Hardwick | Schlaflose Nächte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

Hardwick Schlaflose Nächte


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70371-6
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 185 mm

ISBN: 978-3-311-70371-6
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Frau blickt zurück auf ihr Leben - die Menschen, die sie gekannt hat, die Orte, an denen sie gelebt hat. Wir begleiten sie zu Pferderennen nach Kentucky, in die Jazzclubs von New York, sehen Billie Holiday in Harlem, besuchen Bostons vornehmstes Viertel, den Beacon Hill, verbringen den Sommer in Maine und den Winter in Manhattan. Auf meisterliche und einzigartige Weise verknüpft Elizabeth Hardwick in ihrem bedeutendsten Roman Fakten und Fiktionen, Erinnerungen, Reflektionen, Porträts, Briefe, Wünsche, Träume - und lässt in funkelnden Vignetten Episoden ihres Lebens aufscheinen: ihre Jugend in Lexington, die beglückenden und die schweren Zeiten mit ihrem Mann, dem Dichter Robert Lowell, die gemeinsamen Reisen nach Europa und durch die USA. Mit einigen wenigen Strichen vermag sie lebendige Porträts der Menschen zu zeichnen, die ihren Weg kreuzten, sowie den Rassismus, den Sexismus und die Armut dieser Zeit zu beleuchten.Schlaflose Nächte ist eines der außergewöhnlichsten Werke der amerikanischen Literatur der vergangenen Jahrzehnte, ein bewegendes Buch der Erinnerung und zugleich eine ebenso feinfühlige wie literarisch brillante Meditation über das Erinnern selbst - elegant, lakonisch, gewagt und weise.

ELIZABETH HARDWICK wurde 1916 in Kentucky geboren, wo sie auch ihre ersten Studienjahre verbrachte. Ihre Dissertation über die Literatur des 17. Jahrhunderts an der Columbia University in New York beendete sie nicht, weil sie nicht länger über die Literatur anderer schreiben, sondern selbst literarisch tätig sein wollte. Doch das essayistische, literarkritische Schreiben blieb einer der Pfeiler ihres Schaffens: Die Frauenrechtlerin Mary McCarthy brachte sie 1945, dem Jahr, in dem Hardwicks erster Roman The Ghostly Lover erschien, zur Partisan Review, für die Hardwick in den kommenden Jahren zahlreiche Artikel verfasste. 1959 schrieb sie einen Artikel für das Harper's Magazine, der Furore machte: Hardwick prangerte darin den Niedergang der zeitgenössischen Literaturkritik an. 1962 gehörte sie selbst zu den Gründer*innen einer der bedeutendsten Literaturzeitschriften der Welt, der New York Review of Books. Unter ihren vier Romanen stellt Sleepless Nights, veröffentlicht 1979, zweifellos den Höhepunkt dar. Elizabeth Hardwick starb 2007 im Alter von 91 Jahren in Manhattan.
Hardwick Schlaflose Nächte jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Erster Teil


Es ist Juni. Ich habe beschlossen, jetzt mit meinem Leben Folgendes anzufangen: Ich werde die Arbeit umgeformter und sogar verzerrter Erinnerung leisten und das Leben führen, das ich heute führe. Jeden Morgen die blaue Uhr und die gehäkelte Tagesdecke mit den rosa, blauen und grauen Quadraten und Rauten. Wie schön es ist – dieses Werk einer gebrochenen alten Frau in einem armseligen Altersheim. Schönheit und Schmutz und Elend in einem unaufgeregten Kampf miteinander – das sehe ich. Schöner jedoch ist der Tisch mit dem Telefon, den Büchern und Zeitschriften, die vor der Tür, das Vogelgezwitscher schwerer, knirschender Lastwagen auf der Straße.

Wenn man nur wüsste, woran man sich erinnern oder vorgeben sollte, sich zu erinnern. Man treffe eine Entscheidung, und was man von den verlorenen Dingen haben will, präsentiert sich von selbst. Man kann es wie eine Konservendose aus dem Regal nehmen. Auf einer Dose würde »Rand Avenue in Kentucky« stehen, und manche würden zumindest die Adresse wiedererkennen. In der Dose sind die schwärzlichen Veranden des Winters, die Roste des Gasherds, das Gewimmel.

