Häusermann / Rühr / Janz-Peschke | Das Hörbuch | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 386 Seiten

Häusermann / Rühr / Janz-Peschke Das Hörbuch

Medium – Geschichte – Formen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0184-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Medium – Geschichte – Formen

E-Book, Deutsch, 386 Seiten

ISBN: 978-3-7445-0184-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Die Autoren analysieren das Phänomen Hörbuch. Sie gehen auf Produktion und Rezeption von Hörbüchern sowie auf historische Aspekte des Mediums ein. Sie stellen Kriterien zur Analyse vor und zeigen, wie das Hörbuch Texte medial umSetzt und wie dabei eigenständige Formen entstehen. Sie greifen die aktuelle Diskussion über eine Renaissance des Hörens auf, die oft nur als Wiederaufnahme mündlicher Literaturtraditionen gewertet wird. Anhand von Beispielen mündlichen Erzählens von der Antike bis heute zeigen sie die Vielstimmigkeit des akustischen Mediums. Das Buch enthält eine Fülle unterschiedlichster Beispiele. Neben dem Gängigen werden spezielle Formate sowie kleine und weniger bekannte Verlage einbezogen. Es wendet sich an Medien-, Buch- und Literaturwissenschaftler und alle, die das Thema Hörbuch aufhorchen lässt.

Jürg Häusermann ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat zuvor als Radiojournalist und als Ausbilder für Radio und Fernsehen gearbeitet. Korinna Janz-Peschke arbeitet freiberuflich als Sozialpädagogin und Journalistin. Sie hat Sozialpädagogik, Geschichte und Italienische Literaturwissenschaft studiert und war mehrere Jahre Mitarbeiterin beim Hörverlag in München. Sandra Rühr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie mit einer Arbeit zum Thema Hörbuch promoviert hat. Sie hat Buchwissenschaft, Theater- und Medienwissenschaft und Germanistik studiert.
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2 Hörbuch und Öffentlichkeit


André Kaminskis Roman war in den 1980er Jahren enorm erfolgreich. Das warmherzige, humorvolle Buch, das in unzähligen Anekdoten die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt, wurde von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen. Der Autor wurde auf eine lange Lesereise geschickt, von der er in seinem nächsten Buch, berichtete.

Die Gespräche, die sich im Anschluss an die Lesungen ergaben, waren engagiert und oft hitzig, ging es doch sehr schnell jeweils um das Schicksal der Juden, der Palästinenser, um Geschichte und Gegenwart:

»Nach der Lesung fragt mich eine ältere Dame, wie ich nach der kürzlichen Ermordung von 24 türkischen Juden noch lustige Geschichten vorlesen könne. Ich entgegne ihr, dass ich nach der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis theoretisch längst hätte verstummen müssen. ›Doch dieses Vergnügen will ich den Henkern nicht gönnen. Das wollen sie nämlich: uns zum Schweigen bringen. Öffentlich weinen sollen wir – aber das wird nicht geschehen. Nie und nimmer.‹ Da erheben sich die Leute im Saal und klatschen minutenlang Beifall. Ich spüre, dass sie es alle ehrlich meinen.«53

Die öffentliche Lesung ist Begegnung mit dem Autor, sie ist Auseinandersetzung mit dem Inhalt, sie ist gleichzeitig Lektüre und ihre Vertiefung und Weiterführung. Allen Beteiligten ist klar, dass sie kein Ersatz für die eigene Lektüre ist.

Literatur und Vorlesen waren lange Zeit eng miteinander verbunden.54 In einer nur teilweise alphabetisierten Gesellschaft waren der Schriftsteller und das leseunkundige Publikum darauf angewiesen, dass ein Werk vorgetragen wurde. Heute kommt das Werk auch ohne öffentliche Aufführung zu seinem Leser. Geblieben sind uns aber verschiedenste Ausprägungen des Vorlesens. Unter diesen tritt als Phänomen der literarischen Öffentlichkeit die öffentliche Lesung besonders hervor.55 Die historische Dimension des Hörbuchs knüpft hier an.

