E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Gurt Helvetia 1949
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96041-681-4
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-96041-681-4
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Chur im Visier des Bösen
Chur 1949: Während der Festlichkeiten des Eidgenössischen Schützenfestes wird der Stadtpräsident erschossen aufgefunden. Neben ihm liegt die Leiche der besten Schützin der Schweiz. Alles deutet darauf hin, dass sie die Täterin ist, die sich danach selbst gerichtet hat. Doch die Spur führt Landjäger Caminada in die Schlucht am Stadtrand, ins ominöse Quartier Täli, für dessen Bewohner andere Gesetze zu gelten scheinen. Zwischen Altstoffhändlern, Gastarbeitern und Trödlern entdeckt er in einem verruchten Tanzlokal Hinweise, die ihn erschaudern lassen. Dann wird eine weitere Tote im Bergwald der Schlucht gefunden ...
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Die St. Martinskirche schlug neun Uhr, als durch die östlich gelegenen Fenster des Landjägerkorps die Morgensonne ihre Strahlen warf, während Caminada und Marugg im Arbeitszimmer von Major Kübler an dessen Besprechungstisch hockten. «Meine Herren, einen solchen Mord können wir fünf Tage vor dem Eidgenössischen wahrlich nicht brauchen. Der im Siebenundvierzig, an dieser Flurina Hassler, hat ja gezeigt, in welchem Durcheinander alles enden kann.» Der drei Jahre vor seiner Pension stehende Major legte mit strenger Miene den Bericht vor sich auf den Tisch, den Erkennungsfunktionär Marugg trotz kurzer Nacht in aller Herrgottsfrühe verfasst hatte. Dies in drei Durchschlägen und im besten Beamtendeutsch. «Nun ja», Kübler blickte Caminada, dann Marugg an, «hoffen wir, die Neue Bündner Zeitung bringt es nicht allzu gross. Wind bekommen die ja sowieso davon.» Sein Blick ging wieder zu Caminada. «Walter, was gedenkst du nun zu tun?» Landjäger Caminada, der als einziger Beamter im Korps weder Schnauz noch Bart trug, im Bubigesicht von Marugg wuchs zu dessen Leidwesen nichts, strich sich übers wohlrasierte Kinn, das nach seinem Rasierwasser Pitralon duftete. Viel geschlafen hatte auch er nicht, doch für einen Kaffee und einen Teller Rösti am Morgen hatte es gereicht. «Es ist auch ohne Bericht von Dr. Bargätzi klar, dass wir wegen Mordes ermitteln müssen.» «Ja, heiligs Verdiana, ist der denn noch immer nicht bei der Leichenschau? Auf was wartet der? Dass die aufersteht und zu ihm marschiert? Nun ja, Selbstmord wäre mir in dieser Situation allemal lieber gewesen.» Major Kübler zog die dichten Augenbrauen grimmig zusammen, dabei schüttelte er – weil er es nicht fassen konnte – seinen Kopf und fuhr sich mit der Rechten über sein kurz geschnittenes graues Haar. Seine stramme Körperhaltung drückte noch immer den feurigen Militaristen in ihm aus, fand Caminada, als er ihn ansah, und so benahm sich der drahtige Kübler auch, der ausser in der Kirche zu jedem Anlass seine Uniform trug. Er legte sehr grossen Wert darauf, dass sie dabei wie frisch gebürstet aussah: mit der Doppelreihe silberner Knöpfe, die glänzten wie poliert, den goldenen Majorsstreifen in den Achselschlaufen und dem schwarzen Ledergurt. Major Kübler, der einen nach oben geschwungenen Schnauz trug, den er immer wieder zwirnte, war auch ein glühender Patriot. Er hätte am liebsten gehabt, dass die fünfzehn Mann des Korps in Chur bei jedem Dienstantritt vor der Schweizer- und der Bündnerfahne, die vor dem Gebäude auf dem kleinen Platz wehten, stramm gestanden und zur Landeshymne