Haratischwili Mein sanfter Zwilling
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-627-02175-7
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 380 Seiten
ISBN: 978-3-627-02175-7
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tiflis, ist preisgekrönte Theaterautorin und -regisseurin (mit bislang 14 Uraufführungen, u.a. im Thalia-Theater, Kampnagel in Hamburg, Heidelberger Stückemarkt, Deutsches Theater Göttingen). 2008 gewann sie für Agonie den Rolf-Mares-Preis in der Kategorie 'Außergewöhnliche Inszenierung'. 2010 wurde ihr der Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis verliehen. Ihr schriftstellerisches Debüt, der Roman Juja, erschien im Frühjahr 2010 und war für die Longlist des Deutschen Buchpreises, die Shortlist des ZDF-aspekte-Literaturpreises und die Hotlist der unabhängigen Verlage nominiert. Nino Haratischwili lebt heute in Hamburg.
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1.
Eigentlich fing es mit dem Ende an.
An diesem Morgen rief Tulja an und sagte, er sei da. Sie hatte mich geweckt. Mark hatte Theo zur Schule gebracht, und ich war im Bett geblieben – mit dem schlechten Gewissen, nicht aufgestanden zu sein, kein Frühstück gemacht und keine Rolle gespielt zu haben bei dem gemeinsamen Morgen mit meiner Familie –, trotzdem war ich liegen geblieben, die Überwindung meines schlechten Gewissens war leichter, als ich befürchtet hatte, und mein Morgenschlaf es wert, jede Sekunde des grauen Hamburger Morgens zu verpassen.
Nicht lange nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, fing das Telefon an zu klingeln, und als es nicht aufhörte, quälte ich mich fluchend, der Vergeudung kostbarer Schlafminuten wegen fast den Tränen nah, aus dem Bett und kroch auf allen vieren zum Telefon, das auf der Kommode lag. Als wäre es ein Naturgesetz, wurde es immer an den unpassendsten Stellen abgelegt.
– Wach auf, ich weiß, dass du da bist. Er ist wieder da.
– Mein Gott, Tulja, weißt du, was du mir gerade antust? Ich habe seit den letzten hundert Jahren zum ersten Mal eine Portion Schlaf bekommen, und jetzt kommst du und weckst mich auf. Also bitte, kannst du nicht später …
– Nein, kann ich nicht. Versteh endlich! Er ist da, mein Gott, wach auf! Ich kann es nicht fassen. Er ist einfach so reingeplatzt, unser kleiner Adonis, du kannst dir nicht vorstellen, wie gut er aussieht. Morgens um sieben ruft er mich an und sagt, er sei in der Stadt, er wolle eine Weile hier bleiben, er wolle …
– Tulja, wer? Von wem redest du, um wen geht es, verdammt noch mal?
– Ivo, Ivo, unser Ivo!
Mir fiel fast das Telefon aus der Hand. Vielleicht ist es mir sogar aus der Hand gefallen, und ich erinnere mich nicht mehr. Ich war so aus der Fassung gebracht, dass ich zurücktaumelte und mich auf die Bettkante setzte. Besser gesagt, ich fiel.
Kein Tag meiner bewussten Erinnerung, an dem ich nicht an ihn gedacht, mich nicht gefragt hatte, was er wohl machte, wo er war, wie es ihm ging. Aber in den sieben Jahren waren diese Gedanken zur Routine geworden, die ruhig, unaufgeregt, selbstverständlich war, so dass ich der festen Überzeugung war, sie hätten nichts mit der Realität zu tun. Ich hatte meinen Ivo, der in meinem Kopf lebte und um den ich mich sorgte, aber der eigentliche, der wirkliche Ivo aus Fleisch und Blut, den hatte ich seit sieben Jahren nicht mehr gesehen, er war aus meinem Leben verschwunden, war seinen Weg gegangen, der so weit entfernt von meinem lag, dass jeder Schritt, den er auf diesem Weg gegangen war, ihn immer mehr von mir entfernt hatte.
– Was hat er hier verloren?, war das Gescheiteste, was mir einfiel.
– Woher soll ich das wissen! Er ist erst seit einer Stunde bei mir und gerade raus, um Zigaretten zu kaufen. Da musste ich dich einfach anrufen …
– Aber er muss doch irgendetwas gesagt haben?
– Ist doch egal, mein Gott. Er ist da, das ist erst mal das Wichtigste. Er will eine Weile hierbleiben, hat er gesagt, und ich werde nicht versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
– Hat er nach mir gefragt?
– Ich habe ihn erst mal eine Stunde lang abgeküsst, der Arme konnte gar nicht mehr sprechen, ich glaube, ich habe ihn beinahe erwürgt.
Ich erkannte in Tuljas Stimme die beinahe schon vergessene Aufregung wieder, die von ihr Besitz ergriff, immer wenn von ihm die Rede war. Eine Mischung aus mütterlichem Stolz auf ein vom Leben benachteiligtes Kind, das umso deutlicher und ausdrücklicher geliebt werden musste, und aus einem gewissen Stolz auf sich selbst, denn Ivo verkörperte all das, was ihr erstrebenswert erschien, und sicherlich sah sie den Einfluss ihrer Erziehung in ihm am stärksten präsent.
