Hasselhorn | Geschichtsmythen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Hasselhorn Geschichtsmythen

Die Macht historischer Erzählungen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-95890-649-5
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Macht historischer Erzählungen

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-95890-649-5
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Erzählungen über die Vergangenheit bestimmen unser kulturelles Gedächtnis und prägen unsere Gegenwart. Ob Churchill als »Retter der freien Welt«, Jeanne d'Arc als Beschützerin Frankreichs oder die Resistenza als antifaschistische Gründung Italiens: Geschichtsmythen sind auch in unserer vermeintlich aufgeklärten Welt allgegenwärtig. In seinem bahnbrechenden Werk Geschichtsmythen fragt Benjamin Hasselhorn: Wie entstehen diese Mythen? Welche Mechanismen sichern ihren Erfolg? Welche Rolle spielen sie im kollektiven Gedächtnis und wie formen sie unsere gesellschaftliche Identität? Und vor allem: Können Mythen entkräftet oder gar beseitigt werden? In einer Zeit, in der Mythen unsere Identität prägen und in hitzigen Debatten weiterleben, liefert Geschichtsmythen einen scharfsinnigen Blick auf die Erzählungen, die uns immer wieder neu definieren, und zeigt auf, warum sie bis heute politische und gesellschaftliche Macht ausüben.

Benjamin Hasselhorn ist Akademischer Oberrat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg. Als Experte für Geschichtsmythen und Public History forscht er zu den politischen und gesellschaftlichen Dimensionen historischer Erzählungen. Er veröffentlichte unter anderem über Martin Luther und über die Hohenzollernmonarchie im 19. und 20. Jahrhundert. 2011 in evangelischer Theologie und 2014 in Geschichte promoviert, kuratierte er 2017 die Nationale Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum in Wittenberg. 2024 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu »Churchill und anderen Mythen«. 2019 erhielt er den Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft.
Hasselhorn Geschichtsmythen jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


DIE NÄHE DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT ZUM MYTHOS


Die Geschichtswissenschaft hat sich stets auch über ihre Abgrenzung vom Mythos definiert. Sie beansprucht, kritische Analyse zu betreiben und sich gerade dadurch von mythischem Denken zu unterscheiden. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich: Die Beziehung ist komplizierter. Geschichtswissenschaft ist dem Mythos viel näher, als man es auf den ersten Blick vermuten würde. Dieses Kapitel geht der Frage nach, in welchem Verhältnis Geschichtswissenschaft und Mythos zueinander stehen und was das für den Umgang mit Geschichtsmythen bedeutet.

Auch Historiker erzählen


Die Geschichtswissenschaft tut sich traditionell schwer damit, ihr Verhältnis zum Geschichtsmythos zu bestimmen. Folgt man den Überlegungen, die Jörn Rüsen in seiner 2013 erschienenen Historik anstellt, so hat wissenschaftliches historisches Denken drei Dimensionen: eine disziplinäre, eine interdisziplinäre und eine transdisziplinäre. Die transdisziplinäre Dimension enthält den Bezug der Geschichtswissenschaft zur »menschlichen Lebenspraxis«, zur »Geschichtskultur«, zum »historischen Gedächtnis« und zur »Erinnerungskultur«.51 In diesen Zusammenhang gehören auch die Geschichtsmythen, und in diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Mythos zu klären. Dass diese Verhältnisbestimmung komplex ist, macht Rüsen selbst deutlich: Die Geschichtsschreibung nehme

»gegenüber der Forschung eine eigentümliche Sonderstellung ein; denn sie folgt Gesichtspunkten der Darstellung, die sich nicht hinreichend aus der Forschung ergeben, sondern über sie hinaus, oder genauer: hinter sie zurück in den Bereich der Produktion und Rezeption von Texten führen.«52

Ähnliches gilt für die von Rüsen reklamierte »Orientierungsfunktion«53 der Geschichtswissenschaft, die ohne eine Beziehung zu außerwissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht zu haben ist. Diese kommen nicht etwa erst ins Spiel, wenn es um die transdisziplinäre Vermittlung geschichtswissenschaftlicher Forschungsergebnisse geht, sondern auch umgekehrt beeinflusst die öffentliche Geschichts- und Erinnerungskultur – und beeinflussen die historischen Mythen – von Anfang an die historische Forschung.

