E-Book, Deutsch, 284 Seiten
Haupt Der elektrische Engel
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-947721-05-4
Verlag: Mystic Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 284 Seiten
ISBN: 978-3-947721-05-4
Verlag: Mystic Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sven Haupt, wurde 1976 in Bonn geboren. Er hat eigentlich Biologie studiert und 2008 in kognitiver Hirnforschung promoviert. Da einem da-für aber niemand Geld gibt, arbeitet er stattdessen als IT-Experte für ein Software-Unternehmen. Seit seiner Jugend schreibt er Blogs, Lyrik und Kurzgeschichten. 2016 beschloss er in Zukunft auch an Literatur-Ausschreibungen teilzunehmen und seine Texte tatsächlich zu publizieren. Gerüchten zufolge hat er ein Talent, die Struktur von Geschichten zu erkennen und gerade zu biegen. Deswegen findet man ihn im Verlag bevorzugt im Vorlektorat wieder.
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Prolog - Der elektrische Engel
„Jetzt hör doch mal mit deinem dämlichen Kometen auf“, brüllte der Mann genervt, dann knallte es laut.
Die kleine Betty saß in ihrem Kinderbett und zog eine Schnute. Das klang, als hätte Papa wieder den Mülleimer in seinem Büro getreten. Eigentlich war sie ja aufgewacht, weil sie einen seltsamen Traum gehabt hatte. Irgendwie hatte sie auf einmal Flügel gehabt, die sie in langen, gleitenden Sprüngen durch die Luft trugen. Das war so schön gewesen. Dann hatte sie im Traum ihren Papa gehört. Der war wieder böse auf seine Arbeit. Normalerweise durfte Papa nicht laut werden, wenn Betty schlafen sollte, das hatte Mama gesagt. Aber heute war Mami nachts im Krankenhaus arbeiten und nun konnte sie Papa eben doch hören.
„Ich versuche verzweifelt“, entrüstete sich Papas tiefe Stimme, „die zentrale Matrix von der Größe eines verdammten Fußballfeldes kohärent zu kriegen, und du erzählst mir hier in einem fort was von Sternen, die ich anstarren soll.“
Betty schnaufte genervt und traf eine Entscheidung. Sie griff nach ihren beiden Stofftieren und setzte sie vor sich auf das Bett. Dann sah sie den Stoffhasen und den Bären ernst an und verkündete: „Okay, ihr beiden. Wir gehen jetzt zu Papa und sagen ihm, dass er leise sein soll. Denn wir müssen schlafen, damit wir morgen früh nicht zu müde für den Kindergarten sind. Wenn Papa dann laut wird, weil er böse mit seiner Arbeit ist, dann haben wir keine Angst. Habt ihr gehört?“ Sie zeigte mit dem Finger mahnend auf die Kuscheltiere. Als kein Widerspruch kam, nickte sie energisch und schwang die nackten Füße aus dem Bett. Es war eine warme Sommernacht und der Fußboden angenehm kühl. Sie strich sich automatisch eine Strähne ihrer strubbeligen, braunen Haare hinter das Ohr und zupfte eine Weile an ihrem Nachthemd herum. Dann klemmte sie sich energisch den Hasen Schnuffi unter den Arm, zog den Teddy Pummel an einem Bein hinter sich her und tapste entschlossen zur Zimmertür. Ihre Tür war immer nur angelehnt, damit ein bisschen Licht hereinfiel. Als sie den Kopf vorsichtig in den Flur hinaus steckte, war schon wieder der Papa zu hören.
„Was weiß ich“, rief er gerade aufgebracht, „warum es noch immer nicht funktioniert! Erklär du es mir, du bist der Informatiker. Du strickst am Ende den Code zusammen, ich male hier nur die Algorithmen an die Wand.“ Er schwieg einen Moment. „Von wegen Genie!“, rief er schließlich. „Drei Jahre! Drei volle Jahre Entwicklung und die Kiste steht noch immer da und macht? Genau! Gar nichts! Am Anfang wussten wir wenigstens warum, aber jetzt? - Ja, ich weiß, dass es funktionieren sollte. Aber warum funktioniert es dann nicht? Sag es mir?“ Es knallte wieder, aber anders als beim ersten Mal.
