E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Hannah Der offene Sarg
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-455-17129-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-455-17129-7
Verlag: Atlantik Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sophie Hannah, Jahrgang 1971, ist eine internationale Bestsellerautorin. Ihre Bücher erscheinen in mehr als zwanzig Ländern und wurden fürs Fernsehen verfilmt. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr ist die Autorin eine leidenschaftliche Verehrerin von Agatha Christie. Bei Atlantik erschienen von ihr Die Monogramm-Morde (2014), Der offene Sarg (2016) und Das Geheimnis der vier Briefe (2019).
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Für Mathew und James [...]
Karte
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Epilog
Danksagung
Über Sophie Hannah
Impressum
Skipper-Books
Erster Teil
1 Ein neues Testament
Michael Gathercole starrte die geschlossene Tür an und versuchte sich einzureden, der Augenblick zu klopfen sei gekommen, während unten in der Halle die betagte Standuhr stotternd die Stunde bekannt gab.
Gathercoles Instruktionen hatten gelautet, um vier zu erscheinen, und es war vier. In den vergangenen sechs Jahren hatte er oft hier gestanden – an exakt derselben Stelle des breiten Korridors im Obergeschoss von Lillieoak. Nur ein einziges Mal hatte er sich dabei unwohler gefühlt als jetzt. Zu jener Gelegenheit war er einer von zwei Wartenden gewesen, nicht allein wie an diesem Nachmittag. Er erinnerte sich noch an jedes Wort seiner Unterhaltung mit dem anderen Mann, obwohl er es vorgezogen hätte, nichts mehr davon zu wissen. Unter Aufbietung all seiner Selbstdisziplin, auf die er sich stets verlassen konnte, verbannte er sie aus seinem Bewusstsein.
Er war vorgewarnt worden, dass die Besprechung des heutigen Nachmittags schwierig werden würde. Die Warnung war Teil der Vorladung gewesen, was typisch für seine Gastgeberin war. »Was ich Ihnen zu sagen beabsichtige, wird Ihnen einen Schock versetzen …«
Gathercole zweifelte nicht daran. Die Vorwarnung nützte ihm jedoch nichts, da sie nichts darüber verriet, welche Art von Vorbereitung angezeigt sein könnte.
Sein Unbehagen verstärkte sich, als er seine Taschenuhr konsultierte und bemerkte, dass er durch sein Zögern sowie durch das Herausnehmen der Uhr aus seiner Westentasche und das Wiedereinstecken und abermalige Herausholen mittlerweile spät dran war. Es war bereits eine Minute nach vier. Er klopfte.
Nur eine Minute zu spät. Sie würde es bemerken – gab es überhaupt etwas, was sie nicht bemerkte? –, aber mit ein bisschen Glück würde sie sich eines Kommentars enthalten.
»Kommen Sie nur herein, Michael!« Lady Athelinda Playford klang überschwänglich wie immer. Sie war siebzig Jahre alt, und ihre Stimme klang so laut und klar wie eine blank polierte Glocke. Gathercole hatte sie noch nie in gemäßigter Gemütslage erlebt. Für sie bestand immer ein Grund zur Begeisterung – oft genug Dinge, die einem konventionellen Menschen eher ein Anlass zur Besorgnis gewesen wären. Lady Playford besaß die Gabe, dem Belanglosen ebenso viel Vergnügen zu entlocken wie dem Kontroversen.
Gathercole bewunderte ihre Geschichten – um glückliche Kinder, die Kriminalfälle lösten, welche die örtliche Polizei vor ein Rätsel stellten –, seit er sie einst als einsamer Zehnjähriger in einem Londoner Waisenhaus entdeckt hatte. Vor sechs Jahren war er ihrer Schöpferin zum ersten Mal begegnet und hatte sie als ebenso entwaffnend und unvorhersehbar wie ihre Bücher kennengelernt. Er hatte nie erwartet, es in dem Beruf seiner Wahl sonderlich weit zu bringen, aber dank Athelinda Playford – voilà: mit 36 Jahren noch relativ jung und dennoch bereits Partner in der erfolgreichen Anwaltskanzlei Gathercole und Rolfe. Dass ein gewinnbringendes Unternehmen seinen Namen trug, war Gathercole selbst nach mehreren Jahren noch immer unbegreiflich.