Das Sonnenlicht blendet mich. Wenn ich aufschaue, sehe ich verwirrende Elektrizität hinter den Fenstern. Vielleicht werden die Schatten ausreichen, das Licht und der Schatten. Stell dir vor, du wärst in Apollinaires Gedicht:

Da bist du in Marseille inmitten von Wassermelonen.

Da bist du in Koblenz im Gasthaus zum Riesen.

Da sitzt du in Rom unter einer japanischen Mispel.

Da bist du in Amsterdam …

Liebste M.: Da bin ich in Boston, in der Marlborough Street Nummer 239. Ich schaue hinaus in einen Schneesturm. Er kam wie ein großer Waffenstillstand, setzte allen dummen Kämpfen ein Ende. In diesem außergewöhnlichen Schnee laufen die Leute in wunderbaren Kostümen herum – in alten Mänteln mit Pelzkragen, Wollmützen, Schals, Stiefeln, ledernen Wanderschuhen, die wie Kupfer glänzen. Im gelben Licht der Straßenlampen stellt man sich vor, wie es vor vierzig oder fünfzig Jahren war. Die Stille, das offene Weiß – Nostalgie und Romantik in der klaren, stillen weißen Luft …

Mehr oder weniger eingelebt in diesem hübschen Haus. Maßgeschneiderte geblümte Vorhänge, zugeschnittene Läufer auf den Treppen, Bücherregale, Holz für den Kamin. Die vier Stockwerke hinauf- und hinunterzugehen gibt einem das Gefühl von Eigentümerschaft – vielleicht. Es mag deins sein, aber das Haus, die Möbel tendieren zum Üblichen, und bald wird es sich wie eine Regieanweisung lesen: Kulisse – Boston. Dem Gesetz wird Folge geleistet. Kommoden, Tische, Geschirr, häusliche Gewohnheiten passen sich an.

Wunderschöne neoklassizistische Kaminsimse aus verziertem Marmor in bleichen Schwarz- und den blassesten Grüntönen. »Sind allein schon den Preis des Hauses wert« – die hinausposaunte Meinung des Verkäufers und ausnahmsweise wahr. Doch es ist das ganze Haus, das mich beschäftigt. Im ersten Stock zwei Salons. Prächtig, ja, aber 239 hat sicherlich auch Nischen des Mangels, Ecken der Schäbigkeit. Dennoch, es ist eine Kulisse.

Da bin ich im Erkerfenster mit meinem blühenden Hibiskus. Der andere Salon geht auf die schmale Straße zwischen Marlborough und Beacon hinaus. Dort hält ein Idiot einen Hund an der Kette, Tag und Nacht. Junggesellenabfall, Verfall, Verwirrung häufen sich um den Mann. Ich denke mir, dass er einst eine Familie hatte, aber sie lebt nicht mehr bei ihm. Ich stelle mir vor, dass die Kinder ihn besuchen und er sagt: »Kommt und schaut euch den Hund an der Kette an. Er ist ein Geschenk.« Im Interesse des Hundes rufe ich die Polizei. Der Mann blickt verstört zu meinem Fenster herauf und fragt sich, was er falsch gemacht hat. Darwin hat einmal geschrieben, der Gedanke an das immerwährende Leiden der niederen Tierarten sei ihm unerträglich geworden.

In Liebe,

ELIZABETH

Anfang Juni war es heiß. Ich machte eine Reise, und natürlich war alles sofort neu. Wenn man reist, entdeckt man als Erstes, dass man nicht existiert. Der Phlox blühte in blassem Lila; auf dem Hügel phallische Kiefern. Ausländer unter den Arkaden, in den Korbgeschäften. Die Hügelkuppen verschwammen in einem feuchten Dunst. Ein schmutziger matt machender Himmel. Der Sommer schien sich bereits dem Ende zuzuneigen. Bald würden die Boote eingeholt, die Fähren am Pier vertäut.

Suche nach dem Versteinerten, nach etwas – Personen und Orte dick und verkrustet in einer endgültigen Form; stattdessen gibt es viele, viele kleine Fische, die wild herumschwimmen, zitternd, achtsam, um dem Netz zu entgehen.

