E-Book, Deutsch, 620 Seiten
Hartmann Zwischen Nichts und Niemandsland
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7519-4547-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tagebuch eines deutsches Soldaten im zweiten Weltkrieg
E-Book, Deutsch, 620 Seiten
ISBN: 978-3-7519-4547-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zweiter Weltkrieg: Ostfront, Vormarsch, Stellungskrieg, Rückzug und schließlich der Zusammenbruch. Der Autor berichtet von seinem Erleben und seinen Erfahrungen im Krieg, erst als einfacher Soldat an der Ostfront, später als Kompanieführer im Mittelabschnitt. Beeindruckend sind die vielen persönlichen Eindrücke und die Beschreibung des täglichen Lebens im Krieg, von dem sich gerade jüngere Menschen häufig gar keine Vorstellung mehr machen können. Wie zunächst Siegesgewissheit und Kameradschaft, später auch Kälte, Angst und Zweifel, aber auch Gedanken an die Russen gegenüber auf einen Soldaten wirken können, wird hier eindrucksvoll beschrieben. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang zu lesen, wie sich die Einstellungen des Autors im Laufe der Jahre wandeln. Ergänzt werden die Berichte durch eine Vielzahl von Fotos im Anhang, die der Autor bei seinem Einsatz an der Front selbst angefertigt hat.
Der Autor ist 1921 in Duisburg geboren. Er hat nach dem Krieg Bauingenieurwesen an der TU Braunschweig studiert. Anschließend arbeitete er zunächst in namhaften Baufirmen. Aufgrund kriegsbedingter Krankheiten wechselte er Anfang der 60er Jahre in den öffentlichen Dienst. Dort war er bis zu seiner Pensionierung 1986 vor allem im Brückenbau tätig. Mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte er in einem Reihenhaus im hamburger Westen. Bis zum Ende seines Lebens im Jahre 2011 arbeitete er viele Jahre lang an einer Familienchronik, einem Tagebuch und an zahlreichen sehr humorvollen Gedichten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Weiter Richtung Charkow
Ostwärts Borispol, Sonntag, 28. September 1941 Auch heute ist es gemein kalt und windig wie gestern. Wir rollten zunächst auf schlammigen Wegen zurück zu der großen Steinstraße und dann ging es in schneidigem Tempo nach Osten, vorüber an einem riesigen Gefangenenlager mit tausenden von braunen Gestalten inmitten schier endloser Kiefernwälder. Nach etwa einer Stunde erreichten wir dann Borispol, eine größere Stadt mit Flughafen und Bahnanlagen. Wir rauschten ohne Stopp durch die ärmlichen Straßen und passierten später eine Beutesammelstelle, in der unvorstellbare Mengen an Geschützen, Panzerwracks, Fahrzeugen, Protzen und stählernem Gerümpel aller Art aufgetürmt lagen. Ob das alles schon aus der Kesselschlacht von Kiew stammte? Da haben bei uns die Hochöfen erst mal genug zu schmelzen. Hinter Borispol wurde die Landschaft eintönig und grau. Auch die Sonne, die gelegentlich für einige Minuten durchbrach, konnte der allgemeinen Melancholie keine Lichter aufsetzen. Schnurgerade und unsagbar kahl zog sich die Reihe der Telefonmasten nach Osten. In weiten, flachen Wellen breiteten sich leere Felder ringsum. Der Wind beugte die spärlichen Gräser am Wegesrand und sang in den Drähten. Wie schon so oft fuhrwerkten wir ganz allein durch die gottverlassene Gegend und in einem lang gestreckten Dorf durften wir uns dann gegen Mittag in unsere sauberen, warmen Quartiere verkrümeln. Wache hatten mal andere. Taschani, Montag, 29. September 1941 Die Zeiten des ruhigen Krieges sind vorbei; daran haben wir nicht den geringsten Zweifel mehr. Heute früh startete die Kompanie gleich am Morgen wieder. Ein ekelhafter Wind erfasste uns, sobald