Ein Hörbuch, dem ein bereits existierender Text zu Grunde liegt, nimmt Bezug auf diesen Text. Es bringt ihn einer weiteren Öffentlichkeit nahe, stellt ihn zur Diskussion, interpretiert ihn. In diesem Sinn ist der Beitrag des Hörbuchs ein Beitrag zur Reflexion über Literatur mit literarischen Mitteln. Dieser Funktion ist dieses Kapitel gewidmet.

2.1 Die Tradition der öffentlichen Lesung

Hörbuchkommunikation ist publizistische Kommunikation. Der Produzent eines Hörbuchs hat den Anspruch, Öffentlichkeit herzustellen, einen Diskurs weiter zu führen. Dies gilt nicht nur für das Hörbuch, sondern für Informations- und Unterhaltungsmedien generell. Als Curzio Malaparte 1949 seinen Roman schrieb, trug er damit zur literarischen Aufarbeitung des Kriegs (und speziell der Befreiung Italiens am Ende des Zweiten Weltkriegs) bei. Wenn Hörbuch Hamburg im Jahr 2009 als Lesung herausbringt, ist auch dies – in einer völlig anderen Zeit – eine Stimme zum Thema. Es ist aber auch eine Wiederaufnahme des Diskurses über das Werk Malapartes: Es wird nochmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und auf neue Art und Weise interpretiert.56

Literatur – ob gedruckt oder als Hörbuch – braucht ein Publikum, das sie liest oder hört. Sie braucht aber auch eine Öffentlichkeit, die auf sie reagiert. Dies ist um so notwendiger, als die Rezeption über die Jahrhunderte hinweg zu einer immer privateren Handlung geworden ist. Das Medium Buch hat sich in der Neuzeit nicht nur dadurch verändert, dass mehr und mehr Menschen lesen konnten. Gleichzeitig wurden die Bücher auch kleiner, handlicher und für den Einzelnen erschwinglicher. Zur Rezeptionsgeschichte der die so viele Leserinnen und Leser erschütterten, gehört nicht zuletzt, dass das Büchlein Oktavformat hatte. Es konnte überallhin mitgenommen werden, überall gelesen werden. Das Lesen konnte jetzt eine stille und mobile Tätigkeit sein. 57

Diese Privatisierungstendenz wurde zu einem Teil kompensiert, indem sich spezielle Formen literarischer Öffentlichkeit entwickelten. Es wurden Foren geschaffen, in denen Literatur diskutiert wurde. Literarische Diskurse wurden mit politischen, sozialen und anderen Diskursen zusammengeführt. Solche Foren waren nicht nur Lesezirkel und andere Formen des gemeinsamen Lesens und Vorlesens, sondern auch Literaturzeitschriften und Feuilletons in allgemeinen publizistischen Medien.58 Die Lesung vor Publikum gehört zu den Formen literarischer Öffentlichkeit.59 Mit dem Hörbuch ist nun die Lesung auch zum privaten Ereignis, fern von Aufführungsterminen und Applaus oder Buhrufen, geworden. Damit braucht das Hörbuch, ähnlich wie das moderne Buch, seine eigenen Foren der Öffentlichkeit.

2.2 Publikum und Interpret bei der Lesung

Elias Canetti trug 1934 in Wien seine zum ersten Mal vor. Was sich bei dieser Lesung begab, traf ihn so sehr, dass er sich in seiner Autobiographie über acht Seiten damit beschäftigte.61 Weil eine Publikation oder Bühnenaufführung nicht in Sicht war, war es ihm wichtig, den Text auf diese Weise bekannt zu machen. Er hielt den Text »für eine legitime Entgegnung auf die Bücherverbrennung« und wollte, dass das Stück gespielt würde – »überall, rasch«. Da ihm aber die »Verbindungen zur Theaterwelt« fehlten, war eine Aufführung auf der Bühne nicht absehbar.

