E-Book, Deutsch, Band 61, 294 Seiten
Reihe: Classica Monacensia
Hähnel Studien zur narrativen Technik des Dionysios von Halikarnass
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-381-12093-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 61, 294 Seiten
Reihe: Classica Monacensia
ISBN: 978-3-381-12093-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Caroline Hähnel studierte Lateinische und Griechische Philologie sowie Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Autoren/Hrsg.
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2 Zur Forschungsgeschichte
Bei der Beschäftigung mit Dionysios fällt zunächst auf, welch geringe Aufmerksamkeit ihm von Seiten der philologischen Forschung über die Jahrhunderte zuteilgeworden ist, zumal wenn man die Anzahl der Studien mit denen zu anderen griechischen Historikern wie etwa Herodot und Thukydides vergleicht. Zudem wurde überwiegend eine scharfe Trennung vorgenommen zwischen dem Historiker Dionysios und dem Literaturtheoretiker Dionysios, obgleich die und die aufs Engste miteinander verknüpft sind und eine separate Interpretation somit stets unvollständig bleibt. Doch nicht nur das Geschichtswerk stand im Schatten von Autoren, die man als bedeutender empfand, auch die Auseinandersetzung mit seinen literaturkritisch-rhetorischen Schriften war lange Zeit wenig umfassend und kann sich in keiner Weise mit der Erschließung beispielweise der ciceronischen Schriften zur Rhetorik messen, was umso erstaunlicher anmutet, als wir Dionysios das umfangreichste Corpus zu stilistisch-rhetorischen Fragestellungen aus der gesamten griechisch-römischen Antike verdanken. Zudem bietet sein Werk einen einzigartigen Zugang zum Verständnis des in der augusteischen Zeit vorherrschenden Klassizismus-Diskurses, an dem sich sowohl griechische Intellektuelle in Rom als auch römische Denker beteiligten. Diese Einsicht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten allmählich durchzusetzen vermocht, nachdem Dionysios zumeist unterschätzt und verkannt wurde, in seinen Abhandlungen zur Literatur und Rhetorik als unorigineller Kompilator und in seinem Geschichtswerk als langatmiger Erzähler galt, dem mehr an rhetorischer Effekthascherei als an Wahrheit und Aussage gelegen habe.
Im 19. und bis hinein ins frühe 20. Jahrhundert war sein Name innerhalb der Altertumswissenschaften vergleichsweise geläufig, seine Schriften dienten mitunter als Gegenstand philologischer Inaugural-Dissertationen, welche sich bisweilen mit Spezialfragen befassten, bisweilen auch lediglich eine Aufarbeitung und Darlegung aller eruierbarer Fakten über Leben und Werk darstellten.
Eine wichtige Grundlage für die spätere Dionysios-Forschung schufen Ludwig Radermacher und Hermann Usener mit der mehrbändigen Teubner-Edition der , die von 1899 bis 1929 publiziert wurde und deren Praefatio erstmalig eine ausführliche Darstellung der handschriftlichen Überlieferung beinhaltet. Ihnen vorangegangen war bereits Karl Jacoby mit seiner Teubneriana der , deren Bände zwischen 1885 und 1905 erschienen.
Gleichwohl war der Anteil an wissenschaftlicher Auseinandersetzung, der auf seine Texte entfiel, im Vergleich mit anderen Autoren eher gering und sein Ansehen nicht größer, wie in den 1830er Jahren ein Candidat aus Frankfurt am Main bezeugt: „Optimo jure miretur aliquis, quid sit quod, quum omnes fere alii, quos Romana Graecave tulit antiquitas scriptores, nostro tempore diligentissimos doctissimosque interpretes et quasi tutores nacti sint, unus Dionysius Halicarnassensis quinquaginta abhinc aut etiam plures annos fere prorsus contemtus jaceat atque abjectus.“ Hauptuntersuchungsgegenstand waren bereits zum damaligen Zeitpunkt die literaturkritisch-rhetorischen Schriften, die betrachtete man überwiegend als bloßes Anhängsel dieser Texte, etwas, das Dionysios eben „auch noch“ geschrieben habe, das aber nicht weiter ernst zu nehmen sei und hinter den an Bedeutung weit zurückstehe.
