Harvey | Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Harvey Arthur oder Wie ich lernte, den T-Bird zu fahren

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-423-42207-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-423-42207-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Trauer, Gemeinheit, Witz und Freundschaft ganz dicht beieinander Royce ist siebzehn und hat neuerdings eine Aufgabe: Gegen Cash soll er sich um seinen uralten Großvater Arthur kümmern, der alle um sich herum in den Wahnsinn treibt. Keine leichte Herausforderung, meint auch seine Mutter Nina. Aber aus der reinen Geschäftsbeziehung wird bald mehr, und Royce und der greise Arthur werden ziemlich beste Freunde. 

Sarah N. Harvey war Buchhändlerin, ist seit 10 Jahren Verlagslektorin und Autorin und hat zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie lebt in am Meer in Victoria, British Columbia.
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Eins


»Ich halte das nicht mehr aus!«

Meine Mutter ist in der Küche und telefoniert. Ich glaube, sie weint. Oder ihre Allergien spielen wieder verrückt. So oder so, sie hört sich miserabel an. Sie putzt sich lautstark die Nase, während sie jemandem am anderen Ende der Leitung zuhört. Ich bleibe auf halber Kellertreppe stehen. Leicht könnte ich umkehren und wieder in meinem Zimmer verschwinden oder mich durch die Kellertür davonmachen, aber etwas in ihrer Stimme – eine Mischung aus Verzweiflung und Ärger, vom Rotz halb erstickt – lässt mich aufhorchen und auf der vierten Stufe von oben stehen bleiben. Das und der Umstand, dass sie offenbar über mich spricht. Wieder mal.

»Er ist unmöglich, Marta«, sagt sie. »Absolut unmöglich. Hat keine Freunde. Schläft den ganzen Tag. Schaut die ganze Nacht fern. Duscht nie. Lässt sich die Haare nicht schneiden. Schiebt sein dreckiges Geschirr unters Bett oder steckt es zusammen mit seiner schmutzigen Unterwäsche in irgendwelche Schubladen. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

Am liebsten wäre ich in die Küche gestürmt und hätte gerufen: »Hey! Es ist erst zwei Uhr. Ich bin auf. Ich habe geduscht. Ich bin angezogen. Und schmutziges Zeug – ob Geschirr oder Unterwäsche – stecke ich nie in Schubladen. Ich lasse es auf dem Boden liegen. Und wann warst du überhaupt in meinem Zimmer?« Ich habe meine Maßstäbe. Niedrige zwar, aber immerhin. Sie soll mal keinen Schwachsinn über mich erzählen. Gut, ich habe mir seit drei Jahren die Haare nicht schneiden lassen, aber ich wasche sie alle paar Tage. Sie sind sehr fein und schnittlauchgerade wie die von Mom. Man sollte meinen, sie hätte, was meine Haare angeht, etwas mehr Verständnis. Und nun jammert sie Marta etwas vor, ausgerechnet Marta, die wahrscheinlich nicht überrascht ist zu hören, dass sich ihr armer vaterloser Neffe so nachteilig entwickelt.

Marta ist meine Tante, die Halbschwester meiner Mutter. Sie ist mindestens sechzig (Mom erst achtunddreißig) und lebt seit Jahren in Australien. Mom sagt, sie sei so weit wie möglich weggezogen, ohne ihre Mitgliedschaft im noblen Familienklub aufzugeben. Ab und zu kommt sie mal nach Kanada, aber seit unserem Umzug quer durch das Land – von Lunenburg, Neuschottland, nach Victoria, British Columbia – hat sie uns noch nicht besucht. Wir sind hierhergezogen, um näher bei meinem Großvater zu wohnen, er ist fünfundneunzig. Früher war er ein berühmter Cellist, und er sorgt auch dafür, dass das keiner vergisst. Marta nennt ihn »ein Monster an Selbstbezogenheit«. Aber Mom meint, es sei verständlich, dass er mit sich selbst beschäftigt sei, weil er doch so alt ist und überhaupt. Ich kenne niemanden sonst, der so alt ist, deshalb weiß ich nicht, ob Alter automatisch mit zänkischem Egoismus einhergeht. Aber nach allem, was ich über meinen Großvater gehört habe, war er schon immer so, es liegt also wohl nicht nur am Alter. Mom bemüht sich einfach, eine beschissene Lage auf die bestmögliche Art darzustellen. Macht sie immer so.

»Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, sagt sie gerade. »Ich muss etwas für ihn finden, einen Platz, wo ich ihn hinbringen kann. Und zwar schnell. Sonst kriege ich einen Nervenzusammenbruch. Im Ernst, Marta. Wirf mich auf den Müll. Steck mich in eine Zwangsjacke. Wünsch mir die Pest an den Hals. Egal. Immerhin hätte ich dann Ruhe.«

Einen Platz, wo sie mich hinbringen kann? Was redet sie da? Ich finde es hier beschissen, das stimmt, aber für mich ist Lunenburg der einzige Ort, an dem ich leben will. Und dass ich die ganze Zeit zu Hause bin, dafür kann ich nichts. Ich habe kurz nach Weihnachten das Pfeiffer’sche Drüsenfieber bekommen, und als es mir endlich besser ging, fingen bald die Frühjahrsferien an, und dann war auch schon Ostern. Inzwischen hatte ich so viel Unterricht versäumt, dass ich Mom überzeugen konnte, mich das Schuljahr per Fernkurs beenden zu lassen. Und ja, ich bin viel allein. Zu Hause hatte ich ein paar richtig gute Freunde, Jungs, mit denen ich aufgewachsen war, aber hier habe ich keinen einzigen Freund. Bis jetzt jedenfalls. Mom meint, für Freundschaften sei ja noch jede Menge Zeit, aber sie irrt sich. Ich habe einfach nicht die Energie für gemeinschaftliche Aktivitäten. Oder das Interesse dafür. Auch vor meiner Krankheit hatte ich nie das Verlangen, zum Beispiel mal ins Kino zu gehen oder zu einem Hockeyspiel. Hat mich sowieso keiner gefragt, ob ich mitgehen will. Und so vergehen die Tage. Ein bisschen für die Schule machen, ein bisschen fernsehen, ein bisschen Musik hören, viel schlafen. Essen am liebsten aus der Mikrowelle. Ich esse nie zusammen mit meiner Mutter. Schon als ich noch klein war, hasste ich es, gemeinsam mit anderen Leuten zu essen. Ich konnte das halb zerkaute Zeug in ihren Mündern nicht sehen, wenn sie beim Essen redeten oder lachten. Keiner hat Manieren. Früher lachte Mom darüber und nannte mich Lord Fauntleroy. Inzwischen wendet sie sich seufzend ab, wenn ich mit meinem Essen die Kellertreppe hinunter verschwinde.

Sie ist sowieso nicht viel zu Hause. Im Frühjahr und Sommer ist sie spätestens morgens um acht draußen und arbeitet bis zum frühen Nachmittag in anderer Leute Gärten. Wenn sie nach Hause kommt, duscht sie und isst etwas, und gegen drei Uhr kommen so nach und nach ihre Klavierschüler. An manchen Tagen dauert das Bach-Geklimper bis abends um neun. In den Pausen zwischen den einzelnen Schülern isst Mom eine Kleinigkeit. Sie isst im Stehen und betrachtet dabei ihr Spiegelbild im Fenster über der Spüle. Würde ich mich neben sie stellen, würde ich Folgendes sehen: eine große, blasse, schlaksige Person (ich) und eine kleine, sonnengebräunte, drahtige Person (sie). Das gleiche strähnige Haar, die gleichen braunen Augen, der gleiche breite Mund. Die gleichen großen Zähne, nur kann man meine nicht sehen, weil ich nicht lächle. Unterschiedliche Nasen. Meine ist groß, ein Zinken. Ihre ist klein und dreht minimal nach rechts ab, wenn sie lächelt. Offenbar habe ich die Jenkins-Nase, was immer das heißen mag. An den Wochenenden arbeitet Mom in unserem eigenen Garten und übt Klavier. Und jetzt sagt sie, sie kann nicht mehr und will mich los sein. Scharf.

»Ich weiß, etwas Luxuriöses können wir uns nicht leisten«, sagt Mom. »Es muss nur sauber sein.« Sie schweigt eine Weile, ihre Finger spielen eine Fuge auf dem Tischset. Das macht sie immer, wenn sie Sorgen hat. Spielt Bach auf einem Phantomklavier. Wer weiß, vielleicht macht Tante Marta gerade den Vorschlag, mich in eine Jugendstrafanstalt oder so zu schicken. Nur habe ich keine Straftat begangen. Bis jetzt jedenfalls. Mom sagt: »Hm, mmh, vielleicht hast du recht. Nein, ich glaube nicht, dass er besonders viel trinkt. Ich mache ja alle Einkäufe, und nach Wein oder so was verlangt er nie. Ja, doch, bei einem dieser Diala-Bottle-Lieferdienste könnte er wohl anrufen.«

Trinken. Na klar. Ich bin sechzehn. Ich habe keine Freunde. Ich habe kein Geld. Der einzige Alkohol im Haus ist ein Fläschchen Kahlúa, mit dem Mom ab und zu ihren Kaffee nach dem Mittagessen aufpeppt. Einmal habe ich davon getrunken und hätte fast kotzen müssen. Ab und zu ein Bier, okay. Wie sollte ich mich also betrinken? Ich hätte absolut keine Lust dazu.