Kernaufgabe der Geschichtswissenschaft ist nach Rüsen historische Sinnbildung und damit Orientierung in der Gegenwart:

»Sinn macht Orientierung möglich; er stellt das menschliche Leben in einen Horizont von Deutungen; er macht die Welt und den Menschen sich selbst verständlich; er hat eine Erklärungsfunktion; er formiert menschliche Subjektivität in das kohärente Gebilde eines (personalen und sozialen) Selbst; er lässt Leiden erträglich werden und stimuliert Handeln durch Absichten.«54

Kernmittel zur historischen Sinnbildung sei sinnbildende Narration, da Sinnbildung durch »narrative Logik«55 funktioniere, durch die Herstellung eines Sinnzusammenhangs zwischen Ereignissen mittels einer Erzählung: Ein Sachverhalt in der Gegenwart soll erklärt werden; dazu wird eine Geschichte erzählt, wie es zum entsprechenden Zustand gekommen ist, und damit »wird zugleich eine handlungsstimulierende Zukunftsperspektive entworfen«.56 Es handele sich bei der sinnbildenden Narration nicht um eine vom Forschungsprozess getrennte »Anwendung« historischer Erkenntnis, sondern die Narration gehe aus einer Erfahrung hervor, die nach einer Deutung verlangt, und die geschehe »durch Integration dieser Erfahrung in die Vorstellung eines sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhangs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«.57 Das Erzählen sei ein »mentaler Vorgang«, der »empirisch und normativ zugleich« sei, damit also der »in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie außerordentlich wichtigen grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Tatsachen und Normen oder Werten noch voraus« liege.58

Die narrative Dimension der Geschichtswissenschaft galt lange als selbstverständlich. Johann Gustav Droysen, einer der Klassiker geschichtswissenschaftlicher Theorie, musste umgekehrt darauf hinweisen, dass die »erzählende Darstellung« nicht die einzig legitime sei. Droysen unterscheidet in seiner »Historik« vier Arten historischer Darstellung: die »untersuchende«, die »erzählende«, die »didaktische« und die »diskussive«.59 Die ersten beiden Arten ordnen laut Droysen das historische Material unterschiedlich: Die untersuchende Darstellung formuliere eine Forschungsfrage und erarbeite die Antwort aus den Quellen; die erzählende »stellt das Erforschte als einen Sachverlauf in der Mimesis seines Werdens dar«60. Die beiden anderen Arten seien wesentlich durch ihren Zweck gekennzeichnet: Die didaktische Darstellung ziele auf »Bildung«, indem sie nach der »lehrhaften Bedeutung« für die Gegenwart frage; die diskussive Darstellung ziele auf eine konkrete Entscheidung in der Gegenwart, die besser historisch informiert als »doktrinär« erfolge.61

Ohne dass beide Unterscheidungen einfach dasselbe meinten, nahm Droysen mit der Unterscheidung zwischen untersuchender und erzählender Darstellung doch bereits zum Teil die Trennung zwischen »Theorie« und »Erzählung« vorweg, die in den 1970er-Jahren in der Geschichtswissenschaft zu Kontroversen zwischen »Theoretikern« und »Erzählern« führte.62 Die »historistische« Tradition narrativer Geschichtsschreibung stand aus Sicht der »Theoretiker« unter Ideologieverdacht, zumal sie ihre faktische subjektive Willkür hinter einem vermeintlichen Objektivitätsideal verstecke und zudem den Kriterien moderner Wissenschaftlichkeit nicht standhalte. Hans-Ulrich Wehler und andere Vertreter einer Historischen Sozialwissenschaft forderten daher, die Geschichtswissenschaft als »theoriegeleitet« neu zu fundieren und damit einen »Bodengewinn für die Geschichtswissenschaft«63 zu erzielen. Wehler räumte zwar ein, dass mit »Theorieverwendung« ein »Verlust an Anschaulichkeit« einhergehe, doch dieser werde durch das Erreichen »klarer Ordnung der Darstellung und ihrer Ergebnisse« kompensiert.64