wir die Häuser und Gärten hinter uns gelassen hatten. Von den vielen Spuren war die Straße zerklüftet und steinhart dazu, weil der trockene Wind die Nässe aus dem Lehm gezogen hatte. Nun staubte es wieder gewaltig und wir sahen schon bald so aschgrau aus wie einst an heißen Sommertagen. Wir stockerten frierend durch eine Landschaft ohne Baum und Strauch, ohne Häuser und Kirchen. Nur Stoppelfelder und Unkrautflächen, soweit die Blicke reichten. Die Sonne schien blass hinter feinen Wolkenschleiern, aber sie wärmte jetzt einfach nicht mehr. Immer auf der Suche nach der besten Fahrspur quälte sich die Kolonne von Mast zu Mast vorwärts. Bis ans Ende der Welt schienen diese schwarzen Stangen zu führen, unbarmherzig, ohne Halt und ohne Hoffnung. Nur hinter uns verschlang sie der Staub. Einmal tauten wir in diesen fahlen, kalten Morgenstunden allerdings auf. Da wurden nämlich unförmige Klumpen beiderseits der Straße vor uns sichtbar und als wir nahe genug herangekommen waren, erkannten wir die Reste einer russischen Kolonne, die dort offensichtlich von Fliegern zusammengeschossen worden war. So gerade in ausreichender Breite hatte man inzwischen eine Spur freigeräumt, aber rechts und links türmten sich die Schrottberge meterhoch und an die 300 m lang (siehe Abbildung 18). Autos, Geschütze, Granatwerfer, Tankwagen, Schlepper – verbeult, verbrannt, zerfetzt und umgestülpt, Gummi, Rost und Lachen von Öl. Ja, wen es so erwischt auf einer solchen Ebene ohne Deckung! Erst am Nachmittag stießen wir auf eine belebte Straße und bald darauf kriegte Reimann Befehl, mit unserem Geschütz zwei Brücken bei dem Dorfe Taschani zu sichern, in dem wir gerade rasteten. Wir rollten zu der bezeichneten Stelle, während die Kompanie ohne uns davon fuhr. Am Fuße eines Abhanges haben wir nun vorhin die Kanone so in Stellung gebracht, dass wir die Straße, die von rechts heranführt, genau vor uns haben. Sie zieht sich als flacher Damm durch eine weite Niederung von Sümpfen und Teichen und die beiden kleinen Brücken spannen sich kurz hintereinander über schmale Verbindungsgräben (siehe Abbildung 19). Jenseits der Teiche steigt das Gelände ganz sanft an und man kann ferne Wälder und einzelne größere Bäume erkennen. Die ersten Stunden der Wache sind uns schnell vergangen. Es ist hier nichts zu befürchten, denn die Straße entlang zogen wahrscheinlich schon den ganzen Tag über ohne Unterbrechung bespannte Trosse und Artillerie. Motorisierte Haufen brummten staubend vorüber und wir hockten zufrieden auf den Holmen und sahen dem Schauspiel zu. Jetzt ist es windstill geworden und die Abendsonne goss bis eben noch einen letzten Hauch von Wärme über die Landschaft. Lautlos entschwinden allmählich die Wälder am Horizont in der Dämmerung. Dünne Nebel schwebten schon über den Sümpfen und die letzten Kolonnen verlieren sich auf dem schmalen Wege zwischen den Wassern. Enten jagen über uns hin. Es wird Nacht und mit ihr kommt die Stille. Aber hier hat man keine Angst davor. Taschani, Dienstag, 30. September 1941 Wir standen heute den ganzen Tag über so prächtig an der Kurve, dass sich eine regelrechte Altweiber-Tratschecke bildete. Morgens war Köhler mit seinem Geschütz vorbeigekommen. Er hatte weiter rückwärts irgendwo genauso gesichert wie wir und war dort nun überflüssig geworden. Später marschierten Teile unseres NachbarRegiments vorüber. Die Kameraden erzählen Schauergeschichten von Überfällen versprengter Russen auf Kolonnen weit hinter uns. Angeblich einmal 1.000 Russen! Das war gestern und vorgestern passiert und die Verluste waren offenbar erschreckend, wenn man