E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Harbison Hope
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7558-1091-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Mann am Abgrund, ein Rudel Straßenhunde und der Sinn des Lebens
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7558-1091-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
NIALL HARBISON kommt aus Dublin und hat dort erfolgreich als Unternehmer gearbeitet. Heute lebt er auf Ko Samui in Thailand. Seine Zeit widmet er der Rettung von Straßenhunden und seinen Social-Media-Kanälen.
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Prolog
Ich ging in die Hocke, um mir das winzige Wesen genauer anzusehen: Es war kaum noch lebendig, auch wenn sein heftiges Zittern deutlich zeigte, dass noch Leben in ihm steckte. Unwillkürlich wich ich zurück. Dann atmete ich tief durch – puuuuuuh –, wie man es manchmal macht, wenn man sich überfordert fühlt.
»Armer Kleiner«, murmelte ich und schüttelte fassungslos den Kopf.
Es gibt immer wieder Fälle, die einem noch unter die Haut gehen, einen entsetzen, sosehr man auch geglaubt hat, man hätte schon alles gesehen. In den paar Jahren, seit ich in Thailand lebe, sind mir viele Hundert Hunde jeden Alters untergekommen, und dabei ist mir eine Menge Schlimmes begegnet. Jeder einzelne Fall könnte einen in Verzweiflung stürzen. Ich musste unzählige Tiere begraben, die es nicht geschafft haben. Aber in einem gewissen Maße stumpft man ab. Das ist auch notwendig, sonst könnte man nicht weitermachen.
Das Leben der Straßenhunde ist nicht leicht. Sie haben kein Zuhause, keinen sicheren Hafen, kein Herrchen oder Frauchen. Es gibt niemanden, der für sie sorgt, wenn sie krank sind; jede einzelne Mahlzeit ist hart erkämpft, und sie wissen nie, woher sie die nächste bekommen sollen. Dass sie tapfer weitermachen, fröhlich im Augenblick leben und zufrieden mit ihrem Los zu sein scheinen, ist für mich immer wieder aufs Neue unfassbar.
Doch manchmal, wenn man einen kleinen Welpen findet, der so arm dran ist wie dieser eine damals, dann zerreißt es einem, egal, wie abgehärtet man inzwischen auch sein mag, immer noch das Herz.
Dieses Häufchen Elend, das da in meinem improvisierten Büro mitten im Dschungel von Ko Samui lag, hätte wohl jeden zu Tränen gerührt. Es war kaum so groß wie eine Honigmelone, wahrscheinlich erst vier oder fünf Wochen alt.
Von seinen großen, dunklen Welpenaugen, den Schlappohren und den vier Beinen abgesehen, war es ein kleines Knäuel der … Abscheulichkeit. Zugegeben, kein Tierarzt würde es so ausdrücken, aber man kann es einfach nicht anders beschreiben.
»Das wird schon«, redete ich ihm beruhigend zu. Ich hätte ihn gern gestreichelt, ihm ein wenig Zärtlichkeit und Liebe geschenkt, aber seine gesamte Haut war derart rot und wund, dass ich mir nicht sicher war, welches Fleckchen seines Körpers ich hätte berühren können, ohne ihm weitere Qualen zu bereiten. Das bedauernswerte Kerlchen hatte kein bisschen Fell mehr, das ihn hätte wärmen oder vor Wind und Wetter schützen können. Seine Haut war schuppig und fast vollständig von Schorf oder furchtbaren offenen Wunden bedeckt.
Was in aller Welt ist mit dir passiert, Kleiner?
Vorsichtig und federleicht berührte ich ihn an der Vorderpfote, die mir dafür noch am ehesten geeignet schien. Ich musste ihm irgendwie vermitteln, dass ich für ihn da war. Ich war kein Feind, ich meinte es gut mit ihm und wollte ihm helfen.