Kentucky: gehört sicherlich dazu. Meine Mutter lebte als Mädchen in so vielen Städten in North Carolina, dass ich sie in der Erinnerung durcheinanderbringe. Raleigh und Charlotte. Sie kannte ihre Eltern kaum; wie alle Leute damals starben sie schnell, an was immer gerade in der Luft war – Lungenentzündung, Diphterie, Tuberkulose. Ich habe nie jemanden gekannt, der der Vergangenheit gegenüber so gleichgültig war. Es war, als wüsste sie nicht, wer sie war. Sie hatte Brüder und Schwestern und wurde von ihnen großgezogen, gab ihre Namen an uns weiter.

Ihr Gesicht, das meiner Mutter, kann ich nicht klar vor mir sehen. Eine weiche Hübschheit ohne Knochen, kleine braune Augen, hauchdünne Augenbrauen, nachgezogen mit einem Bleistift.

Liebste M.: Da bin ich wieder in New York, in der 67th Street in einem hoch aufragenden Haus mit langen schmutzigen Fenstern. Am späten Nachmittag, unter dem finsteren Winterhimmel, stelle ich mir manchmal vor, es wäre Edinburgh in den Neunzigern. Ich war nie in Edinburgh, aber ich mag Städte vertretbarer Größe, Provinzhauptstädte. Doch das ist definitiv New York, unterhalb und oberhalb von mir. Der Umzug von Boston war nicht leicht. Einer Ozeanüberquerung nicht unähnlich oder einer Fahrt durch das ganze Land – als müssten alle deine Dinge über das Gebirge geschleppt werden. Der aufgebockte Tisch und die Aufsatzkommode waren wirklich schlecht vorbereitet auf das plötzliche Exil, den Regierungswechsel, der in gewisser Weise auch mir bevorstand. Nun, Räuchereiche steht in der Ecke, Flaschen und Eiskübel darauf. Fünf der Teller der Marineakademie sind zerbrochen. Die Uhren haben einen tödlichen Schlag erlitten und werden nie wieder zum Leben erwachen. Die alten Sekretäre stehen starr, gedemütigt, angeschlagen.

Vertriebene Dinge und alte Leute, steif, mit müden Venen und verstopften Arterien, mit Hühneraugen und schmerzenden Fußgewölben, spärlichem Haar und zerstreuten Gedanken, als kämen sie über die Karpaten, aus den Sümpfen – so ist es hier in der heiligen Stadt. Tante Lottes Porträt wird nie wieder ausgepackt werden. Sie findet ihre letzte Ruhestätte im Grab einer Kiste, im Keller, ihr Requiem ist das Brummen der U-Bahn in der Seventh Avenue.

Selbstverständlich gehören die Sachen nicht . Ich glaube, man nennt sie für gewöhnlich , dieser Teebeutel von einem Wort, der ins Konditional getaucht wird.

In Liebe, in Liebe,

ELIZABETH

»Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung«, schrieb Goethe. Wieder einmal New York, das immer bleiben wird, sich auf den großzügigen Annehmlichkeiten ausruht, die es für Frauen bereithält. Lange Kleider, Arroganz, so viele Möglichkeiten, die Betrüger zu betrügen, Vertraute, Verschwörer, Kreditkarten.

Damals war ich ein »Wir«. Er albert herum, lächelt, trinkt Gin nach einem langen Arbeitstag, sagt so etwas wie das hier vor sich hin:

Die Tyrannei der Schwachen ist belastend, und doch ist es besser, von den Schwachen ausgebeutet zu werden als von den Starken … Unterwerfung unter die Mächtigen ist eine Redundanz und sehr ermüdend und letztlich langweilig. Sie hat nichts Subtiles oder Interessantes … vor allem weil diese Übung zu häufig erfolgt. Ein Training am Morgen, ein weiteres Mal am Abend … Mann-Frau: nichts Neues zu entdecken in dieser unerschütterlichen klassischen Tradition. Streit ist wie das Schleifen rostiger Schneiden, der alte Motor und sein ärgerliches Klopfen. Der Hund knurrt. Auch er kennt seinen Text.

Kann es sein, dass ich das Thema bin?

