Gundar-Goshen | Wo der Wolf lauert | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten, eBook

Gundar-Goshen Wo der Wolf lauert


1. Auflage, neue Ausgabe 2021
ISBN: 978-3-0369-9478-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 352 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9478-9
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Lilach Schuster hat alles: ein Haus mit Pool im Herzen des Silicon Valley, einen erfolgreichen Ehemann und das Gefühl, angekommen zu sein in einem Land, in dem man sich nicht in ständiger Gefahr wähnen muss wie in ihrer Heimat Israel. Doch dann stirbt auf einer Party ein Mitschüler ihres Sohnes Adam. Je mehr Lilach über die Umstände des Todes erfährt, desto größer wird ihr Unbehagen: Ist es möglich, dass Adam irgendwie damit in Verbindung steht?

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1


Am Morgen der Abreise war Adam so aufgeregt, dass ich dachte, er würde gleich vorschlagen, zu Fuß zum Lake Tahoe zu laufen. Die ganze Fahrt über schwatzte er begeistert, in einem Mischmasch aus Hebräisch und Englisch, fragte, wann wir Uri endlich treffen würden, plante, welche Pisten er am nächsten Tag mit ihm abfahren wollte. Die gebuchte Gästehütte hatte zwei Stockwerke und drei Schlafzimmer. Wir vereinbarten, dass Adam oben schlafen sollte, wo die Geräusche seiner Musik und des Fernsehers niemanden störten, und wir und Uri unten. Als Uri eintraf – statt der Daunenjacke trug er eine hochwertige Funktionsjacke –, fürchtete ich im ersten Moment, wir könnten einen Fehler begangen haben. Die Unterhaltung kam nur schleppend in Gang. Wir sprachen über das Wetter, über die Skiausrüstung, über die Staus unterwegs. Immer häufiger trat Schweigen ein. Wir erschraken plötzlich vor der Aussicht, die nächsten drei Tage mit angestrengtem Small Talk zubringen zu müssen. Vielleicht ist das zu eng, sagte ich mir, schließlich seid ihr doch keine echten Freunde, ihr kennt ihn noch nicht mal richtig.

Aber sehr bald erwies sich mein Verdacht als unbegründet. Die anfänglichen Hemmungen waren wie der Korken in der Weinflasche. In den nächsten Tagen kochten, tranken, redeten wir unablässig. Uri besaß die bemerkenswerte Fähigkeit, jedem von uns Eigenschaften zu entlocken, die sonst kaum zur Entfaltung kamen, unter unserem Alltag begraben blieben. Ich begriff das an unserem ersten Abend am See, als Uri Michael zum Kochen animierte. Am Nachmittag waren sie vom Skifahren zurückgekommen, und Uri hatte vorgeschlagen, gemeinsam zum Supermarkt zu fahren und dort alles Nötige für ein opulentes Abendessen einzukaufen. Ich hatte angenommen, Michael würde alles tun, um nicht in der Küche zu landen. Aber zu meiner Überraschung sagte er »jalla« und griff zum Telefon, um ein Rezept zu googeln. Fünf Minuten später waren sie mit Adam unterwegs, und den Rest des Abends verbrachten sie gemeinsam in der Küche, um eine Krebs-Pie mit Blauschimmelkäse zu backen. »Aber wie kann das sein, du kochst doch nicht gern«, sagte ich zu Michael, bereute es jedoch umgehend ein wenig, denn warum sollte ich mich sofort als Türhüterin aufbauen, die aufpasste, dass der vertraute Michael nicht die Grenzen zu anderen Michaels überschritt.

Bei unseren früheren Aufenthalten am Lake Tahoe waren Michael und Adam erschöpft vom Skifahren zurückgekehrt, und wir alle waren früh schlafen gegangen. Aber diesmal blieben wir auf bis spät in die Nacht. Lachten viel. Ich kann nicht mal genau sagen, worüber eigentlich. Ich kam mir interessant vor. Wir alle, schien mir, fanden uns selbst interessant, schöner als in Wirklichkeit. Wir begannen Gespräche, ohne zu wissen, wann sie enden würden. Sagten andere Dinge als sonst. Wir wurden anders in einem Alter, in dem Menschen sich gemeinhin kaum noch ändern. Seine Anwesenheit belebte uns alle.

