Gysi / Diestel / Schütt | Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Gysi / Diestel / Schütt Zwei Unbelehrbare reden über Deutschland und ein bisschen über sich selbst

Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8412-3801-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-8412-3801-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gysi und Diestel. Zwei Rechtsanwälte, zwei gelernte Rinderzüchter. Zwei aus dem Osten, die in den Westen gingen. Zwei aus der Politik. Der eine links, der andere konservativ: Gysi war letzter SED-Vorsitzender und Protagonist der Linken, Diestel der letzte Innenminister der DDR, dann CDU-Abgeordneter in Brandenburg, später parteilos.

In Gesprächen mit dem Journalisten Hans-Dieter Schütt entfalten sie die jüngste deutsche Geschichte, die eng mit ihren eigenen verknüpft ist, und blicken auf das vereinte Deutschland - so kritisch wie zuversichtlich. Dabei entsteht noch einmal jene wilde Phase nach 1989, als das Unerwartete Wirklichkeit wurde: Vieles änderte sich, Widersprüche bleiben.



GREGOR GYSI, geboren 1948 in Berlin, war jüngster Rechtsanwalt der DDR, vertrat Bürgerrechtler wie Rudolf Bahro. 1990-2002 und 2005-2015 war er Fraktionsvorsitzender der PDS bzw. der Linkspartei im Bundestag. Seine Bücher 'Ein Leben ist zu wenig' und 'Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi' sind Bestseller. PETER-MICHAEL DIESTEL, geboren 1952 in Prora, war 1978-1989 Leiter der Rechtsabteilung der Agrar-Industrie-Vereinigung Delitzsch. Als Innenminister vertrat er die DDR bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag 1990. Heute leitet er eine Anwaltskanzlei in Zislow und ist Autor erfolgreicher autobiographischer Bücher. HANS-DIETER SCHÜTT, geboren 1948 in Ohrdruf, ist Publizist und Autor zahlreicher Biographien und Gesprächsbücher.
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Der Mantel, falsch geknöpft, wärmte trotzdem


PETER-MICHAEL DIESTEL:

Wenn mein iPhone klingelt, ertönt die DDR-Hymne.

GREGOR GYSI:

Interessant wäre, wenn noch jemand zur Hymne aufstünde.

Brombeeren, Dornröschen, CDU. • Zu wenige Rambo-Filme gesehen – ist das schon Kulturlosigkeit? • Die letzte Rede von Angela Merkel. • Ein Korb mit Wein und Brot statt geballter Fäuste. • Stalin steht im Garten. • Diese eine Postkarte aus Theresienstadt. • Sehnsucht nach der LPG-Jahreshauptversammlung. • Der Distelfink im Familienwappen. • Provinzler in New York, Weltbürger in Anklam.

GYSI: Blühende Landschaften. Gutes Thema. Du knurrst?

DIESTEL: Ein bisschen. Aber deshalb findest du es doch gut, das Thema. Eben weil ich knurre. Ja, zugegeben, mit diesen blühenden Landschaften, die Helmut Kohl für den Osten beschwor, gab es Probleme.

GYSI: So mild kann man das auch sagen. Vielleicht hat er sich nur falsch ausgedrückt. Er wollte den Ostdeutschen mitteilen, was ihnen noch so alles blüht.

DIESTEL: Zum Beispiel der Flachs der westdeutschen Geschichtsschreibung?

SCHÜTT: Achtung, Kalauer-Alarm!

DIESTEL: So weit soll es also kommen: Du willst, dass ich Helmut Kohl kritisiere.

GYSI: Blühende Landschaften, das war Marketing.

DIESTEL: Nicht nur, Gregor. Zur Wahrheit gehört, dass es diese Landschaften gibt. Vergiss doch nicht, woher wir kommen. Der Osten ist heller geworden. Geh in die Innenstädte, steig in die Flüsse, bewundere die Kirchen und tritt auf den vielen neuen Fahrradwegen in die Pedale.

GYSI: Und die Seelenlandschaften, was ist mit denen?