salutiert hätten. Darüber machten sich die hundertachtzig Landjäger, die auf die hundertfünfzig Talschaften im Kanton verteilt waren, hin und wieder lustig. Letztes Jahr hing deswegen an der Jahresversammlung ein Majorshut auf der Fahnenstange, und ein Apfel lag am Boden, in Anlehnung an den Hut Gesslers und Wilhelm Tell. Humor aber besass Kübler genauso wenig wie Unpünktlichkeit. Er liess deshalb tatsächlich den Fall untersuchen, den Apfel und Hut beschlagnahmen, als wäre ein Verbrechen geschehen. Schnell musste er aber davon Kenntnis nehmen, dass das ganze Korps zusammenhielt und die Spitzbuaba unter ihnen, die dies ausgeheckt hatten, deckten. «Bis wenige Minuten vor dieser Unterredung ist der Bargätzi mit Sicherheit noch nicht im Kreuzspital aufgetaucht, Major», knüpfte Caminada an die letzte Frage an, «denn ich hatte dort angerufen und mit meiner Frau Menga telefoniert. Aber nochmals, ich vertraue ganz auf unseren Erkennungsfunktionär Marugg, und von daher müssen wir sowieso Ermittlungen in Hinsicht eines Mordes eröffnen.» Kübler stand erzürnt hinter dem dunkelhölzernen Besprechungstisch auf und nahm an seinem klobigen Schreibtisch Platz, auf dem ein schwerer, sperriger Telefonapparat thronte. Obwohl der Zweite Weltkrieg schon bald vier Jahre zu Ende war, hing hinter ihm noch immer das Porträt von General Guisan an der Wand. «Nun gut, Walter. Also, was wollt ihr unternehmen, bevor die ganze Sache zum noch grösseren Problem wird?» Einmal mehr schien es Caminada, dass Kübler dem jungen Marugg wenig Beachtung schenkte, der nicht nur vom Aussehen die neue Zeit verkörperte, während Kübler der alten nicht nur nachtrauerte, sondern die neue teilweise noch immer zu verhindern suchte. «Peter und ich hören uns heute Morgen im Täli um. Die Geheimnisse dort hinten spült selten die Plessur aus dem Talschlitz und die aus der Roten Laterne erst recht nicht.» «Tut das. Die Behörden von Araschga-Churwalden machen ja auch keinen Streich, um das gottlose Treiben in der Spelunke unter Kontrolle zu bekommen, und wir dürfen uns wieder mal erst bei Verbrechen gegen Leib und Leben einschalten so wie jetzt. Übrigens, vor wenigen Tagen soll diese Tänzerin aus Zürich angereist sein, wie mir Dr. Poltera vom Organisationskomitee des Eidgenössischen anlässlich der letzten Koordinationssitzung berichtet hat. Die macht so einen Nackedeitanz. Die soll Gluschtige während des Schützenfestes ins Täli locken, damit die ihre Geldseckel leeren. Pfui Teufel, beschmutzt so unseren Ruf und den des Eidgenössischen obendrauf, während dabei die ganze Schweiz auf uns blickt. Da könnten ja Ausserkantonale meinen, wir vom Landjägerkorps kämen unserer Pflicht nicht nach.» Der Major hob nach diesen Worten grimmig den schweren Telefonhörer von der Gabel und wählte die 227, Bargätzis Nummer in dessen Wohnhaus, in welchem dieser im ersten Stock auch praktizierte. Nach vergeblichem Klingeln legte er genervt auf. «Der hat halt an einem Samstag schon Sonntag. Hockt sicher irgendwo beim Zmorge und lässt es sich wieder mal gut gehen.» Er schritt über den aufknarzenden Holzboden zur Tür. «Fräulein Rosemarie», rief er durch den Gang seine Sekretärin, die eiligen Schrittes postwendend erschien. «Rosemarie, sagen Sie einem der Hilfspolizeimänner, er muss den Bargätzi herholen. Er soll auch in der Schmiedstube, im Franziskaner und im Café Buchli einen Blick reinwerfen, denn wenn wir dort anrufen, lässt der Khaib seine Anwesenheit doch wie immer verleugnen. Ach ja, und auch im Weissen Kreuz, da geht der neuerdings