Die Lesung fand im Haus des Verlegers Paul Zsolnay statt. Canetti las dort vor einem Kreis, der sich um Franz Werfel scharte und Werfels Reaktionen aufmerksam registrierte. Canetti berichtet, wie ihn die demonstrativ ablehnende Körpersprache Werfels irritierte. Er versuchte sich zu wehren, indem er umso intensiver las und den Blick der Freundin Anna Mahler suchte. Aber deren Augen waren in diejenigen von Hermann Broch versenkt. Doch nicht nur dieses beeinflusste die Lesung; Canetti registrierte Kritik und Desinteresse im Saal und reagierte wiederum mit seiner Leseweise darauf – vor allem auf die »offene Feindschaft« Werfels, der sich gar einen eindrücklichen Zwischenruf erlaubte: »Ein Tierstimmenimitator, das sind Sie!« 62

Diese Begebenheit zeigt, was eine Lesung ausmachen kann. Da ist ein Text, der gleichzeitig seine Veröffentlichung und seine Interpretation (durch sprecherische Mittel) erfährt. Und da ein Publikum anwesend ist, gehört dazu auch die Auseinandersetzung mit dem Werk und dessen Interpretation und dem Interpreten (meist natürlich erst im Anschluss an die Lesung). Das Beispiel illustriert auch etwas von der Dynamik einer solchen Veranstaltung: Die Leseweise wirkt auf die Stimmung der Anwesenden, und ihre Reaktion wirkt wiederum auf die Lesung.

In der öffentlichen Lesung kommen zwei Funktionen zusammen: (erste Begegnung mit dem Werk, Kennenlernen des Autors usw.) und des Werks. Je nach Anlass sind diesen aber auch ganz andere Funktionen unter- oder übergeordnet bzw. gleichgestellt: eine Bildungsfunktion (etwa bei der Lesung in Schulen), eine Werbefunktion (heute fast immer explizit, vor allem da Lesungen von Verlagen und Buchhandlungen organisiert und finanziell gefördert werden), aber auch eine rituelle Funktion wie die des Gedenkens (wenn etwa zur Texte aus dem frühen 20. Jahrhundert zur Erinnerung an die Bücherverbrennung gelesen werden).

Durch die Lesung wird das Spektrum der Medien der literarischen Öffentlichkeit erweitert. Sie ermöglicht – wie jede Aufführung eines literarischen Werks – eine besondere Form der öffentlichen Kritik. Ein Text und seine Interpretation werden zur Diskussion gestellt. Das Publikum, das an der Aufführung beteiligt war, reagiert direkt, im Anschluss oder zeitversetzt (im lokalen Medium, aber auch in weiteren, mehr oder weniger privaten Diskussionsgruppen). Damit werden die verschiedenen Formen der kritischen Rezeption (v.a. die Rezension) durch eine weitere ergänzt. Insgesamt wird durch die öffentliche Lesung das Spektrum der Öffentlichkeiten, die für das Werk geschaffen werden, erweitert.

Das Beispiel der zeigt, dass zum Lesen vor Publikum eine Interaktion mit den Zuhörern in ihrem aktuellen Raum gehört. Dies muss nicht so drastisch ausfallen wie in Canettis Beispiel. Aber in jedem Fall muss sich der Sprecher auf die Zuhörer ausrichten. Er muss den gemeinsamen Raum, in dem sie sich befinden, stimmlich und körpersprachlich ausfüllen und die zur Verfügung stehende Zeit text- und zuhörergerecht nutzen.

Die Öffentlichkeit, die dadurch entsteht, ist zunächst ein ganz konkreter, von Sprecher und Publikum gemeinsam gestalteter Raum. Sie ist dann auch ein Ereignis, das über diesen Raum hinausweist: Die Lesung wird zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten, öffentlich zugänglichen Ort in einem bestimmten kulturellen Kontext...


Jürg Häusermann ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er hat zuvor als Radiojournalist und als Ausbilder für Radio und Fernsehen gearbeitet. Korinna Janz-Peschke arbeitet freiberuflich als Sozialpädagogin und Journalistin. Sie hat Sozialpädagogik, Geschichte und Italienische Literaturwissenschaft studiert und war mehrere Jahre Mitarbeiterin beim Hörverlag in München. Sandra Rühr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, wo sie mit einer Arbeit zum Thema Hörbuch promoviert hat. Sie hat Buchwissenschaft, Theater- und Medienwissenschaft und Germanistik studiert.



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