Mich brachte er dazu, Ski zu laufen. Auf all unseren früheren Reisen hierher war ich vielleicht dreimal Ski gefahren. Ich war mit der Technik vertraut, aber die Geschwindigkeit ängstigte mich, und wenn ich doch mal mit auf die Piste kam, verbrachte ich die meiste Zeit damit, »Vorsicht!« und »Langsam!« zu rufen. Am zweiten Morgen unseres Urlaubs fragte Uri nach dem Frühstück: »Na, kommst du mit?« Adam grinste, amüsierte sich. »Nix zu machen«, antwortete er für mich. »Meine Mutter fährt nicht Ski.«

»Lilach? Stimmt das? Du läufst nicht Ski?« Sein enttäuschter Ton tat mir wohl, aber nicht genug, um mich in den Schnee zu locken.

»Nur in Notfällen«, antwortete ich lächelnd und räumte den Tisch ab.

»Heute wird deine Mutter die Anfängerpisten mit mir fahren«, sagte Uri laut zu Adam, damit ich es hörte, »und morgen geht sie schon mit uns rauf auf die schwarzen.«

Ich ging am nächsten Tag nicht rauf auf die schwarzen Pisten, aber ich fuhr jenen ganzen Morgen mit Uri, fuhr und fiel und schlitterte. »Ich fass es nicht, dass du mich zum Mitkommen überredet hast«, sagte ich, als wir nach langem Gleiten über weiße Hänge – der blaue See mal aufschimmernd, mal verdeckt – unten angekommen waren. Uri lächelte. »Du hast Michael dazu gebracht, zu kochen, Adam dazu, Sport zu treiben, und mich dazu, wieder Ski zu laufen – du bist wirklich gut darin, Menschen anzuschieben.« Meine Worte schienen ihn etwas verlegen zu machen. »Jeder hat etwas, worin er gut und worin er schlecht ist«, sagte er. »Vielleicht bin ich gut darin, Menschen anzuschieben, wie du meinst.«

Ich lächelte. »Michael hat mir erzählt, bei der Armee hätte man dir prophezeit, du würdest mal Generalstabschef werden.«

Ich hatte gedacht, das würde ihn freuen, aber es bewirkte das Gegenteil. Uris strahlende Miene trübte sich schlagartig. »Das Schlimmste, was einem Jungen von achtzehn Jahren passieren kann, ist, dass man ihm sagt, er könne alles erreichen.« Ich schwieg verlegen, wusste jedoch gleichzeitig seine Ehrlichkeit zu schätzen. Da, wo wir lebten, sagten die Menschen einander alles außer der Wahrheit. Der Kuchen, den du Freunden zum Abendessen mitbrachtest, war unweigerlich amazing, auch wenn du aus Versehen Salz statt Zucker reingeschüttet hattest. Und die Kinder waren immer wonderful, auch wenn sie schon einen Monat lang nicht mehr mit dir geredet hatten. Deshalb irritierte mich der Umstand, dass Uri auf dem Weg zur Gondel nicht so tat, als sei alles excellent, zwar ein wenig, nahm mich aber noch mehr für ihn ein.

»Was ist eigentlich mit deiner Familie?«, fragte ich, als wir uns an der Schlange anstellten, um ein weiteres Mal hochzufahren.

Das folgende Schweigen ließ mich befürchten, dass meine Frage unpassend gewesen war, aber als die Gondel kurz darauf einschwenkte, setzte Uri sich zu mir auf die Bank. »Die Versetzung hat uns fertiggemacht«, sagte er und sah aus dem Fenster. »Ich habe mich mit jedem Schekel, den ich hatte, für Orion abgerackert. Tali hat mir gleich gesagt, dass das keine gute Idee sei. Ich hatte eine prima Stelle bei Wix. Sie verstand nicht, warum ich auf Boni und Aktien verzichtete – für ein Start-up, das einen steilen Höhenflug, aber auch eine Bruchlandung hinlegen konnte. Doch ich war sicher, ich würde es schaffen.«

Michael und ich hatten das gleiche Gespräch geführt, vor zehn Jahren. Michael überlegte, ob er die sichere Stelle bei dem Unternehmen aufgeben sollte, um eine eigene Idee in einem Start-up zu entwickeln, und ich hatte mich geweigert, Stellung zu beziehen, wollte nicht diejenige sein, die ihn an der Erfüllung seiner Wünsche hinderte. Sagte ihm, mir sei alles recht. Ich meine, er hat es nicht bereut, letzten Endes bei der Firma geblieben zu sein. Er erklomm die Karriereleiter und erreichte mit den Boni und den Aktien ganz ähnliche Summen wie Israelis, die den Exit schafften. Aber manchmal sah ich, wie er die Männer anschaute, die es gewagt hatten, mit aller Macht ihre Idee umzusetzen, die ihre Ersparnisse eingebracht hatten und nun die Aura eines Superstars im Silicon Valley genossen.

