Harris Tanz im Dunkel
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-95576-061-8
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In tiefer Nacht
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: MIRA Taschenbuch
ISBN: 978-3-95576-061-8
Verlag: MIRA Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Tänzerin Layla Rue Le May flüchtet vor einem Stalker - direkt in die Arme ihres Partners Sean McClendon. Aber ist sie bei ihm wirklich sicher? Oder tanzt sie gerade ihren letzten Tanz mit dem dreihundert Jahre alten rothaarigen Vampir?
Charlaine Harris ist eine amerikanische Bestsellerautorin, die seit dreißig Jahren Mystery-Romane schreibt. Harris wurde 1951 in Tunica, Mississippi, geboren. Die ehemalige Gewichtheberin und Karate-Studentin lebt heute mit ihrem Mann und drei Kindern in Magnolia, Arkansas. Ihre ersten schriftstellerischen Arbeiten waren vorwiegend Gedichte über Geister und die Nöte junger Erwachsener, später, während ihres Studiums am Rhodes College in Memphis, Tennessee, verfasste sie vor allem Theaterstücke. Nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe arbeitete sie als Schriftsetzerin für verschiedene lokale Tageszeitungen. Kurz nach der zweiten Hochzeit begann sie dann, Romane zu schreiben. Harris liebt Serien - jedenfalls bei ihrer schriftstellerischen Arbeit. Ihr Roman "Real Murders", der erste Teil ihrer Aurora Teagarden-Serie, wurde 1990 als bester Roman für den Agatha Award nominiert. 1996 erschien der erste Band ihrer Shakespeare-Serie um die Putzfrau und Detektivin Lily Bard, doch am bekanntesten ist Charlaine Harris als Autorin der Southern Vampire Mysteries um die Kellnerin Sookie Stackhouse, die mit ihren telepathischen Fähigkeiten alle möglichen mysteriösen Fälle löst. Harris ist Mitglied von Schriftstellerorganisationen wie "Mystery Writers of America" und der "American Crime Writers League" und zusammen mit Joan Hess Präsidentin der "Arkansas Mystery Writers Alliance".
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2. KAPITEL
Sean war bereits im Tanzstudio, trug abgeschnittene Jogginghosen und ein ärmelloses T-Shirt und wartete. Die neue Kollegin war noch nicht zu spät dran. Sie würde pünktlich sein, denn sie brauchte den Job. Er war ihr an dem Tag, als sie sich bei Sylvia vorgestellt hatte, nach Hause gefolgt. In den vielen Jahren, seit er ein Vampir war, war er immer auf der Hut gewesen – und genau das hatte ihn nun mehr als 275 Jahre am Leben erhalten. Eine seiner Vorsichtsmaßnahmen war es, die Leute, mit denen er zu tun hatte, gut zu kennen. Und deshalb war Sean entschlossen, mehr über Rue herauszufinden.
Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie war ganz offensichtlich arm. Doch sie hatte eine mehrjährige Tanzausbildung genossen, war gepflegt und hatte eine perfekte Frisur. Außerdem deutete ihre Art zu sprechen darauf hin, dass sie aus privilegierten Verhältnissen stammte. War es möglich, dass sie irgendeine Art von Spion war, der verdeckt ermittelte? Doch hätte Rue – wenn es denn so wäre – nicht die Gelegenheit am Schopf gepackt, für das Black-Moon zu arbeiten? Es war der einzige Aspekt an Sylvias Unternehmen, der in irgendeiner Form von Interesse sein könnte. Vielleicht war Rue ja auch nur ein reiches Mädchen, das einen abenteuerlichen Nervenkitzel suchte.
Während seiner ersten fünfzig Jahre als Vampir hatte Sean O’Rourke sein Möglichstes getan, um seine Existenz vor der Welt der Menschen zu verstecken. Er hatte sich auch von Seinesgleichen ferngehalten; wenn er mit ihnen zusammen war, wurde die Versuchung, seine wahre Natur zu erforschen, zu groß. Sean war von dem Mann, der ihn zum Vampir gemacht hatte, im Stich gelassen worden. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, die einfachen Regeln zu lernen, die seinen Zustand betrafen. In seiner Unwissenheit hatte Sean in den Elendsvierteln von Dublin Menschen umgebracht. Erst mit der Zeit hatte er gelernt, dass es nicht notwendig war, seine Opfer zu töten. Ein kleiner Schluck Blut jede Nacht erhielt ihn am Leben. Außerdem hatte er sich die mentale Technik angeeignet, die Erinnerung seiner Opfer zu löschen. Fast ebenso erfolgreich hatte er gelernt, seine eigenen Erinnerungen zu löschen.
