Haller | Trilogie des Erinnerns | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 73676, 896 Seiten

Reihe: btb

Haller Trilogie des Erinnerns

Die verschluckte Musik / Das schwarze Eisen / Die besseren Zeiten
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-641-33173-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die verschluckte Musik / Das schwarze Eisen / Die besseren Zeiten

E-Book, Deutsch, Band 73676, 896 Seiten

Reihe: btb

ISBN: 978-3-641-33173-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hallers preisgekrönte Romantrilogie erstmals in einem Band
Christian Haller erzählt in seiner 'Trilogie des Erinnerns' von einer Schweizer Industriellen-Dynastie und dem zögernden Heranwachsen eines Autors aus dieser Familie, der Jahre später die Geschichte dieser Familie schreibt: aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom eleganten Leben in Bukarest bis hin zu dem kargen Leben in der Schweizer Provinz, die langsam aber unaufhaltsam von einem neuen Wohlstand hinweggespült wurde.
Eine Romanfolge, die 'zu den bemerkenswertesten Werken des vergangenen Jahrzehnts' (Literarische Welt) gehört.

Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist die Novelle 'Sich lichtende Nebel' erschienen, für die er den Schweizer Buchpreis 2023 erhielt. Christian Haller lebt als Schriftsteller in Laufenburg.
Haller Trilogie des Erinnerns jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I


ICH SEHE SIE NICHT ...


Es schwankt, sagte Madame S., stand wie festgewurzelt am oberen Ende des Stegs, die Hand auf das Bruststück des Leinenkostüms gelegt, den Schatten des breitkrempigen Hutes über den Augen. Ihr Blick war hart und starr, als hätte sich Großmama in ebendem Moment trotzig gegen jegliche Bewegung entschieden, ein Protest gegen die unsicheren, schwankenden Lebensumstände, die zu Schiffsreisen führten, einem »Geschaukel«, wie sie vorausgesagt hatte, und jetzt durch das Scheuern des Schiffbords am Holz der Landungsstelle bestätigt sah.

– Ja, es schwankt, sagte der Herr im schattendunklen Anzug, den Hut steif auf das schmale Gesicht gesetzt, das mit der Spitze seines Kinns auf den Flügeln des Vatermörders balancierte. Ja, es schwankt, sagt der Herr, der mein Großpapa werden würde, doch das wird sich geben. Und er sagte es leise, wie es seine Art war, ohne die weichen, sinnlichen Lippen, die ein blonder Schnauzbart vermännlichte, allzu sehr zu bewegen, doch in einem Ton, der erst fein und zögerlich einen Faden Resignation mitspann. Er neigte sich vor, fasste den Griff des Koffers, der aus einem dicken Rindsleder genäht war und zwei Messingschlösser besaß, ein breiter, aber nicht allzu großer Koffer, und Großpapa hob ihn vermutlich in dieser ergebenen und entschlossenen Art auf, die ich später – sehr viel später – noch oft sehen sollte.

Als hätte man Gelbfolie vor die Scheinwerfer geklemmt, um nostalgische Gefühle zu wecken und mich in eine Epoche zu versetzen, die Jahrzehnte zurückliegt: Vielleicht habe ich deshalb bei meinem Besuch im Hafengebäude von Dhaka das Empfinden gehabt, mich in einer verfilmten Vergangenheit zu bewegen. Der Widerschein der Sonnenflecken, die hellgeschnittenen Flussbilder der Ausgänge, die hallenden Geräusche erfüllten den Raum mit einer Atmosphäre, die mir das Einschiffen der Familie S. so unerwartet vergegenwärtigte, als wäre ich unversehens zu deren Begleiter geworden, wobei ich gestehen muss, zu diesem Zeitpunkt noch nie in Rumänien gewesen zu sein. Doch dieses Licht in Sadarghatt, dem Flusshafen an der Buriganga, erinnerte mich so sehr an die Erzählungen meiner Mutter, dass ich die Gebäulichkeit ganz selbstverständlich in meine eigenen Vorstellungen übernahm und sie mir – wie bei Filmen üblich – von dem sehr viel südlicheren Lande auslieh, von Bangladesh, um genau zu sein, und die gesamte Anlage nach Giurgiu an die Donau verlegte. Ich tat es mit der plötzlichen Gewissheit eines Wiedererkennens: So muss der Moment damals gewesen sein, als meine Mutter Rumänien, in dem sie aufgewachsen war, für immer verließ.