Betty, die gerade lautlos den Flur entlang schlich, kannte auch dieses Geräusch. Papa hatte wieder mal die Kreide gegen den Schrank geworfen. Das tat er immer, wenn ‚ein Problem ihn ärgern wollte‘, wie er sagte. Betty war an der offenen Türe zum Arbeitszimmer angekommen und spähte vorsichtig durch den Spalt in den Raum hinein.
Papa wandte ihr den Rücken zu. Er lehnte an seinem Schreibtisch und starrte an die Wand. Auch das tat er gerne, manchmal stundenlang. Mama sagte, das wäre, weil es seine Lieblingswand sei. Die ganze Wand war nämlich eine einzige große Tafel, auf der man schreiben konnte. Deswegen hatte Papa auch immer ganz viel Kreidestaub auf der Kleidung. Das sei aber nicht so schlimm, hatte Mama gesagt, denn das würde gut zu den neuen weißen Haaren in seinem Bart passen.
Manchmal, wenn Papa gute Laune hatte, durfte Betty mit bunter Kreide Bilder auf die Tafel malen. Aber meistens ging das nicht, denn Papa hatte die Tafel immer ganz dicht beschrieben, so wie jetzt auch. Bunte Bilder malte er nie. Immer nur weiße, voller Zahlen, Buchstaben und komischer Symbole.
Betty kannte natürlich Zahlen und Buchstaben, denn sie war ein extrem schlaues Mädchen. Mamma hatte das gesagt. Betty konnte schon bis hundert zählen und ihren ganzen Namen schreiben. Papas Tafelbilder konnte sie aber nicht lesen. Hübsch fand sie die aber trotzdem. Ihr Anblick fühlte sich immer schön an. Besser konnte sie es nicht sagen.
Papa fand allerdings gerade gar nichts hübsch. Er hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und redete leise und eindringlich in seine Kopfhörer hinein. Also in das Ding, das immer vor seinem Mund hing. Betty konnte nie verstehen, warum Papa nicht einfach aufhörte, seine Tafel vollzuschreiben, wenn es ihn doch offensichtlich so ärgerte. Sie nahm sich vor, das Thema noch einmal ernsthaft mit Mamma zu besprechen.
„Wir haben doch schon alle möglichen Kombinationen durchprobiert“, hörte sie den Papa gerade müde murmeln. „Jede einzelne hat nicht funktioniert. Keine Baseline-Aktivität für auch nur die banalsten kognitiven Prozesse. Nichts. Nicht die Geringste. Schweigen im Walde. - Ja, natürlich kann ich die peripheren Variablen neu randomisieren. Ich kann die blöde Kiste auch mit Blumen schmücken und Räucherstäbchen anzünden. Was ich aber tatsächlich brauche, sind keine halb garen Beschäftigungstherapien, sondern eine verdammte Lösung!“
Betty wusste, dass es nicht ratsam sei, Papa jetzt zu unterbrechen. Dann wurde er nur noch lauter werden. Wahrscheinlich blitzten seine Augen jetzt schon hinter den dicken Brillengläsern. Betty wusste nicht, was genau das eigentlich heißen sollte, aber Mama sagte das immer. Sie musste warten, bis er aufhörte zu telefonieren. Das war bestimmt Papis Kollege Charlie, da am anderen Ende. Den kannte Betty. Der besuchte sie manchmal zum Abendessen, zusammen mit seiner Frau Heike und ihrem doofen Sohn Elias.
