E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
Harrington Ist die Liebe nicht schön?
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95649-926-5
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weihnachtsroman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-95649-926-5
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte, so wohlig und warm wie eine heiße Schokolade!
Weihnachten war stets die schönste Zeit des Jahres für Belle. Die funkelnden Lichter Dublins, der knirschende Schnee unter den Schuhen, der Zauber, der in der Luft liegt. Doch dieses Jahr ist sie blind für all das, und ihre Welt ist grau, nachdem sie alles verloren hat, was sie liebt. Aber Weihnachten hat auch dieses Jahr nicht seinen Zauber verloren ... und schickt Belle jemanden, der ihr vor Augen führen soll, wie schön das Leben ist.
Carmel Harrington glaubt an Happy Ends, weil sie ihr eigenes gefunden hat. Sie lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Irland, und ihr Leben ist erfüllt von Geschichten, Spielen, Spaziergängen am Strand, Schokolade und Liebe in Hülle und Fülle.
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1. KAPITEL
Dezember 1988
Sie hat die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt. Das ist doch nicht normal. Sie sollten sie besser untersuchen lassen. Vielleicht stimmt etwas nicht mit ihr“, sagt Mrs. Gately, meine Noch-Pflegemutter, und tippt sich mit dem Finger vielsagend an die Stirn.
„Das ist nicht das erste Mal. Dass sie nicht spricht, meine ich“, erwidert Mrs. O’Reilly in ähnlich verächtlichem Ton.
Mrs. O’Reilly ist die Frau vom Jugendamt, die für mich zuständig ist, solange ich denken kann. Sie scheint jetzt nicht gerade glücklich über mich zu sein. Aber sie soll nicht böse sein. Ich bin doch immer ganz lieb. Trotzdem ärgern sich die Erwachsenen ständig über mich. Vor allem meine Mutter hat dies fortwährend getan.
Ich drücke Dee-Dee, meine Puppe, fester an mich und streichle ihr übers schwarze Haar. Ich will nicht an meine Mutter denken.
„Frohe Weihnachten, Belle“, sagt Mrs. Gately extra laut. Sie macht einen Schritt in meine Richtung, als wollte sie mich umarmen. Aber im letzten Moment überlegt sie es sich anders und streicht mir stattdessen über den Kopf.
Ein Glück! Sie riecht nämlich so komisch. Ihr Parfüm kitzelt mir in der Nase, ich muss davon immer niesen. Sie ist offensichtlich froh, mich los zu sein. Vorhin hörte ich, wie sie zu ihrem Mann sagte, dass es das nicht wert sei. Und obwohl ich erst acht bin, wusste ich sofort, dass sie mit „es“ mich meint.
„Schnall dich an, Belle!“, sagt Mrs. O’Reilly über die Schulter. Oje, sie ist böse auf mich. Aber als sie mich im Rückspiegel anschaut, wird ihr Ausdruck sanfter. Mit einer seltsam hohen Stimme erklärt sie: „Wart’s ab. Es wird dir gefallen. Tess ist sehr nett. Und diesmal ist es für immer. Ist das nicht schön? Ein neues Zuhause? Für dich und deine sieben Sachen?“
Ich senke den Blick. Zu meinen Füßen liegt ein kleiner Rucksack. Da ist alles drin, was ich besitze.
„Belle!“ Sie klingt gereizt. Oh, sie will, dass ich antworte.
Ich nicke und verziehe den Mund zu einem Lächeln. Obwohl mir überhaupt nicht zum Lachen ist.
Sie scheint zufrieden zu sein. Jedenfalls wendet sie den Blick vom Rückspiegel ab und guckt wieder auf die Straße vor uns.
Was glaubst du, Dee-Dee? Ist das neue Zuhause wirklich für immer? Dee-Dee lügt nie. Ich glaube, sie ist das einzige Wesen auf der ganzen Welt, das immer die Wahrheit sagt.
Aus ihren dunkelbraunen Augen guckt sie mich an. „Na ja, bei Joan und Daniel sollten wir doch auch für immer bleiben.“
Stimmt. Tatsache ist, dass Mrs. O’Reilly denselben Satz schon zigmal gesagt hat.