Das Hafengebäude lag langgestreckt am Ufer, durch die Straße von den Lagerschuppen und den Geschäften der Händler getrennt, ein geradliniger, schnörkelloser Bau, der in der Sonne leuchtete, wie die endlosen Kornfelder, durch die meine Großeltern mit Tochter und Sohn von Bukarest nach Giurgiu gefahren waren. Drei Stufen führten aus dem Gedränge der Straße zu den Zugängen der Halle, vor denen Drehkreuze angebracht waren und Zutrittskarten verkauft wurden. Gierig schluckten die Hände das Geld von den speckigen Tischplatten, schoben einen Kupon hin, der zum Aufenthalt im Hafengebäude berechtigte, und ein weiterer Passant rückte in der Reihe wartender Händler und Reisender vor.

Großpapa legte den Geldschein für sich und seine Familie mit der ihm eigenen Langsamkeit und Sorgfalt vor den Kontrolleur hin, durch nichts würde er sich hetzen lassen, was nur zu unbedachter Fahrigkeit führen konnte und seiner innersten Lebensform, der Vornehmheit, widersprach.

Nachdem er sein Portefeuille in die Bauchbinde zurückgeschoben hatte, trat er einen Schritt beiseite, ließ zuerst Ruth, dann Curt und Großmama passieren, nahm den Koffer auf, schob ihn unter dem Gestänge durch, und nachdem er sich aufgerichtet, den Zwicker mit dieser kurzen, doch energischen Geste festgedrückt hatte, legte er die Hand auf den eisernen Balken des Drehkreuzes, schob ihn ein Viertel der Umdrehung – besiegelt vom vertieften Wappen seines Rings – weiter: Man schrieb das Jahr 1926, die Familie S. verließ Rumänien endgültig, keiner von ihnen sollte es je wiedersehen, und Großpapa hatte beschlossen, diesmal die Reise gemächlich, in der entsprechenden gesellschaftlichen Ambience und auch mit Vergnügen zu tun, zu Schiff nämlich, von Giurgiu auf der Donau bis Wien. Bedachtsam wollte man sich der Schweiz nähern und in einer Art, die, bei aller künftigen Ungewissheit, keinen Zweifel an der gesellschaftlichen Zugehörigkeit offenließ.

Und in der verfilmten Vergangenheit, durch die ich selbst mich bewege, betritt die Familie S. das Hafengebäude, einen zum Dach hin offenen, fensterlosen Raum, in dem sich auf Seite des Stroms ein Gitter aus Mauerwerk entlang der Decke zieht, rautenförmige Öffnungen, durch die das Sonnenlicht einfällt, gleißende, flüssige Flecken auf den Steinboden und die Wand wirft und die staubige Luft mit blauen Bändern schraffiert. Nach dem Lärm der Straße ist es in der Halle beinahe still. Einzelne Klangbrocken hallen von den Wänden, was dem Raum eine ungerechtfertigte Würde gibt. In der Mittelachse sind Bänke in regelmäßigen Abständen angebracht, die von nur wenigen Reisenden besetzt sind, während auf ausgebreiteten Decken Gruppen von Menschen kauern, die Frauen mit Kopftüchern, die Männer in Pluderhosen, umgeben von Körben. Diese Leute reisen, so wenigstens ist anzunehmen, weil die Umstände, die Not und Armut, sie weitertreiben, und der Herr, der in dunklem Anzug, den Strohhut auf dem Kopf, eben an einer der Gruppen ausgemergelter Gesichter vorbeigeht, ohne sie zu beachten, könnte durchaus etwas über das Zwiespältige des Reisens beitragen, wäre er nicht fest entschlossen, es diesmal einseitig und fraglos als Vergnügen zu sehen, obschon auch er nicht freiwillig fährt. Er schreitet, den Koffer in der Hand, seitlich hinter Großmama und den Kindern her durch die Halle, an deren Ende der Ausgang zum Steg leuchtet, der hinunter zur Anlegestelle führt, ein helles Viereck Tag.