Er zitterte heftig. Vor Kälte? Oder vor Angst? War er krank? Ich fragte mich, wie dieses kleine Lebewesen dieses wilde Zittern aushalten konnte. Sein Winseln war so schwach, dass man genau hinhören musste, um es überhaupt wahrzunehmen.
»Hey, Kumpel, du bist jetzt bei uns«, flüsterte ich und streichelte ein Stück Haut an seiner Seite, das nicht so aussah, als würden sich gleich Eiter, Wundsekret und Blut daraus ergießen.
Entsetzt blickte ich zu Rod, meinem guten Freund, der mit dem Welpen zu mir gekommen war.
»Himmel, Rod!« Ich verzog das Gesicht.
»Ich weiß«, sagte Rod kopfschüttelnd. »Er ist übel dran, aber er lebt.«
Rod ist ein leidenschaftlicher Tierfreund, genau wie ich, und seit ich hier lebe, haben wir zusammen eine ganze Reihe von Rettungsaktionen gemeistert. Er hatte dieses arme, hilflose Geschöpf am Straßenrand aufgelesen, wo es aus dem Gebüsch gekrochen kam. Wahrscheinlich hatte es dort etwas zu fressen gesucht.
Unmöglich zu sagen, wie der Kleine dorthin gekommen sein mochte. Ich befürchte, dass er Geschwister hatte, die es nicht geschafft hatten. Wir werden wohl nie herausfinden, wie es ihm gelungen war, so lange zu überleben. Wie bei vielen anderen Hunden auch wussten wir nichts über die Vorgeschichte des Welpen. Doch nun war er hier, Rod hatte ihn zu mir gebracht, um mit mir gemeinsam zu überlegen, ob wir sein Leiden irgendwie lindern konnten.
»Ich weiß nicht, ob er es packt«, sagte ich.
Wir hatten keinen blassen Schimmer, was mit seiner Haut los war, was die Ursache für seinen furchtbaren Zustand sein konnte. Zwar ist die Räude, eine durch Milben verursachte Krankheit, in diesem Teil der Welt durchaus verbreitet. Sie verursacht starken Juckreiz, und da sich das befallene Tier ständig kratzt, kommt es zu offenen Wunden, Schorfbildung und Haarausfall. Aber diesen Kleinen schien es irgendwie noch schlimmer getroffen zu haben. Seine Haut war so stark entzündet.
Ich holte die kuscheligste Decke, die ich im Büro auftreiben konnte, und nahm ihn so vorsichtig wie nur möglich damit hoch, in der Hoffnung, dass sie ein schützendes Polster bilden würde. Doch er winselte vor Schmerzen und sah mich mit seinen großen Augen flehentlich an.
»Schhh, alles ist gut«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Man kann nicht anders – wenn man einem Lebewesen, das Schmerzen hat, noch mehr wehtut, fühlt man sich schuldig, selbst wenn man bloß helfen wollte.
Sein rotes, rohes Fleisch lag frei, und aus einigen der schlimmeren Geschwüre floss Eiter. Er hatte nicht sitzen können, weil ihm der Kontakt seines Körpers mit dem harten Boden unsägliche Schmerzen verursachte, und er hatte sich gequält, eine Position zu finden, die zumindest vorübergehend erträglich war. Wenigstens bildete die Decke, in die ich ihn wie ein kleines Baby gehüllt hatte, jetzt einen weichen Kokon.
Draußen wurde es dunkel. Hätte Rod ihn an jenem Abend nicht gefunden, hätte dieser Welpe die Nacht nicht überlebt.
Ich hatte ihn so eingewickelt, dass aus dem kleinen Bündel nur die großen Augen und die Schnauze herausguckten. Zum Schlafen trug ich ihn in eine ruhige Ecke des Büros und legte ein Kuscheltier neben ihn. Das mache ich oft, nicht nur bei Welpen, sondern auch bei ausgewachsenen Hunden, ein bisschen so wie bei einem Baby. Manche Hunde sind davon begeistert, andere zeigen kein Interesse, doch selbst dann fühle ich mich irgendwie besser. Es ist eine freundliche und liebevolle Geste. Ich fragte mich, was der Mutter dieses Welpen zugestoßen sein mochte. Wie musste er sich gefürchtet haben, als ihm mit ihrem Verschwinden jeglicher Schutz genommen worden war.