DIESTEL: Du schaffst es immer wieder, dass ich mich relativieren muss. Es stimmt: Volle Läden, toll, aber vielfach eben auch: leere, verletzte Seelen …

SCHÜTT: Herr Gysi, in Ihrer Autobiographie Ein Leben ist zu wenig fragen Sie: »Wie vertragen sich in der Politik Wahrheit und Werbung? Wie viele Probleme wollen die Menschen von Regierenden aufgebürdet bekommen?«

GYSI: Die Frage beschäftigt mich. Oskar Lafontaine wollte 1990 Kanzler für die SPD werden, Kanzler Helmut Kohl trat erneut für die Union an. Lafontaine veranschlagte hohe Kosten für die Gestaltung der deutschen Einheit. Kohl widersprach, er prophezeite die besagten blühenden Landschaften. Zwei Fragen: Wer hatte recht? Wer wurde gewählt? Da ist es, das Kalkül. Es geht in der Politik um Mehrheiten, nicht um Wahrheiten.

DIESTEL: Klar, Kohls Angebot damals war deutlich mächtiger und vielversprechender als Lafontaines Warnung. Es war für alle bequemer. Kohl suggerierte, alles käme wie von selbst.

GYSI: Menschen wählen lieber Wünsche als Realitäten.

SCHÜTT: So wie prinzipiell im Leben: Ehe wir etwas laut und deutlich sagen, träumen wir es lieber.

GYSI: Das stimmt nur zum Teil. Das wäre ja das Ende aller Opposition und Courage.

DIESTEL: Nichts kam nach der Einheit von selbst, aber es kam doch einiges vom Westen, das muss man doch sagen, und es kam auch Gutes, Neues.

GYSI: Ist ja auch gut, dass wir träumerisch veranlagt sind …

DIESTEL: Wir haben Hoffnungen und können die leider selten unterscheiden von Illusionen.

GYSI: Wie schön, wenn das ein Ehemaliger der CDU sagt.

DIESTEL: Du weißt es wohl besser? Immer schon im Voraus? So tut ihr Linken gern, aber so läuft’s doch nicht, bei niemandem. Ich muss heute zugeben: Ich hatte Illusionen, mit der DSU, mit der CDU, ja …

SCHÜTT: Aber?

DIESTEL: Anders kommst du kaum durchs Leben, wenn du was erreichen willst und ein großes Ziel hast. Risiko! Risiko!

GYSI: Und Ehrgeiz. Ehrgeiz und – ja, Risiko. Aber das darf man nicht automatisch auch anderen aufbürden. Also Vorsicht!

DIESTEL: Automatisch? Mut und Vorsicht, krieg das mal so mit der Politik zusammen, dass beides noch seinen Namen verdient.

SCHÜTT: Und der Mut nicht zur Dummheit und die Vorsicht nicht zur Feigheit wird.

DIESTEL: Es gibt Momente, da kannst du auch nicht unterscheiden, ob da wirklich deine innere Stimme spricht oder du nur einer Einflüsterung folgst.

SCHÜTT: Einflüsterungen können was Reizvolles haben.

DIESTEL: So ist es. Das ist wie ein Lockruf, den man aus dem Nebel heraushört. Ich will doch wissen, was hinter den stachligen Brombeerbüschen ist, dort, wo Dornröschen auf meinen Kuss wartet. Oder auf deinen, Gregor (lacht).

GYSI: Du strapazierst ungebührlich meine Phantasie: Brombeeren, Dornröschen, CDU. Und dann auch noch Diestel als Prinz. Das ist der Beweis: Nicht jedes Märchen endet gut.

***

SCHÜTT: Ost. West. Die Klischees stehen wie Beton und strotzen nur so vor Unnachgiebigkeit.