Der Strom zog gemächlich in die Ebene hinein, und das dunstige Nachmittagslicht legte einen Schimmer aufs Wasser, der die Oberfläche beruhigte, beinahe verfestigte und eine metallische Drohung in die erdige Umgebung legte, als träte etwas Unerbittliches zutage, ein Stück fettigen Stahls, das an den Winter siebzehn erinnerte. Doch diese Sicht entsprach eher der Wahrnehmung des Herrn S., der seinen goldenen Zwicker zwischen Daumen und Zeigfinger sich panoramisch umzusehen beliebte, während Großmama das nahe Aufquellen der Wassermassen beargwöhnte, die gegenläufigen Strömungen, denen entlang Ketten von Wirbeln sich öffneten; diese unsteten Muster, die sich verändernd, in einem unaufhaltsamen Rhythmus, kurzatmige Wellen ausschickten. Und auch sie empfand eine Unerbittlichkeit, als sie unter der Krempe ihres mit Blumen und einem Schleier geschmückten Conotiers auf den Strom sah. Das Wasser bewegte sich von rechts nach links, von rechts nach links, und sie spürte diese ziehende Strömung in ihrem Kopf, merkte, wie ein Rad unter dem hochgesteckten Haar in Schwung geriet, die sie aufrecht haltende Transmissionsstange in Drehung versetzte und den Magen unter dem Korsett sich heben ließ: Sie bekäme ihre berüchtigten Schwindel, die Schwindel, die eine Gewissheit bestätigten, der sie sich bereits vor der Abreise sicher gewesen war:

– Wir hätten die Eisenbahn nehmen sollen, wie die anderen Male auch.

Doch der Herr, der mein Großpapa werden würde, hatte den Koffer bereits in der Hand und schickte sich eben an, mit den beiden Kindern den Steg zum Schiff hinunterzugehen.

Ich sehe meine Mutter als ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid, eine Schlaufe im strohblonden Haar, sie läuft neben ihren Eltern her, die Beine nackt und gebräunt, die Füße in Sandalen. Sie wird in wenigen Schritten durch den Ausgang hinaus ins diesige Licht des Nachmittags treten, wird für immer und auf eine mir rätselhafte Weise verschwinden, mich in Vermutungen zurücklassen, den Steg – wie ich annehmen muss – hinuntergehen und das sehen, was sie mir so oft erzählt hat: Der Strom, der breit in die Landschaft hineinglitt, die Donau, von der sie gehört hatte, war nicht blau, sie war sandgelb. Und vielleicht ist es wegen dieser naiven Erwartung, die so sehr enttäuscht worden war, dass ich sie als ein Mädchen von fünf oder sechs Jahren sehe, obschon sie damals bei der Abreise aus Rumänien bereits siebzehn und eine junge Dame gewesen ist.

Doch die Fluten waren sandgelb, und Großmama sah unter ihrem Conotier hervor nach dem Schiff, das unter Dampf stand und trotz seiner Größe schwankte, während meine Mutter über das von vielen Händen blanke Geländer aufs Wasser schaute, ihr Bruder Curt die Schritte beschleunigte, getrieben vom Wunsch, in den Maschinenraum hinabzusteigen, dorthin, wo es nach Ruß und öligen Stahlstangen stank, der Feuerschein aufblakte und die Flamme aus dem Ofenloch schoss, wenn der Heizer die Tür aufriss, um die Kohlenbrocken einzuschaufeln. Die Sirene heulte, ein Erzittern und Erschauern lief durch den Schiffsrumpf, Wellen schlugen an die Ufermauer, und Großmama fasste oben am Steg, vor dem schattenhaften Viereck des Ausgangs, den einsamen Entschluss, sogleich, nachdem ihr eleganter Schuh das Deck betreten haben würde, sich in die Kabine zu begeben, um sich hinzulegen und sich für die Dauer der Reise nicht wieder zu erheben. Großpapa, der auf dem Fallreep einen Blick zwischen Mauer und Bordwand auf das Wasser warf und das Gefühl eines schicksalhaften, einzigartigen Momentes hatte, dachte bereits an die Zahlmeisterei und die Fahrkarten. Mit einer Spur Unwillen sagte er zu der...


Haller, Christian
Christian Haller wurde 1943 in Brugg, Schweiz, geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist die Novelle »Sich lichtende Nebel« erschienen, für die er den Schweizer Buchpreis 2023 erhielt. Christian Haller lebt als Schriftsteller in Laufenburg.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.