hin.» Fräulein Rosemarie Niedermaier, die von allen Beamten geschätzt wurde, hatte ihren Fünfzigsten hinter sich und arbeitete schon viele Jahre für den Major. Sie hatte nie geheiratet und war deshalb kinderlos geblieben und war die einzige weibliche, dazu noch gute Seele für die wackeren Landjägermannen. Rosemarie unterstützte sie in allem, was ihr möglich war, als wären die Landjäger ihre Familie, was ein Stück weit auch so war. Bevor Marugg vor zwei Jahren vom Städtischen Polizeiamt zum Landjägerkorps wechselte, war Fräulein Rosemarie es gewesen, die Caminada bei allem Schriftlichen den Rücken freihielt und ihm Anzeigen und Protokolle vorlas, wenn’s wieder mal pressierte. «Wird sofort erledigt, Herr Major», antwortete sie und richtete vor dem Gehen ihre Brille, die etwas gross in ihrem mageren Gesicht schien und daher mehr schief als gerade in diesem sass. «Und was die Stola betrifft», fuhr Caminada fort, als der Major wieder an den Tisch zurückkehrte und Marugg diese aus der Tasche zog und vor ihm auslegte, «da werden wir auf dem Hof vorstellig werden müssen.» Er zeigte auf das aus Gold gestickte Kreuz und den Kelch. «Sie ist reich bestickt. Es muss einen Grund haben, dass sie zur Tatwaffe wurde.» Kübler blickte auf die Stola, als könne er aus ihr lesen. «Landjäger Caminada …», Caminada wusste, so fingen Sätze an, in denen der Major unmissverständlich seine Meinung kundtun wollte, «du weisst, ihr alle wisst, wie sehr ich Katholik aus ganzem Herzen bin. Einst war ich ein stolzes Mitglied der Schweizergarde am Heiligen Stuhl von Pius dem Zehnten. Und wer diese Jahre erlebt hat, wer einmal dem Papst die Hand reichen durfte, wird dies ein Leben lang nicht vergessen. Ich werde euch direkt zu Bischof Kamber schicken, nachdem ich ihn gesprochen habe. Das mit der Stola muss diskret behandelt werden. Stellt euch bloss die Schlagzeilen vor, so kurz vor dem Eidgenössischen. Es käme zudem einem Generalverdacht gegenüber allen katholischen Priestern und Gelehrten in Chur und Umgebung gleich und wäre für einige Protestanten ein gefundenes Fressen.» Caminada konnte dieses Argument zwar gut nachvollziehen, und daher hatte er auch die anderen Beamten am Tatort zur Verschwiegenheit aufgerufen, doch die Frage stand im Raum: Was für einen Bezug hatte diese Stola zu der Tat? Denn so ohne Weiteres kam niemand an ein solches Würdenzeichen, und um jemanden zu erhängen, hätte ein einfacher Strick gereicht. Mit dieser Art, ein junges Fräulein zu töten, war unweigerlich auch eine Botschaft des Täters verknüpft, ob gewollt oder getrieben, müssten sie feststellen. Gegen zehn Uhr erreichten Caminada und Marugg das Täli. Der Sturm der letzten Nacht hatte Äste und Blätter zusammen mit Müll auf die Sandstrasse geweht. Der von einem Ross gezogene städtische Kübelwagen kam nur alle vierzehn Tage, und so überquoll der Abfall neben den Ochsner-Kübeln aus Stahlblech. Am Strassenrand häufte sich der Unrat vor den Häusern, deren Bewohner sich nicht an die Vorschriften hielten und diesen nicht erst am Abfuhrtagmorgen an den Strassenrand stellten. Deshalb hatte der Stadtpräsident im letzten Sommer angeordnet, dass die Müllabfuhr das Täli aussen vor liess, um die Bewohner zu Disziplin zu erziehen. Doch nachdem sich die Abfallberge vor den Häusern weiter türmten und noch schlimmer zu stinken begannen, wurde der ganze Unrat während einer Nacht- und Nebelaktion von diesen in die Plessur geworfen. Dieser Müll wurde aber nicht restlos von der Plessur in den Rhein abgeführt, sondern stank an den...