DIESTEL: Westdeutsche Sozialisation, das heißt vermeintlich Weltoffenheit, Umweltbewusstsein, Freiheitsempfinden, Unternehmungslust. Ostdeutsch heißt gemeinhin: weibliches Selbstbewusstsein (gut), staatshöriges Denken (schon weniger gut), dazu eine gewisse Gehemmtheit (schlecht) und ein versteckter bis offener Rassismus (ganz schlecht).

SCHÜTT: Da steht sich was gegenüber, noch immer, gepanzert mit den immergleichen Schlagworten.

DIESTEL: Der politische Westen behandelt die Ostdeutschen nach wie vor so, als müssten sie integriert werden. Integriert! Die Unverschämtheit muss man sich mal vorstellen! Friedrich Merz hat im Sommer 2023 diese Vokabel tatsächlich verwendet, in einem Fernsehgespräch über aktuelle Aufgaben der Politik, speziell der CDU.

SCHÜTT: Die Publizistin Sabine Rennefanz schreibt: »Wenn man die Debatte betrachtet, gibt es zwar ständig neue Diskursprodukte, aber sie sind oft einseitig auf den Osten fokussiert und adressiert, nicht auf Deutschland.«

DIESTEL: Wer adressiert, wer fokussiert? Die Altdeutschen.

GYSI: Die Westdeutschen.

DIESTEL: Die Altdeutschen. Es ist perfide, wenn man vom goldenen Balkon des westlichen Demokratieverständnisses die Ostdeutschen bewertet. Aber das genau ist es doch, was wir noch immer erleben.

GYSI: Gold ist gut. Schriftsteller Ingo Schulze nennt den Westen, im innerdeutschen Verhältnis, den »Goldstandard«. Bittere Ironie. Er schreibt das im Jahr 2024!

SCHÜTT: Frank Castorf erzählte mir vor Jahren von einem Fest in Husum. Seine älteste Tochter ging dort auf ein Internat. Junge Leute kurz vorm Abitur feierten mit ihren Eltern. Castorf: »Ein unglaublich manifestes Kleinbürgertum, ich saß fassungslos dabei. Eine Kapelle spielte, also im Vergleich dazu wären Fips Fleischer und Alfons Wonneberg aus der DDR Giganten des intelligenten Showorchesters gewesen. Diese Jetzt-haun-wir-auf-die-Pauke-Mentalität, dazu Michael Jackson in einer beleidigenden, Furcht einflößenden Instrumentierung. Und dann holen sich diese jungen Leute am Büfett ihr Schnittchen und sagen, dieser Abend sei doch eine gelungene Veranstaltung. Ich glaube, diese Husumer Mentalität der künftigen Bankkaufmänner beherrscht die Bundesrepublik. Man will etwas sein, was man nie einlösen wird: ein wirklich gelingendes Ich. Man kommt sich weltläufig, offen und kreativ vor und wagt sich schon weit hinaus, wenn man zum zweiten Mal ans Büfett geht. Alles okay. Alles wie überall. Nur: Für diese Atmosphäre sollen Ostdeutsche Dankbarkeit zeigen? Natürlich gehört zur Wahrheit, dass auch die alte DDR-Miefigkeit in solchen Kreisen ihren neuen muffigen Hort fand und findet.«

DIESTEL: Die Typen, die da beschrieben werden, stehen im ganzen Land mittags an der Rewe-Kasse und holen sich ihren ganz gesunden grünen Salat, und danach donnern und ducken sie sich weiter durch den Tag, alle im gleichen Anzug, alle mit dem gleichen Aktenköfferchen, es sind schmächtige, sich windende Tarzans im Dschungel der Sachzwänge. Sachzwang frisst Menschen. Wenn die eine Sternschnuppe sehen, wünschen sie sich nichts. Die suchen Sternschnuppen, ja, aber auf ihren iPhones. Die können auf ihren Laptops auch alle Katastrophen dieser Welt durchspielen. Nur die notwendigen Tränen dazu haben sie nicht.

SCHÜTT: Kommen die alle wirklich nur aus dem Westen?

DIESTEL: Nee, aber sie sind der Westen. Wir sind auch der Westen! Füge ich etwas leiser ...



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