten Wasser gibt, »offensichtlich konzentriert auf die Pole und womöglich von Solarwinden gebildet«, wie der berichtete. Die NASA benötigte zehn Jahre, um Indiens Ergebnisse unabhängig zu bestätigen.
Die meisten von uns wuchsen in einer Welt auf, in der die Erforschung des Kosmos ein kostspieliges Unterfangen war, das von Raketenwissenschaftlern entworfen, von den beiden Supermächten, den USA und der UdSSR, mit enormem Aufwand finanziert und von heroischen Astronauten sowie fähigen Spezialisten durchgeführt wurde. Die vergleichsweise komplexe und kostspielige Natur von Raumfahrtmissionen wurde als gegeben hingenommen (wie auch, welche Länder die notwendigen Kapazitäten hatten). Doch diese Wirklichkeit ist heute Geschichte.
Es war einmal eine Zeit, in der die Welt nicht nur fein säuberlich in wohlhabende und rückständige Volkswirtschaften aufgeteilt war, sondern in der es auch viele Kinder gab, in der die Arbeiter die Rentner zahlenmäßig weit übertrafen und Menschen danach strebten, Häuser und Autos zu besitzen. Unternehmen mussten sich nicht mit den Märkten jenseits von Europa oder den Vereinigten Staaten befassen, um erfolgreich zu sein. Gedrucktes Geld war das gesetzliche Zahlungsmittel für alle Schulden, ob öffentlich oder privat. In der Schule hatten wir gelernt, dass es gewisse Spielregeln zu beachten galt. Wir wuchsen in der Annahme auf, dass sich die Regeln dieses Spiels nicht ändern würden, und in diesem Bewusstsein traten wir unsere ersten Jobs an, gründeten Familien, sahen unsere Kinder das Haus verlassen und gingen in Rente.
Diese uns vertraute Welt verschwindet zusehends. Wir sehen uns mit einer verwirrenden neuen Wirklichkeit konfrontiert. Schon bald wird es in den meisten Ländern mehr Großeltern als Enkelkinder geben; in ihrer Summe werden Mittelschichtmärkte in Asien jene in den Vereinigten Staaten und Europa zusammen übertreffen; Frauen werden mehr Vermögen besitzen als Männer; und wir werden feststellen, dass es mehr Industrieroboter als Arbeiter geben wird, mehr Computer als menschliche Gehirne, mehr Sensoren als menschliche Augen und mehr Währungen als Länder.
Das wird die Welt von 2030 sein.
Ich habe in den letzten Jahren darüber geforscht, wie die Welt in einem Jahrzehnt aussehen wird. Als Professor der Wharton School sorge ich mich nicht nur um den künftigen Zustand der Wirtschaft, sondern auch darum, wie Arbeiter und Konsumenten von der Lawine an Veränderungen, die auf uns zurollt, betroffen sein könnten. Ich habe viele Vorträge zu den in diesem Buch vorkommenden Themen gehalten – vor leitenden Angestellten, politischen Entscheidungsträgern und Führungskräften, aber auch vor Studenten und Schülern. Ich habe zudem zu Zehntausenden von Menschen über Social-Media-Kanäle und in Online-Kursen gesprochen. Und immer haben die Menschen mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst auf die Zukunftsaussichten reagiert, die ich vor ihnen ausbreitete. Dieses Buch bietet einen Fahrplan, mit dem man gut durch die vor uns liegenden Turbulenzen kommt.
Niemand weiß mit Sicherheit, was die Zukunft bringen wird. Falls Sie es wissen, lassen Sie es mich wissen – wir werden zusammen richtig viel Geld verdienen. Doch wenn Vorhersagen auch nie hundertprozentig exakt sein können, so können wir doch eine Reihe von relativ sicheren Annahmen darüber aufstellen, was im kommenden Jahrzehnt passieren wird. So ist zum Beispiel die Mehrheit der Menschen, die von den Vorhersagen in diesem Buch betroffen sind, bereits geboren. Wir können ganz allgemein beschreiben, was wir von ihnen als Konsumenten in Abhängigkeit von ihrem voraussichtlichen Bildungsabschluss oder den gegenwärtigen Mustern ihrer Social-Media-Aktivitäten erwarten. Wir können auch mit angemessener Genauigkeit berechnen, wie viele Menschen achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Und wir können vielleicht sogar mit ausreichender Überzeugung vorhersagen, dass ein bestimmter Prozentsatz an Senioren eine Pflegekraft benötigen wird – ob dies ein Mensch oder ein Roboter sein wird, sei dahingestellt. Was Letzteren anbelangt, so können Sie davon ausgehen, dass er verschiedene Sprachen mit mehreren Akzenten sprechen wird, dass er keine Vorurteile hegen, keinen Urlaub nehmen und seine Patienten weder finanziell noch anderweitig ausnutzen wird.
Die Uhr tickt. Das Jahr 2030 ist nicht irgendein ferner Punkt in einer unvorhersehbaren Zukunft. Es wartet gleich um die Ecke, und wir müssen uns sowohl auf die Möglichkeiten, die es bietet, als auch auf die Herausforderungen, vor die es uns stellt, vorbereiten. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Welt, wie wir sie heute kennen,...