Wie jedes Mal, wenn ich an Joan und Daniel denke, kriege ich Angst. Ich will zurück nach Dun Laoghaire, zurück in das Haus, in dem ich die letzten Jahre gelebt habe. Nur dass Joan und Daniel nicht mehr da sind. Das Haus steht leer, es soll verkauft werden. Meine ehemaligen Pflegeeltern sind jetzt woanders, „Silicon Valley“ heißt es. Ich weiß nicht, wo das ist. Es muss weit weg sein, denn sie sind mit dem Flugzeug geflogen.
Warum haben sie mich nicht mitgenommen, Dee-Dee? Mir wird übel.
Dee-Dee guckt mich traurig an. Ich weiß, wie sie sich fühlt.
Alle verlassen sie uns. Am Ende lassen sie uns immer allein.
„Hey, mach dir nichts draus. Solange wir zu zweit sind, wird alles gut“, sagt Dee-Dee.
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und nicke. Ja, alles wird gut.
Mrs. O’Reilly plappert munter weiter. Wie toll das neue Haus in Drumconda ist. Wie gut es mir dort gefallen wird. Wie aufregend, was für ein Abenteuer. Das sagt sie jetzt schon zum zweiten Mal. Und obwohl ich nicht in einem Flugzeug fliegen muss, weiß ich ganz genau, dass es weit weg ist von meinem alten Zuhause.
„Deine neue Pflegemutter, Tess, nimmt seit dreißig Jahren Kinder bei sich auf. Du kriegst ein eigenes Zimmer. Ganz für dich allein. Ist das nicht toll? Und du kannst jeden Tag zu Fuß zur Schule gehen. Wie vorher bei Joan und Daniel.“
Sie lächelt mir im Rückspiegel zu.
Ihre Augen – ihre Augen lächeln nicht. Wenn mich jemand anlächelt, gucke ich den Leuten immer in die Augen, um zu sehen, ob sich da Falten bilden. Wenn ja, ist das Lachen echt. Viele Menschen tun nur so, als würden sie lachen. Mrs. O’Reilly zum Beispiel.
Jetzt bremst sie. Und fährt dann mit einem Ruck an, in den Feierabendverkehr hinein. Mir ist ein bisschen schlecht. Also schließe ich die Augen und versuche, die Übelkeit zu unterdrücken.
„Bald beginnen die Weihnachtsferien. Die Schule fängt für dich aber erst im Januar an. Dann hast du Zeit, dich einzuleben. Neujahr, ein neuer Anfang. Das ist doch super! Und so aufregend, nicht wahr? Dir wird’s gefallen, glaub mir. Wart’s nur ab“, sagt sie mit dieser falschen Stimme.
Ich traue ihr nicht. Obwohl ich erst acht bin, weiß ich, dass man niemandem trauen darf. Ständig lügen die Leute.
Dee-Dee glaubt das auch.
„So viel Verkehr heute Abend.“ Mrs. O’Reilly schaut nervös auf die Uhr.
Die Scheibe ist beschlagen. Mit meinem Arm wische ich darüber und sehe aus dem Fenster. Wir halten, schon wieder Rot. Bei Grün dürfen wir fahren. Das habe ich in der Schule gelernt. Was Gelb bedeutet, kann ich mir nie merken. Soll man da halten oder gehen?
Jetzt fahren wir weiter. Aber nur ein bisschen, dann bremsen wir wieder.
Als mein Magen sich zusammenzieht, sagt Dee-Dee: „Du darfst nicht in Mrs. O’Reillys Auto spucken!“ Ich spüre Magensäure in meiner Kehle und schlucke. Mrs. O’Reilly würde so wütend werden, wenn ich mich in ihrem Auto übergeben muss. Vielleicht bringt sie mich dann nicht zu diesem neuen Zuhause. Und was dann? Wo soll ich dann hin?
Verzweifelt versuche ich, an irgendetwas anderes zu denken. Irgendetwas, jetzt bloß nicht spucken!
Ein rotes Auto hält neben uns. Um mich abzulenken, zähle ich die Insassen. Eins, zwei, drei, vier. Kinderleicht. Im Rechnen bin ich gut. Ich kann bis eintausend und neunundzwanzig zählen. Bestimmt schaffe ich auch zweitausend. Aber letztes Mal habe ich kurz nicht aufgepasst und bin durcheinandergekommen. Vielleicht schaffe ich’s jetzt.