Nach fünfzig Jahren, in denen er stärker und kälter geworden war, hatte er es riskiert, sich in die Gesellschaft anderer Vampire zu wagen. Ab und zu hatte er sich verliebt, doch das hatte jedes Mal kein gutes Ende genommen – egal, ob die Frau, die er liebte, ein Mensch oder ein Vampir wie er selbst gewesen war. Seine neue Partnerin, diese Rue, war schön. Eine der schönsten Frauen, die er in den letzten Jahrhunderten gesehen hatte. Sean konnte diese Schönheit bewundern, ohne ihr zu erliegen. Denn er wusste, dass mit Rue etwas nicht stimmte – etwas, das tief in ihrem Inneren versteckt war. Er hatte nicht all die Jahre Menschen beobachtet, sie regelrecht studiert, ohne es mittlerweile zu erkennen, wenn ein Mensch etwas verbarg. Möglicherweise war sie ja ein Spion von einer dieser fanatischen Organisationen, die mit dem Ziel gegründet worden waren, Vampire zurück in die Dunkelheit der Schatten zu drängen. Oder sie war drogensüchtig oder litt an einer anderen Krankheit, die sie so lang wie möglich zu verheimlichen hoffte.
Sean zuckte die Achseln. Er hatte schon viel zu viel darüber nachgedacht, was mit Rue los sein könnte. Was auch immer ihr Geheimnis war – er würde es irgendwann herausfinden. Allerdings freute er sich nicht auf diesen Moment. Er wollte möglichst lange mit ihr tanzen. Sie war leicht und biegsam in seinem Arm, sie roch gut, und beim Anblick ihres dichten, mahagonibraunen Haars, das beim Tanzen mitschwang, spürte er ein sehnsüchtiges Ziehen in der Brust.
Obwohl Sean versuchte, es vor sich zu leugnen, freute er sich mehr darauf, sie zu kosten, als er sich seit Ewigkeiten auf etwas gefreut hatte.
Der Trainingsraum war ein größeres Tanzstudio, das sich hinter dem Raum befand, in dem sie Sylvia und die anderen das erste Mal getroffen hatte. Auf dem Terminplan war für die Zeit von 18 Uhr 30 bis 20 Uhr “Sean/Rue” eingetragen. Rue sah, dass Julie und Thompson nach ihnen trainieren würden.
Die Aussicht, allein mit dem Vampir zu sein, machte sie nervös. Er wartete bereits auf sie – genauso reglos und ruhig wie vor zwei Tagen. Als Vorsichtsmaßnahme hatte sie ein Kettchen mit einem Kreuz umgelegt und es unter ihrem alten, grauen Trikot versteckt. Die schwarzen Shorts, die sie über das Trikot angezogen hatte, waren aus glänzender Kunstfaser. Außerdem hatte sie Ballettschuhe, Steppschuhe und die Charakterschuhe mit den Riemchen mitgebracht, mit denen sie klassische und lateinamerikanische Tänze tanzte. Sie nickte Sean zur Begrüßung zu und ließ die Schuhe auf den Boden fallen. “Ich wusste nicht, was du trainieren willst”, erklärte sie und war sich nur allzu sehr bewusst, dass ihre Stimme vor Nervosität ein bisschen zitterte.
“Warum sind das andere Initialen als deine?”, fragte er. Sogar seine Stimme klang staubig. So, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Zu ihrem Entsetzen musste Rue feststellen, dass sie seinen leichten irischen Akzent trotzdem hinreißend fand.
“Was meinst du? Oh, die Anfangsbuchstaben auf dem Beutel mit den Schuhen?” Sie hörte sich wie ein Idiot an, dachte sie und biss sich auf die Lippe. Diesen Schuhbeutel besaß sie schon so lange, dass ihr das Monogramm gar nicht mehr aufgefallen war.
“Wie ist dein richtiger Name?”
Sie wagte es, ihn kurz anzusehen. Die leuchtend blauen Augen waren nur blaue Augen; sie waren zwar auf sie gerichtet, doch Sean versuchte nicht, sie dadurch in seinen Bann zu ziehen – oder was auch immer es war, was Vampire taten. “Das ist ein Geheimnis”, antwortete sie wie ein kleines Kind und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt.