Seine Loyalität zu Lady Playford übertraf zwar jede andere gefühlsmäßige Bindung, die er in seinem bisherigen Leben eingegangen war, doch die persönliche Bekanntschaft mit seiner Lieblingsautorin hatte ihn genötigt, sich einzugestehen, dass er es doch vorzog, wenn Schocks und verblüffende Wendungen sich in der beruhigend entlegenen Welt der Fiktion ereigneten und nicht in der Wirklichkeit. Unnötig zu sagen, dass Lady Playford diese Vorliebe nicht teilte.
Er öffnete zaghaft die Tür.
»Haben Sie etwa vor … Ah! Da sind Sie ja! Stehen Sie nicht da rum. Hinsetzen, hinsetzen! Wir kommen zu gar nichts, wenn wir nicht endlich anfangen.«
Gathercole setzte sich.
»Hallo, Michael.« Sie lächelte ihn an, und er hatte das gleiche seltsame Gefühl wie immer – als ob ihre Augen ihn aufgelesen, herumgedreht und wieder abgesetzt hätten. »Und jetzt müssen ›Hallo, Athie‹ sagen. Na los, sagen Sie es! Nach all den Jahren müsste es doch wirklich ein Kinderspiel sein. Nicht ›Guten Tag, Eure Ladyschaft‹. Nicht ›Habe die Ehre, Lady Playford‹. Ein schlichtes, freundliches ›Hallo, Athie‹. Fühlen Sie sich überfordert? Ha!« Sie klatschte in die Hände. »Sie sehen ganz wie ein gehetztes Füchslein aus! Sie fragen sich, warum ich Sie für eine Woche hierher eingeladen habe, nicht wahr? Oder warum ich Mr Rolfe ebenfalls eingeladen habe.«
Würden die Vorkehrungen, die Gathercole getroffen hatte, ausreichen, um seine eigene und Orville Rolfes Abwesenheit zu überbrücken? Es war noch niemals vorgekommen, dass sie beide an fünf aufeinanderfolgenden Tagen der Kanzlei fernblieben, aber Lady Playford war die illustreste Klientin der Firma; kein Wunsch ihrerseits durfte ausgeschlagen werden.
»Ich könnte wetten, Michael, Sie fragen sich gerade, ob auch weitere Gäste erwartet werden. Zu alldem kommen wir gleich, aber ich warte noch immer auf Ihr ›Hallo‹.«
Er hatte keine Wahl. Die Begrüßung, die sie ihm jedes Mal abverlangte, würde ihm niemals glatt von der Zunge gehen. Er war ein Mann, der gern Regeln befolgte, und wenn es keine Regel gab, die es einem Menschen mit seiner Herkunft verbot, eine verwitwete Viscountess, die Gemahlin des verblichenen fünften Viscount Playford of Clonakilty, mit »Athie« anzusprechen, so war Gathercole felsenfest davon überzeugt, dass es eine geben
Es war daher bedauerlich – wie er sich oft selbst sagte –, dass Lady Playford, für die er alles getan hätte, keine Gelegenheit ausließ, Regeln mit Hohn und Spott zu übergießen, und all jene, die ihnen gehorchten, als »sture Stockfische« titulierte.