– Was soll ich jetzt tun? In Jubelgeschrei ausbrechen? Und wieso rufst du ausgerechnet mich an? Ich meine, was erwartest du von mir?, sagte ich hilflos und ärgerte mich sofort über meine dämliche Frage, weil ich mich von einer Sekunde auf die andere wieder in die Rolle des kleinen Mädchens, Tuljas Zögling, hineinmanövriert hatte. Es entstand eine Schweigepause in der Leitung. Ich wusste genau, dass Tulja sehr widersprüchlich handelte, gänzlich von ihren Emotionen eingenommen, und nicht immer lange überlegte, bevor sie etwas sagte oder tat, aber in diesem Punkt misstraute ich ihr, weil ich nie ganz dahintergekommen war, in all den Jahren nicht, was sie eigentlich wirklich darüber dachte, über Ivos und meine Geschichte, wie viel genau sie wusste und was sie dazudichtete, was sie sich ausmalte und was genau sie hatte verhindern wollen.
– Oh, es klingelt, er ist zurück. Ich muss ihm aufmachen. Ich rufe dich in ein paar Stunden wieder an. Oder er ruft dich selbst an. Auf alle Fälle erwarte ich dich demnächst hier.
Ich wollte ihr etwas erwidern, aber Tulja hatte schon aufgelegt. Mein Schlafbedürfnis war schlagartig gewichen, ich war hellwach. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen, ging in die Küche, machte Kaffee und setzte mich an die Bartheke, um die Mark so lange gekämpft und die ich noch nie gemocht hatte. Ich zitterte am ganzen Körper, und meine Augen brannten. Ich hielt die Kaffeetasse umklammert und sah aus dem Fenster in den grauen Nieselregen. Ein gewohntes Bild, an das ich mich nie gewöhnen würde. Mein Blick fiel auf meine feuchten Finger und meinen Ehering – schmal, dezent, bei dem ich mich so lange habe nicht entscheiden können, ob er nun der richtige war, um mich mein Leben lang zu begleiten.
Ich wusste, dass sich alles ändern würde, ich wusste, dass es am besten wäre, mich dagegen zu wehren – Mark anzurufen und ihn zu bitten, mich auf seine Geschäftsreise mitzunehmen, den Kleinen zu den Großeltern zu bringen und irgendwohin zu verschwinden, bis die Wolken vorübergezogen waren.
Eines Tages hatte er zurückkommen müssen. Ich hatte es erwartet, mir diesen Moment schon oft ausgemalt und alles Erdenkliche in meinem Kopf durchgespielt. Ich hatte mich gewappnet, mich in einer vermeintlichen Sicherheit gewiegt. Aber bis heute hatte sich alles in meinem Kopf abgespielt. Bis jetzt war ich die Puppenspielerin gewesen und hatte die Fäden in der Hand gehalten.
Die Jahre mit ihm und die vielen durchfochtenen Kriege wegen, mit oder ohne Ivo hatten mir die Sicherheit im Umgang mit unserer Vergangenheit nicht genommen; ich hatte mich bewährt, und ich hatte ihn in meinem Leben behalten. Ungeachtet aller guten Ratschläge hatte ich unsere Kinderfotos aufgestellt, hatte Mark die offizielle Version unserer Geschichte erzählt, hatte an seinen Geburtstagen grußlose Päckchen an ihn geschickt – solange ich noch seine Adresse besaß – und bei Geburtstagen immer wieder Toasts auf ihn ausgebracht, was nicht selten zu hitzigen Diskussionen, sogar zu Gebrüll am Tisch führte.
Ich hatte ihn einbalsamiert in eine abgeschlossene Vergangenheit, hatte ihm jeglichen Raum, sich zu entwickeln, genommen, auch dies war mir durchaus bewusst. Ich hatte ihn als das Kind, den Jungen, den Mann in meinem Kopf behalten, der sein Leben mit mir geteilt hatte, der existent war in mir, in meinem Kosmos. Er aber war weg. Er war weg aus meinem Leben und weg aus seinem Leben, das ich so lange als meines betrachtet hatte.
Ich riss mich aus meinen Gedanken, ging ins Badezimmer, nahm eine Dusche, trank noch einen Kaffee und zog mir eine schwarze Hose an. Ich stand vor dem Schrank und versuchte, mich für ein Oberteil zu entscheiden, bekam einen Blackout und starrte die in die Regale gestopften Pullis, T-Shirts und Blusen an. Ich starrte und starrte, als läge darin die Lösung, die Klärung, die Ruhe versteckt, die ich jetzt so dringend benötigte. Ich sah sein Gesicht vor mir, sein Gesicht von damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, und ich legte mir automatisch die Hand auf die Lippen, um nicht aufzuschreien.
Ja, eigentlich fing das Ganze mit dem Ende an. Aber so war es immer gewesen in meinem Leben: Das Familiengefüge, in dem ich aufgewachsen bin, wir aufgewachsen sind, war immer verkehrt. Irgendwann traute ich mich nicht mehr, meine Verwandtschaft mit Possessivpronomina zu benennen. Denn wenn ich sagte, mein Vater oder meine Mutter, mein Bruder oder meine Großmutter, musste ich immer ein eigentlich hinzufügen.
– Dein Vater? Und warum wohnst du nicht bei ihm?
– Weil meine Eltern geschieden sind.
– Und warum wohnst du nicht bei deiner Mutter?
– Weil sie in Amerika lebt.
– Aber warum hat sie dich nicht mitgenommen?
– Weil wir es so beschlossen haben.
– Und kommt sie manchmal hierher?
– Nein, wir fahren immer zu ihr.
– Und wieso wohnst du bei Tulja?
– Sie ist die Tante meines Vaters, also meine Großmutter.
– Und wieso wohnst du nicht bei deiner richtigen Großmutter?
– Sie ist meine richtige Großmutter, wir haben keine andere Großmutter.
– Und wieso trägt deine Schwester deinen Namen und dein Bruder nicht?
– Weil mein Bruder adoptiert ist und er den Namen seiner Eltern...