»Drogen weiß ich nicht, glaube ich nicht.« Mom klingt unsicher. »Ich sehe nie irgendwelche Anzeichen.« Als ob sie es merken würde, wenn ich gekifft hätte. Mit meinen Kumpels zu Hause hatte ich öfters geraucht. Hinterher, wenn wir dann hungrig und redselig zu uns gegangen waren, war Mom so glücklich darüber, dass ich Freunde mitbrachte, dass sie uns Eisbecher mit kleinen Schokoladenkuchen oder Omeletts mit Heidelbeeren gemacht hatte. Ich habe keine Ahnung, wie man sich hier etwas beschaffen kann, und ohnehin würde es allein keinen Spaß machen.

Mom spricht immer noch. »Die einzige andere Möglichkeit wäre, jemanden einzustellen, der ins Haus kommt. Vielleicht nicht den ganzen Tag – er schläft ja so viel –, aber wenigstens, um bei den Mahlzeiten zu helfen.«

Wovon spricht sie? Ein Babysitter? Sie muss total von der Rolle sein. Vorzeitiger Beginn von Alzheimer oder so. Eine Jugendstrafanstalt würde ich einem Babysitter jederzeit vorziehen. Und Hilfe bei den Mahlzeiten brauche ich nicht. Meine Fähigkeiten im Umgang mit der Mikrowelle sind auf einem hohen Level.

»Und auch beim Duschen muss ihm jemand helfen.«

Ich traue meinen Ohren nicht. Seit wann brauche ich Hilfe beim Duschen? Jetzt springe ich aber doch die letzten vier Stufen hinauf und stürme in die Küche. In meiner Hast stoße ich mir den Kopf am Türpfosten und muss mich erst mal setzen, bis die Welle aus Schmerz und Benommenheit abebbt. Das ist mir schon so oft passiert, seit wir hier wohnen, dass Mom jetzt nicht einmal aufschaut. Man sollte meinen, ich lerne es endlich. Als ich sprechen kann, kommt meine Stimme nur krächzend aus der Kehle. »Kommt nicht infrage, Mom. Verdammt noch mal, nein!«

»Warte, Marta. Gerade kommt Rolly herauf«, sagt sie ruhig. Sie wirft mir einen Blick zu, der ausdrücken soll Wir unterhalten uns gleich. »Rolly, du weißt, was ich von Fluchen halte. Ich telefoniere gerade.«

»Sag nicht dauernd Rolly zu mir«, murmle ich zwischen den Zähnen. Mir ist, als würde mein Kopf explodieren.

Sie deckt das Telefon mit der Hand ab und zischt: »Was ist los mit dir?«

»Ich gehe nicht in irgendein Jugendgefängnis und ich brauche erst recht keinen Babysitter. Wenn das deine Pläne sind, dann bin ich hier weg.« Ich stehe auf, um wieder in den Keller zu gehen, aber Mom hält mich am Arm fest.

»Jugendgefängnis? Wer hat etwas von Jugendgefängnis gesagt? Was redest...


Harvey, Sarah N.
Sarah N. Harvey war Buchhändlerin, ist seit 10 Jahren Verlagslektorin und Autorin und hat zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie lebt in am Meer in Victoria, British Columbia.

Günther, Ulli
Ulli Günther, aufgewachsen in Ingolstadt, hat schon früh ihre Liebe zu Büchern entdeckt und ist gelernte Buchhändlerin. Seit 1988 übersetzt sie, meist gemeinsam mit ihrem Mann Herbert Günther, Kinder- und Jugendbücher.

Günther, Herbert
Herbert Günther, 1947 in Göttingen geboren, ist gelernter Buchhändler und arbeitete als Lektor im Otto Maier Verlag sowie im Boje Verlag und als Drehbuchautor. Seit 1988 ist er freier Schriftsteller und übersetzt zusammen mit seiner Frau Ulli Günther Kinder- und Jugendbücher. 2006 erhielt das Paar den Sonderpreis für Übersetzung beim Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis.

Sarah N. Harvey war Buchhändlerin, ist seit 10 Jahren Verlagslektorin und Autorin und hat zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie lebt in am Meer in Victoria, British Columbia.

Sarah N. Harvey war Buchhändlerin, ist seit 10 Jahren Verlagslektorin und Autorin und hat zahlreiche Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben. Sie lebt in am Meer in Victoria, British Columbia.



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