»Hallo, Athie.«
»Na also!« Sie breitete die Arme aus wie eine Frau, die einen Mann dazu einlädt, sich in selbige zu werfen, doch Gathercole wusste, dass es nicht so gemeint war. »Prüfung bestanden. Sie können sich entspannen. Nicht sehr! Wir haben wichtige Dinge zu erledigen – nachdem wir uns über das aktuelle Bündel unterhalten haben.«
Es war Lady Playfords Angewohnheit, das Buch, das sie jeweils gerade in Arbeit hatte, als »das Bündel« zu bezeichnen. Ihr jüngstes Produkt lag auf der Ecke ihres Schreibtisches, und sie warf einen grollenden Blick in seine Richtung. Gathercole fand, dass es nicht so sehr wie ein Roman aussah als wie die Papier-Nachbildung eines Wirbelwinds: zerknitterte Blätter mit sich rollenden Rändern, achtlos zu einem ungefügen Stapel gehäuft. Das Ganze hatte nichts auch nur annähernd Rechteckiges an sich.
Lady Playford stemmte sich aus ihrem Sessel am Fenster. Wie Gathercole aufgefallen war, sah sie nie nach draußen. Wenn es einen Menschen zu begutachten gab, verschwendete Lady Playford keine Zeit an die Natur. Ihr Arbeitszimmer hatte einen herrlichen Ausblick: auf den Rosengarten und, dahinter, einen großen, vollkommen quadratischen Rasen, in dessen Mitte die Engelsplastik stand, die ihr Ehemann Guy, der verblichene Viscount Playford, anlässlich ihres dreißigsten Hochzeitstags als Geschenk für sie in Auftrag gegeben hatte.
Bei seinen Besuchen betrachtete Gathercole stets die Statue und den Rasen und die Rosensträucher, desgleichen die Standuhr in der Halle und die bronzene Tischlampe in der Bibliothek, mit ihrem Schneckenhausschirm aus bleigefasstem Glas; er tat es ganz bewusst. Er begrüßte die Beständigkeit, die sie zu verkünden schienen. Die Dinge – womit Gathercole ganz konkret unbelebte Objekte meinte und nicht etwa eine allgemeinere Sachlage – änderten sich selten in Lillieoak. Lady Playfords gleichbleibend gründliche Musterung jeder Person, die ihr über den Weg lief, ging damit einher, dass sie allem, was nicht der Rede mächtig war, nur geringe Beachtung schenkte.
Im großen Bücherregal an der einen Wand ihres Arbeitszimmers – wo sie und Gathercole sich gerade aufhielten – standen zwei Bücher falsch herum: und . Sie standen bereits seit Gathercoles erstem Besuch auf dem Kopf. Sie nach sechs Jahren richtig herumgedreht zu sehen wäre befremdlich gewesen. Keines anderen Autors Werke durften auf diesen Brettern stehen: ausschließlich Athelinda Playfords Bücher. Ihre Rücken brachten etwas dringend benötigte Farbe in den dunklen, holzgetäfelten Raum – Streifen von Rot, Blau, Grün, Violett, Orange; Farben, die Kinder ansprechen sollten –, wenngleich auch sie von Lady Playfords leuchtender Wolke von Silberhaar überstrahlt wurden.
»Athie« stellte sich direkt vor Gathercole hin. »Ich möchte mit Ihnen über mein Testament sprechen, Michael, und Sie um einen Gefallen bitten. Aber zunächst: Was glauben Sie, wie viel ein Kind – ein gewöhnliches Kind – über chirurgische Eingriffe zur Umformung einer Nase wissen könnte?«
»Einer … einer Nase?« Gathercole wäre es lieber gewesen, als Erstes vom Testament und als Zweites ihren Wunsch zu erfahren. Beides klang wichtig und hing möglicherweise miteinander zusammen. Lady Playfords letztwillige Verfügung stand schon seit geraumer Zeit fest. Alles war so, wie es sich gehörte. Konnte es sein, dass sie irgendetwas ändern wollte?
»Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung, Michael. Es ist eine absolut simple Frage. Nach einem schweren Automobilunfall oder um eine angeborene Missbildung zu korrigieren. Eine Operation zur Veränderung der Form der Nase. Würde ein Kind wissen, dass es so etwas gibt? Würde es wissen,...