Langsam legte sich sein Zittern, und die vorher noch vor Angst geweiteten Augen fielen ihm allmählich zu. Er war voller Adrenalin gewesen, im Kampf-oder-Flucht-Modus. Wenn man dem Tod ganz nah ist, dann reagiert der Körper auf diese Weise, das gehört zum Überlebensinstinkt. Doch jetzt war er völlig erschöpft, die Stresshormone schwanden aus seinem kleinen Körper.
Oft habe ich miterlebt, dass Hunde an der Schwelle zum Tod standen. Sobald sie verstehen, dass sie in Sicherheit sind, beginnen sie, sich zu entspannen; das hört sich erst einmal gut an, tatsächlich aber kann es bedeuten, dass es mit ihnen steil bergab geht. Womöglich verliert man sie.
Wir verabreichten ihm ein paar Standardmedikamente, die seine Schmerzen lindern und abschwellend auf seine Geschwüre wirken sollten. Das würde ihm hoffentlich helfen, Schlaf und Erholung zu finden. Und gleich am nächsten Morgen würde ich mit ihm zum Tierarzt fahren. Wenn er die Nacht überlebte und der Arzt zuversichtlich wäre, dass der Kleine durchkommen würde, dann, schwor ich mir, wollte ich ihm ein leckeres Steak und eine frische Makrele braten.
Mir war schon einmal ein Hund mit schlimmer Haut untergekommen. Derek, wie wir ihn getauft hatten, war ein wunderbares, gutmütiges Tier, in das wir alle schrecklich vernarrt waren (und wir sind es immer noch – Derek werde ich euch später noch genauer vorstellen). Mit fettem Fisch wie Makrele sowie mit Liebe, Zuneigung und Geduld hatte ich bei Derek ganz unglaubliche Ergebnisse erzielt. Seine Haut hat sich mit der Zeit gebessert, und inzwischen ist er wieder völlig gesund. Er ist ein herrlicher Hund mit urkomischer Persönlichkeit, und ich bin so froh, dass wir ihn nicht aufgegeben haben und miterleben konnten, wie er aufgeblüht ist und sich endlich guter Gesundheit erfreut.
Ich hoffte sehr, dass ein paar Medikamente, Zeit, hochwertiges Futter und eine Menge Liebe es bei diesem kleinen Kerl ebenfalls richten würden.
»Fahr nach Hause, Rod«, sagte ich zu meinem Freund. Er wirkte beinahe so erschöpft wie der Welpe. Hunderettung ist eine harte, emotional aufreibende Tätigkeit, und man hat so gut wie nie Feierabend.
»Und wie nennen wir unseren Neuankömmling, Niall?«, fragte er, den Autoschlüssel schon in der Hand.
Ich betrachtete das kleine, schlafende Bündel.
»Taufen wir ihn doch Rodney«, sagte ich. »Nach dir. Hoffentlich wird der kleine Rodney wieder gesund, so wie Derek.« Ich war schon immer Fan von Only Fools and Horses gewesen, einer beliebten britischen Sitcom. Und der Gedanke, neben Derek jetzt mit Rodney einen zweiten Hund zur Gesellschaft zu haben, der wie einer der Hauptcharaktere der Sendung hieß, brachte mich zum Schmunzeln.
Nachdem Rod aufgebrochen war, beugte ich mich über seinen kleinen Namensvetter – schuppige, wunde Haut hin oder her –, hauchte ihm ein paar Küsse auf die winzige schwarze Schnauze und wünschte mir, er würde genesen. Nach meiner Schätzung standen die Chancen, dass er morgen früh noch am Leben sein würde, fünfzig zu fünfzig, und ich würde ihn jetzt nicht allein lassen.
Ich streichelte seine winzige Pfote noch ein...