Vor allem aber, so Wehler, gebe es in Wahrheit gar keine »untheoretische« narrative Geschichtsschreibung, denn jede Darstellung folge mindestens implizit theoretischen Vorannahmen. Erst wenn man die theoretischen Vorannahmen explizit mache, würden diese und ihr Einfluss auf die Untersuchung reflektiert und stärker kontrollierbar gemacht. Selbstverständlich müssten sich Theorien an den Quellen ausrichten; Hauptkriterium für die Beurteilung historischer Theorien sei ihre »Angemessenheit […] im Sinne der Realitätsadäquanz oder Annäherung an die historische Wirklichkeit«.65

Könnte man also mithilfe einer nicht mehr narrativen und stattdessen bewusst theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft den Mythos loswerden? In einer Replik auf Wehler warnte Golo Mann davor, dass die Verwendung von Theorien zu deren Absolutsetzung führen könnte, was immer zu einseitigen, die Komplexität historischer Wirklichkeit verfehlenden Schlussfolgerungen führen werde.66 Die erzählende Geschichtsschreibung sei dagegen in der Lage, multiperspektivisch vorzugehen und den Standpunkt der wissenden Nachgeborenen mit den Standpunkten der Zeitgenossen zu verbinden. Was Wehler als angeblich unbewussten Theorieschmuggel durch den »Erzähler« bezeichne, sei in Wahrheit

»nichts anderes als die Summe von menschlichen Erfahrungen, die schon in seinem Geist präsent ist: Erfahrungen seiner eigenen Zeit und seines eigenen Lebens, ohne die kaum je ein großer Historiker Geschichte geschrieben hat, ferner dann Erfahrungen, die sich aus Studien über andere Gegenstände, andere Epochen schon ergeben haben.«67

Der Fortschritt der Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten habe nichts zu tun mit einer Überwindung des »Historismus«, sondern »er besteht ausschließlich in der Erweiterung der Fragen, in der Vermehrung der Gegenstände, mit denen sich die Geschichtswissenschaft befaßt.«68 Die Idee, mithilfe von Theorieanwendung könne man die Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft steigern, sei Unsinn; im Sinne der Naturwissenschaften sei die Geschichtswissenschaft nun einmal keine Wissenschaft und könne es auch nicht werden.69

Wehler wiederum vermutete hinter der Theorieskepsis Manns den »konventionelle[n] Eskapismus vor präzisen Fragestellungen«70. Die bewusste Theorieverwendung, die klare Benennung der Fragestellung und der Methodik, so Wehler,

»verstärkt die diskursive Dimension moderner Geschichtswissenschaft, ist aber der stillschweigend eingeschleusten oder unbewußt gehaltenen Leitvorstellung allemal vorzuziehen. Denn die Transparenz der Auswahl zu steigern, ihre Rechtfertigung zu verbessern, das methodische Verfahren durchsichtig zu machen, die Interpretation möglichst überprüfbar zu halten, ist für die Geschichte als Wissenschaft ein Gewinn an sich.«71

Golo Mann wiederum gestand Wehler zu, dass historische Analysen und Untersuchungen eine theoriegeleitete Fragestellung benötigten; für die historische Gesamtdarstellung gelte dies aber nicht. Zudem dürften Theorien immer nur als Bausteine für Erklärungen verwendet werden und niemals »beanspruchen, das Ganze zu bieten, welches, ehe sie antraten, noch nie geboten wurde. Tun sie das, so geraten sie in Unwahrheit.«72

Die wechselseitigen Warnungen – der »Theoretiker«, dass mangelnde theoretische und methodische Reflexion zu subjektiver Willkür führe; der »Erzähler«, dass...


Benjamin Hasselhorn ist Akademischer Oberrat a. Z. am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Universität Würzburg. Als Experte für Geschichtsmythen und Public History forscht er zu den politischen und gesellschaftlichen Dimensionen historischer Erzählungen. Er veröffentlichte unter anderem über Martin Luther und über die Hohenzollernmonarchie im 19. und 20. Jahrhundert. 2011 in evangelischer Theologie und 2014 in Geschichte promoviert, kuratierte er 2017 die Nationale Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum in Wittenberg. 2024 habilitierte er sich mit einer Arbeit zu »Churchill und anderen Mythen«. 2019 erhielt er den Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.