»Zuerst sah es nach der richtigen Entscheidung aus«, sagte Uri, während die Gondel den Hang hinaufschwebte. »Ich hatte einen hohen Betrag von Investoren eingebracht, einen schönen Umsatz erreicht. Aber dann bin ich zu schnell an die Börse gegangen. Es genügt nicht, mit aller Macht loszustürmen, Menschen anzuschieben, du musst auch wissen, wo du hinrennst. Und ich habe uns glatt in den Abgrund laufen lassen.«

Uris grüne Augen schweiften über den verschneiten Hang, der tief unter uns lag, getupft mit einzelnen Tannen. Ich dachte, er hätte fertig gesprochen, aber kurz vor der Bergstation fügte er leise hinzu: »Ich sehne mich nach den Kindern. Deshalb habe ich diesen Kurs aufgezogen, konnte die Stille im Haus nicht mehr ertragen.«

»Und hast du nicht daran gedacht, nach Israel zurückzukehren?«

Er zog einen Handschuh aus. Seine große Hand war rot vor Kälte. »Wir haben hier ein Haus gekauft, vor der Krise. Wir stecken finanziell ein bisschen in der Patsche, deshalb meinten wir, ich sollte lieber hierbleiben und das zu regeln versuchen.« Er zog den Handschuh wieder an. Seine Antwort war sauber und offen wie der Schnee ringsum – etwas Weißes und Kaltes, das einfach so dalag. »Und du«, Uris Augen fixierten mich, »hast du mal daran gedacht, was gewesen wäre, wenn ihr nach Israel zurückgekehrt wärt?«

Ich lächelte. Sagte ihm, das sei die Art von Fragen, die man nicht stellen dürfe, weil man sich danach nur schlecht fühle.

»Warum schlecht?«

»Weil man dann sehr schnell weiterfragt, was aus mir geworden wäre, wenn wir in Israel geblieben wären.«

»Ja, und …?«

»Vielleicht hätte ich meine akademische Laufbahn fortgesetzt, eine Stelle an einer Hochschule gefunden. Vielleicht hätte ich einen Verlag dafür bezahlt, dass er meine Doktorarbeit herausbringt, hübsch gebunden und mit Buchpräsentation in einer Galerie in Jaffa.« Nach kurzem Zögern fuhr ich fort: »Aber dazu muss man das Leben mit beiden Händen anpacken, und ich bin nie der Stürmertyp gewesen. Ich habe es nicht geschafft, eine Planstelle zu ergattern, von einem Lehrstuhl ganz zu schweigen. Als Michael zum zweiten Mal eine Versetzung angeboten wurde, war ich fast froh, das Rennen aufzugeben.«

Ich verriet ihm nicht, dass ich damals anfing, jene Frauen zu beneiden, die mich zuvor abgeschreckt hatten – die untätigen. Als ich mein Postdoktorat abbrach, warnte meine Mutter mich, dass ich es noch bereuen würde, aber nach meinem Misserfolg im akademischen Bereich, und vor allem nach dem, was mit Ofri passiert war, wollte...


Achlama, Ruth
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit Löwen wecken ihr zweiter Roman, der international für Furore sorgte und zurzeit als TV-Serie verfilmt wird. Lügnerin, ihr dritter Roman, erschien 2017. Nachdem sie mit ihrer Familie einige Zeit in Kalifornien wohnte, lebt sie nun wieder in Tel Aviv.

Gundar-Goshen, Ayelet
Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Ihrem ersten Roman Eine Nacht, Markowitz (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit Löwen wecken ihr zweiter Roman, der international für Furore sorgte und zurzeit als TV-Serie verfilmt wird. Lügnerin, ihr dritter Roman, erschien 2017. Nachdem sie mit ihrer Familie einige Zeit in Kalifornien wohnte, lebt sie nun wieder in Tel Aviv.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen, 2015 folgte der Bestseller , für den, genauso wie für(2017), eine Filmadaption in Planung ist. Zuletzt erschien bei Kein & Aber (2021). Ayelet Gundar-Goshen lebt in Tel Aviv.

Ruth Achlama, 1945 in Deutschland geboren, übersetzt hebräische Literatur renommierter Autorinnen und Autoren ins Deutsche. Für Kein & Aber hat sie mehrere Romane von Ayelet Gundar-Goshen, Yishai Sarid, Dori Pinto sowie Daria Shualy ins Deutsche übertragen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Ruth Achlama lebt in Tel Aviv.



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