Vorsichtig betrat sie das Büro und drückte sich lautlos an der großen Schrankwand voller Bücher entlang. Ihr Papa hatte die meisten Bücher von allen Eltern überhaupt. Das musste er auch, denn er war schließlich Professor Calvin und ganz berühmt. Alles nur Erwachsenenbücher und deswegen schrecklich langweilig. In denen ging es nie um lustige Sachen, sonst wäre der Papa ja auch nicht immer so ärgerlich. Sie überlegte, ob sie ihm vielleicht eines ihrer Bilderbücher leihen sollte. Eines, das sie immer zum Lachen brachte. Nur um ihn ein wenig aufzuheitern. Während sie so langsam an den Büchern vorbei schlich, achtete sie sorgsam darauf, nicht den großen Roboterarm anzusehen, der auf Papas Schreibtisch neben dem Computer stand. Der mit dem fiesen leuchtenden Auge oben auf dem Arm drauf. Vor dem Ding hatte sie Angst. Es sah immer so aus, als würde es sie beobachten. Papa hatte ihr zwar ganz genau erklärt, dass es ein netter Roboterarm sei, Mama hatte darauf bestanden, aber Betty glaubte kein Wort davon. Was wusste Papa schon. Der dicke Roboterarm mit dem starrenden Glasauge führte nichts Gutes im Schilde, das sah man doch sofort.
„Nein, nein“, rief der Papa jetzt. „Die Vektoren zwischen den emulierten Sinnesmodalitäten sind korrekt. Wir haben die doch nicht umsonst dreimal neu gemappt. Es waren die Versuchsdaten von über hundert Probanden.“ Er klang erschöpft. Papa sah auf und trat mit einem schnellen Schritt an die Tafel heran. Dann folgte er den Zeichen langsam mit dem Zeigefinger, als ob er einen geheimen Weg durch ein Labyrinth suchen sollte, und flüsterte dabei unaufhörlich vor sich hin.
Betty entspannte sich ein bisschen. Mama hatte gesagt, wenn Papa so war, dann konnte man auch seine Möbel aus dem Zimmer tragen, ohne dass er etwas bemerkte. Sie spürte einen Luftzug und sah, dass die Tür zum Balkon offen stand. Der Balkon war sehr groß und sie vergaß immer, dass man nicht nur vom Wohnzimmer, sondern auch vom Arbeitszimmer aus eine Tür dorthin öffnen konnte.
Sie trat auf den Balkon in die kühle Abendluft hinaus und sah den Sternenhimmel über sich. Dort am Horizont, ein ganzes Stück über den Bäumen, hing der Komet am Himmel. Bewegungslos und wie eingefroren. Völlig still, als hätte jemand ein Bild von ihm einfach am Himmel festgeklebt. Das sah komisch aus. Dabei sollte er doch ganz schnell fliegen. Das hatte jedenfalls der Florian aus der Mäusegruppe erzählt, und der musste es schließlich wissen, denn der war immerhin schon ein Vorschulkind.
Sie hatten gestern im Kindergarten Bilder von dem Kometen gemalt. Bettys hing jetzt am Kühlschrank in Mamis Küche. Genauso bewegungslos wie der Echte.
Den Namen hatte sie allerdings schon wieder vergessen. Sie wusste aber noch, dass der Komet nur einmal alle zweihundert Jahre von der Erde aus gesehen werden konnte.
Was er in der ganzen Zeit sonst machte, das wusste sie nicht. Ob einem am Himmel langweilig wurde?
Sie kniff die Augen zusammen und musterte den Kometen. Er sah hübsch aus mit seinem langen Schweif. Wenn man ganz genau hinsah, dann erkannte man, dass sich der Schweif gleich an der Spitze des Kometen aufteilte. Eigentlich hatte der Komet also drei Schweife. Einen in der Mitte und noch zwei weitere, die im leichten Bogen seitlich abstanden und dabei ein bisschen wie Flügel aussahen. Betty drückte den Hasen fester an sich und lehnte schläfrig den Kopf auf seine weichen Ohren. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, den ganzen Weg bis zum Kometen hinauf zu fliegen. Mit den hübschen Flügeln, die sie im Traum eben noch gehabt hatte, könnte sie sich den Schweif genauer ansehen.
Wieso war es eigentlich auf einmal wieder so still? Sie bemerkte, dass sie ihren Papa gar nicht mehr hören konnte. Betty drehte sich um und sah, dass seine Bewegungen an der Tafel immer langsamer wurden, genauso wie sein Gemurmel. Sie sah zum Kometen zurück und dann wieder hinüber zu ihrem Vater.
Sie hatte auf einmal das merkwürdige Gefühl nicht mehr alleine zu sein....