alles glauben kann, was die Genossen so erzählen. Die schweren Infanteriegeschütze des Regiments sollen mit zig Pferden in einem brennenden Stall verschmort sein. Wir aber sind wie ahnungslose Engel durch die Gefilde gerauscht. Gegen Mittag brauste ein Geschütz Heeresflak mit schwerer Kettenzugmaschine heran. Die Kollegen bauten sich nicht weit von unserer Kanone auf, um ebenfalls schön zu sichern. Sie wussten genau über die Lage Bescheid, insbesondere erklärten sie mit Bestimmtheit, wir brauchten in diesem Herbst nur noch bis Charkow zu marschieren, dann wäre Ruhe. Nun ja, eben noch bis Charkow – nicht schlecht. Und dann Ruhe. Auch nicht schlecht. Der Überfall auf das Nachbarregiment und viele andere Gruselmärchen, die wir im Laufe des Tages noch zu hören kriegten, verdarben uns den Spaß an solchen kindlichen Parolen doch sehr und daher ließen wir die Genossen ruhig sabbeln. Mehr als hundert Kilometer sind wir bisher wohl kaum von Kiew aus nach Osten vorangekommen und bis Charkow sollen es mindestens noch 300 km sein. Ob uns der Iwan weiter so friedlich dahinpilgern lässt, ist doch wohl ziemlich fraglich, selbst wenn man aus Prinzip gern Optimist ist. Durch Zufall erkannte mich am Nachmittag ein Leidensgenosse aus Zittau, als er mit einer langen Marschkolonne vorübertippelte. Ein so unerwartetes Wiedersehen ist immer eine etwas wehmütige Freude. Man sieht, dass der alte Sack noch lebt, man weiß aber manchmal schon gar nicht mehr, wie er heißt, nur das Gesicht ist da, der Tonfall seiner Worte, man wünscht sich noch schnell Hals- und Beinbruch, Erinnerungen an gemeinsame Stunden und Wochen werden spontan wieder wach, man möchte die Zeit zurückdrehen, aber da ist er schon wieder vorbei, untergetaucht in dem fremden Haufen, und man denkt plötzlich: Wie lange noch? War dies die letzte Begegnung? Er oder ich? Und man dreht sich noch einmal um, obwohl man weiß, dass es vergeblich ist. Irgendwo da vorn, eine der verstaubten Uniformen, das ist er, das war er… So verging dieser Tag an den Brücken von Taschani. Es blieb kühl und frisch auch um die Mittagszeit. Wir lebten nicht schlecht. Otto hatte allerhand schöne Sachen organisiert; darin ist er unermüdlich und unbezahlbar. Aber mein Magen ist wieder nicht in Ordnung; bald langt es mir wirklich mit diesen ewigen Dünnschiss- und Kotzgefühlen. Immerhin, es ist schon erholsam, sich die zerlöcherten Socken und die blutbeschmierte Unterwäsche vom Leibe zu reißen, den Heerscharen der Läuse und Eier in den Nähten der Uniform und in allen Maschen der Socken und der Strickjacke den Garaus zu machen, während in der blechernen Schüssel auf dem Ofen das Wasser für die große Waschung heiß wird, und dann mal wieder alle Eiter- und Blutkrusten, allen Dreck und Schweiß von sich abzuspülen, genüsslich die Wärme der Stube auf sich wirken zu lassen, sich mit dampfendem Wasser und ohne Hast zu rasieren. Wir alle sind schon ganz schön zerbissen, man juckt und kratzt sich ja längst vollautomatisch. Man müsste seit langem mal wieder zum Friseur, aber das Hermännchen, unser Kompaniefigaro, ist sonstwo und Ottos frivole Angebote eines kostenlosen Kahlschnitts sind indiskutabel, wenn der Winter vor der Tür steht. Dann schon lieber die Läuse im wärmenden Filz. Seien wir dankbar, dass es auch hier noch überall Dörfer und Menschen gibt, dass wir noch nicht draußen in der Steppe stehen müssen, ohne Haus und Dach. Die Frau in unserem Quartier spricht ein wenig deutsch. Von ihrem Mann hat sie seit Kriegsbeginn nichts mehr gehört. „Schisko jedno – woina…“, sagt sie leise. Nicht zu ändern, das ist der Krieg. Ist es...