Ein Mädchen guckt zu mir rüber und winkt. Ich winke zurück. Zu ihr und ihrer Familie. Jedenfalls glaube ich, dass es eine richtige Familie ist. Der Vater fährt, die Mutter sitzt neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie dreht sich nach hinten, zu ihren Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Ich kann nicht hören, was sie sagt. Aber es muss lustig sein, denn alle lachen.
Die Mutter hat ein schönes Gesicht. Freundlich und sehr fröhlich sieht sie aus.
Wie kann man nur so blöd sein? Verschwinde! Hau ab, du blödes Gör!
Tränen schießen mir in die Augen, wenn ich mich daran erinnere. Es tut weh, wie Seitenstechen, wenn ich zu schnell laufe. Ich hauche an die Fensterscheibe, damit sie beschlägt und ich die lachende Familie nicht mehr sehen muss.
Bis tausend zählen mag ich auch nicht mehr.
„Nicht weinen!“, sagt Dee-Dee, als sie sieht, wie traurig ich bin. „Die Erwachsenen regen sich nur auf, wenn du weinst.“
Ich seufze, kneif mir in den Arm und senke wieder den Blick. Still streichle ich Dee-Dees Kopf.
„Was wünschst du dir dieses Jahr vom Weihnachtmann, Belle?“, fragt Mrs. O’Reilly, und ich erschrecke.
Traurig zucke ich mit den Schultern. Mir doch egal. Der Weihnachtsmann weiß noch nicht mal, wo ich wohne. Die letzten zwei Jahre war er bei Joan und Daniel. Und davor? Davor ist er, glaube ich, gar nicht gekommen.
„Der Weihnachtsmann kann Wunder vollbringen. Bestimmt findet er dich“, sagt Dee-Dee. „Ganz bestimmt.“ Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Nur Dee-Dee kann mich immer aufmuntern.
„So, jetzt muss ich nur noch einen Parkplatz finden“, meint Mrs. O’Reilly.
Auf beiden Straßenseiten stehen rote Backsteinhäuser. Es ist jetzt fast ganz dunkel. Große Bäume werfen Schatten auf die Vorgärten. In einigen der Fenster sehe ich Weihnachtsbäume und Lichterketten in der Auffahrt.
„Belle, sieh mal! Die rote Tür da vorn, da wohnst du.“ Mrs. O’Reilly zeigt auf ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
In dem Fenster sehe ich keinen Weihnachtsbaum.
Das Haus sieht … es sieht düster aus und bedrohlich. Ich glaube nicht, dass ich mich da wohlfühlen werde.
„Nicht weinen!“, ermahnt mich Dee-Dee, als wir die Auffahrt hochgehen. An der Tür klingelt Mrs. O’Reilly. Mir stockt der Atem, und ich halte Dee-Dee ganz fest. Ein Schatten nähert sich der Tür, das erkenne ich durch die dicken Glasscheiben.
„Du zitterst ja“, sagt Mrs. O’Reilly und drückt mich an sich. „Gleich hast du’s schön warm und kuschelig.“
Jemand öffnet die Tür. Ich schnappe nach Luft und weiche einen Schritt zurück. Vor mir steht der große böse Wolf … in einem hellgelben Kleid.
Der Wolf sieht aus, als würde er mich gleich fressen wollen.
„Sie ist dick!“, sagt Dee-Dee.
Sei lieb, schimpfe ich. Das sagt man doch nicht. Allerdings habe ich noch nie jemanden so Dickes gesehen.
„Wahrscheinlich ist sie so dick, weil sie alle Kinder auffrisst, die zu ihr kommen.“ Dee-Dee hört einfach nicht auf.
Echt toll, Dee-Dee. Das hilft mir gar nicht. Schnell werfe ich einen Blick zurück auf das Auto.
Bevor ich zurückrennen kann, lächelt der Wolf breit. Reißzähne hat sie nicht. Nur leicht gelbliche Schneidezähne. Und sogar Dee-Dee findet, dass sie sich darüber zu freuen scheint, uns zu sehen. Sie bittet uns ins Haus und sagt, sie hätte Süßigkeiten für uns.
„Okay.“ Dee-Dee ist einverstanden. Wir beide lieben...