Stimmt, bei den Schwachen passiert ständig etwas: Improvisation, Überraschung, Spannung, Ungerechtigkeit, Manipulation, Hypochondrie, heimliches Trinken, Eifersucht, Lügen, Weinen, Verstecken im Garten, Aufbruch mitten in der Nacht. Die Schwachen haben den reinsten Sinn für Geschichte. Alles kann passieren. Jeder von ihnen ist ein Palmist, der in der eigenen Hand liest. Ja, ich werde entweder ein langes oder ein kurzes Leben haben; er (sie) wird entweder blond oder dunkelhaarig sein.

Fahrkarten, Übersiedlungen, Sorgen, Eigentum, Schulden, Änderungen und Rückänderungen des Namens: Das kommt davon, wenn man viele Bücher liest. Also, von Kentucky nach New York nach Boston nach Maine nach Europa, mitgerissen von einem Fluss aus Absätzen und Kapiteln, reimlosen Versen, dünnen Büchern, übersetzt aus dem Polnischen, dicken Büchern aus dem Russischen – alle gelesen in sitzender Schlaflosigkeit. Genügt das – abgesehen davon, dass es die Wahrheit ist. Sicherlich ist es nicht so dramatisch wie: Ich sah den alten Fregattenkapitän mit dem weißen Bart am Pier und...


Hardwick, Elizabeth
ELIZABETH HARDWICK wurde 1916 in Kentucky geboren, wo sie auch ihre ersten Studienjahre verbrachte. Ihre Dissertation über die Literatur des 17. Jahrhunderts an der Columbia University in New York beendete sie nicht, weil sie nicht länger über die Literatur anderer schreiben, sondern selbst literarisch tätig sein wollte. Doch das essayistische, literarkritische Schreiben blieb einer der Pfeiler ihres Schaffens: Die Frauenrechtlerin Mary McCarthy brachte sie 1945, dem Jahr, in dem Hardwicks erster Roman The Ghostly Lover erschien, zur Partisan Review, für die Hardwick in den kommenden Jahren zahlreiche Artikel verfasste. 1959 schrieb sie einen Artikel für das Harper’s Magazine, der Furore machte: Hardwick prangerte darin den Niedergang der zeitgenössischen Literaturkritik an. 1962 gehörte sie selbst zu den Gründer*innen einer der bedeutendsten Literaturzeitschriften der Welt, der New York Review of Books. Unter ihren vier Romanen stellt Sleepless Nights, veröffentlicht 1979, zweifellos den Höhepunkt dar. Elizabeth Hardwick starb 2007 im Alter von 91 Jahren in Manhattan.

Grube, Anette
ANETTE GRUBE, geboren 1954, lebt in Berlin und arbeitet seit 1988 als literarische Übersetzerin. Unter anderem hat sie Werke von Arundhati Roy, Sigrid Nunez und Chimamanda Ngozi Adichie ins Deutsche übertragen.

Shahbazi, Shirana
SHIRANA SHAHBAZI, geboren 1974 in Teheran, ist eine international renommierte Künstlerin und Fotografin. Das Cover von Schlaflose Nächte zeigt ihre Fotoarbeit. Ihr Werk verdeutlicht, dass Wahrnehmung ein aufwendiger Konstruktionsprozess ist, der die Wirklichkeit nie abbildet, sondern immer inszeniert. Shahbazi komponiert mit fotografischen Mitteln komplexe Bildräume, die sich durch leuchtende Farben und verschiedene Formen der Überlagerung auszeichnen. Shahbazi ist in den Sammlungen wichtiger Institutionen weltweit vertreten und wurde im Jahr 2019 mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet. Sie lebt in Zürich.

McBride, Eimear
EIMEAR MCBRIDE, geboren 1976 in Liverpool, wuchs im Westen Irlands auf und wurde am Drama Centre London ausgebildet. Um für ihren ersten Roman A Girl is a Half-formed Thing (2013) einen Verlag zu finden, brauchte sie neun Jahre. Anschließend wurde er mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman The Lesser Bohemians (2016) erhielt den James Tait Black Memorial Prize. Mit Strange Hotel erschien 2020 ihr dritter Roman. Sie lebt mit ihrer Familie in London.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.