Waren somit bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch vereinzelte Studien zu Dionysios erschienen, so begann die Auseinandersetzung ab dem frühen 20. Jahrhundert drastisch zu erlahmen und, so sie überhaupt stattfand, in polemischer und zum Teil sehr emotionaler Weise geführt zu werden. Hierfür ist der Grund hauptsächlich in dem vernichtenden Artikel aus der Feder Eduard Schwartz' für die Pauly-Wissowa’sche Realencyclopädie der classischen Alterthumswissenschaften zu suchen, welcher im Jahre 1903 publiziert wurde und dessen negatives Urteil über den Historiker für die Dionysios-Rezeption der folgenden Jahrzehnte verderblich wurde. Dionysios wird darin in allen denkbaren Aspekten abgekanzelt; Hauptkritikpunkt der ist ihre als allzu groß empfundene Nähe zur Rhetorik. Für den deutschen Gelehrten stellen sie nichts dar als die unwürdige Fingerübung eines emotionslosen Dilettanten an einem an und für sich erhabenen Gegenstand: „Die überaus klägliche Ausführung des Gedankens einer griechisch-römischen ?????µ???, der von Polybios und Poseidonios imposant in die Geschichtsschreibung eingeführt war, verrät, dass D. ausgewittert hatte, wohin der Classicismus der neuen Monarchie lief, und ohne Selbständigkeit den Tendenzen folgte, die zu seiner Zeit Gemeingut waren; die tragischen Schmerzen, die jenen echten Hellenen das Begreifen des römischen Primats gekostet hatte, sind dieser kleinen Seele fremd.“ Der Klassizismus des Dionysios steht für eine Geschichtsschreibung, die lediglich dazu dient, den Rezipienten mit rhetorischen Effekten zu beeindrucken; wirklich große Geschichtsschreibung, so Schwartz' Sichtweise, kann nur in Zeiten bedeutender politischer Ereignisse entstehen, wie etwa das Beispiel des Thukydides zeige.
Nahezu zeitgleich mit Schwartz' RE-Artikel erschien die Abhandlung des französischen Gräzisten Maximilien Egger. Dieser unternahm darin den Versuch, das literaturkritisch-rhetorische Corpus des Dionysios in seiner Zeit und seinem kulturellen Milieu zu verorten und in Einzelanalysen die intellektuelle Leistung des Dionysios herauszuarbeiten. Egger wollte eine Gesamteinschätzung der Werke nach ihrer (von ihm definierten) Qualität und Bedeutung geben und spart hierbei nicht mit Kritik, ja die Vorgehensweise ist vielmehr die gleiche wie in den des Dionysios selbst, etwa in . Eggers gesamte Abhandlung zeigt sich durchzogen von (oft ab-)wertenden Urteilen über die angeblich positiven und negativen Merkmale der untersuchten Texte, wie besonders im neunten Kapitel mit der Titulierung „Denys artiste et écrivain dans ses œuvres littéraires“ deutlich wird, dessen Unterkapitel, „Ses défauts“ überschrieben, eine Aufzählung sämtlicher, hauptsächlich kompositionstechnischer und stilistischer, „Fehlgriffe“ des Dionysios bietet. Bereits das Vorwort zu Eggers Studie beginnt mit dem berühmten Zitat von Émile Faguet: „Nous avons perdu Ménandre et nous jouissons de Denys d’Halicarnasse. Car, ne cherchons pas à nous dissimuler cette infortune: nous possédons Denys d’Halicarnasse”, dessen Ansicht Egger zu Beginn seiner Beschäftigung mit Dionysios durchaus geteilt habe. Auch er unterscheidet zwischen dem literaturkritischen und dem historiographischen Schaffen des Dionysios. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen denn auch die : „C’est elle [sc. der literaturkritisch-rhetorische Teil des Gesamtwerkes] qui mérite le plus d’attention, car elle est la plus originale.“ Als Literaturkritiker verdiene Dionysios immerhin – trotz so mancher Unzulänglichkeiten – durchaus Beachtung; jedoch das Geschichtswerk, von Egger kurz gestreift, sei ein von Anbeginn verfehltes Unterfangen, an dem er sich schlicht überhoben und seine intellektuellen Kapazitäten überschätzt habe. Bezeichnenderweise wird, ähnlich wie bei Schwartz, in erster Linie der erzählende Charakter der kritisiert und ihr mangelnder Quellenwert hervorgehoben: „Reste l’historien. Il est difficile de ne pas l’estimer très inférieur au critique littéraire, car aucun n’a poussé plus loin la mise en pratique de cette idée fausse, commune à presque toute l’antiquité, qu’un livre d’histoire est une œuvre d’art destinée à plaire plus qu’à instruire.“ Die seien im Grunde eine Zumutung für jeden Rezipienten: „Enfin, l’élégance et la prolixité de son style sont si monotones, sa rhétorique, cette rhétorique où Michelet voyait « l’avant-goût de l’imbécillité byzantine », est si encombrante et si vide que l’, malgré les bonnes intentions et le labeur immense dont elle témoigne, reste à peu près illisible même pour les lecteurs les plus intrépides.“
Derart abwertende Einschätzungen der griechisch-römischen Geschichtsschreibung gehen zurück auf die positivistischen Voraussetzungen der im 19. Jahrhundert vorherrschenden Annahme, was ein historisches Werk zu wollen und zu leisten habe. In der philologischen Forschung bestand überwiegend noch kein geschärftes Bewusstsein dafür, dass die antike Historiographie weitgehend anderen Prämissen folgt als die moderne, für ihren „ambivalente[n] Status zwischen Wissenschaft und Literatur“. Hiermit war der Weg vorgezeichnet, den die Dionysios-Forschung in den nachfolgenden Jahrzehnten nehmen sollte. Zwar fanden die literaturkritisch-rhetorischen Schriften eine etwas geneigtere Beurteilung, da zumindest ihre Bedeutung...