“Wie heißt du wirklich?” Er klang immer noch ruhig, doch es war offensichtlich, dass er nicht lockerlassen würde. Im Grunde nahm Rue es ihm nicht übel. Sie war seine Tanzpartnerin. Er hatte ein Recht zu wissen, wer sie war.
“Ich nenne mich Rue L. May. Mein richtiger Name ist Layla LaRue LeMay. Meine Eltern mochten den Song. Kennst du ihn?” Sie sah ihn zweifelnd an.
“Welche Version? Das Original von Cream oder das langsamere Solo von Eric Clapton?”
Sie lächelte, wenn auch ein bisschen unsicher. “Die Originalversion”, antwortete sie. “In ihrer wilden Zeit dachten meine Eltern, es wäre cool, ihre Tochter nach einem Song zu nennen.” Heute war es schwer vorstellbar, dass es im Leben ihrer Eltern jemals eine Zeit gegeben hatte, in der sie unkonventionell und nicht darauf bedacht gewesen waren, was wohl die Leute von ihnen dachten. Sie senkte den Blick. “Bitte sag niemandem, wie ich heiße.”
“Versprochen.” Sie glaubte ihm. “Wo leben deine Eltern jetzt?”, erkundigte er sich.
“Sie sind gestorben”, antwortete sie, und er wusste, dass es gelogen war. Und obwohl er erst ihr Blut kosten musste, um es wirklich zu wissen, hatte Sean den Verdacht, dass seine neue Tanzpartnerin ein Leben in Angst führte.
Nachdem sie sich aufgewärmt hatten, begannen sie mit dem Training. Es klappte recht gut. Solange sie sich beide auf das Tanzen konzentrierten, fiel es ihnen auch leicht, miteinander zu reden. Wenn sie irgendein persönliches Thema streiften, nicht.
Sean erzählte, dass man fast nie für Stepptanz engagiert wurde. “Die Leute, von denen wir die Aufträge bekommen, wollen entweder etwas Temperamentvolles oder etwas Romantisches”, erklärte er. “Für Charity-Bälle wollen sie meistens ein Paar, das Tango tanzt oder tolle Hebefiguren draufhat. Bei Verlobungsfeiern, Geburtstagspartys und dergleichen wollen sie langsame, erotische Tänze, die immer mit einem Biss enden.”
Rue fand es bewundernswert, wie sachlich er darüber redete – so, als wären sie beide Profis oder Schauspieler, die eine Szene probten. Eigentlich ein guter Vergleich, dachte sie.
“So etwas habe ich noch nie gemacht”, erklärte sie. “Also das mit dem Beißen. Ach übrigens, beißt du immer in den Hals?” Sie versuchte, ihre Frage bezüglich des Tanzfinales möglichst gelassen und sachlich klingen zu lassen. Sie war stolz, wie ruhig sie sich anhörte.
“Das ist die Stelle, die das Publikum am liebsten mag. Die Zuschauer können es am Hals am besten sehen, und außerdem gilt es als die traditionelle Art zu beißen. Im wahren Leben – wenn ich diese Formulierung verwenden darf – können wir natürlich überall beißen. Am Hals und in der Lendengegend gibt es allerdings die dicksten Arterien, also werden diese Stellen bevorzugt. Die Bisse sind nicht tödlich. Ich trinke nur einen oder zwei Tropfen. Je älter wir werden, desto weniger Blut brauchen wir.”
Rue spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Das hörte sich genauso an, wie sie es am Computer an der Universität recherchiert hatte. Trotzdem war es ihr wichtig gewesen, sich die Richtigkeit des Gelesenen von Sean bestätigen zu lassen. Sie musste über all diese Dinge Bescheid wissen, doch es war ihr trotzdem peinlich. Es war so ähnlich, als würde man Sex-Positionen diskutieren und nicht – in diesem Fall eigentlich näher liegende – Essgewohnheiten: Missionarsstellung versus Doggy Style statt Gabeln versus Essstäbchen.
“Probieren wir einen Tango”, schlug Sean vor. Rue zog ihre Tanzschuhe an. “Kannst du höhere Schuhe tragen?”, fragte ihr Partner sachlich.
“Ja, ich kann mit höheren Absätzen tanzen, aber dann wären wir fast gleich groß, meinst du nicht?”
“Ich bin nicht eitel”, sagte er einfach. “Es kommt nur darauf an, wie es beim Tanzen aussieht.”
Aristokrat oder nicht – er war ein pragmatischer Mann. Zu Rues Freude war er...