E-Book, Deutsch, 372 Seiten
Haupt Wo beginnt die Nacht
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-946348-36-8
Verlag: Eridanus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 372 Seiten
ISBN: 978-3-946348-36-8
Verlag: Eridanus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Hören Sie«, begann das seltsame Wesen. Es nahm die Brille ab und versuchte, vernünftig zu klingen. »Aus Ihren Unterlagen geht ganz klar hervor, dass Sie keinerlei offizielle Legitimation besitzen. Der Zustand Ihrer Verwaltungseinheit ist gelinde gesagt beklagenswert. Kein Haus sollte wie ein führerloses Schiff durch die Existenzebenen treiben. Ihr sogenannter Personalstab besteht aus einem jämmerlichen Alkoholiker im Exil und einer impertinenten Katzendame, die sich für etwas Besseres hält, weil sie die Flügel des Adels trägt. Kein Wort dabei über Ihre sogenannte Haushälterin, von der Ihnen wirklich niemand abkauft, dass sie ein Mensch ist. Es wäre für uns alle viel einfacher, wenn Sie akzeptieren, dass Ihr Universum am Ende ist. Ihr Gesuch um die Rettung der letzten beiden Zeitlinien ist lachhaft, das müssen Sie doch einsehen. Die ewige Nacht wird kommen, ob Sie das nun wollen oder nicht.«
Nach »Stille zwischen den Sternen« (ausgezeichnet mit dem Deutschen Science-Fiction Preis 2022) liefert Autor Sven Haupt nun mit »Wo beginnt die Nacht« eine einzigartige Scifi-Fantasy-Geschichte mit verblüffenden Charakteren und einem erstaunlichen Setting ab.
Autoren/Hrsg.
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01 | Suche Ein Mann namens Niklas Turner stand am äußersten Rand der Realität und wartete auf den Beginn der ewigen Nacht. Die Sonne hing tief und rot am Himmel. Eine blasse, verwaschene Kugel, die in einem trüben Nebel schwamm, als wollte sie aus ihrer Form fließen, um zerschmelzend hinter den Horizont zu laufen, wie Farbe von einer Wand hinunterläuft. Auf ihrem Weg in die Nacht bedeckte sie die Welt mit tiefen Schatten, welche mit jeder Minute länger wurden. Niklas stand regungslos und beobachtete konzentriert die Grenze des Gartens vor ihm, während er dem Haus den Rücken zuwandte. Der Übergang flackerte und die Luft darüber flirrte, wie der Horizont einer Wüste während der Mittagshitze. Der Mann verharrte so dicht am Rande des Grundstücks, dass er beobachten konnte, wo genau die beiden Realitäten aufeinandertrafen. Die Grenze verschwamm ihm ein wenig vor den Augen, wie heiße Luft eine endlose Landstraße verschwimmen und unwirklich werden lässt. Trotzdem war es hier geradezu empfindlich kalt. Er stand schon eine ganze Weile hier, darauf wartend, dass die Welt jenseits des Gartens endlich real würde. Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in den Übergang. Eine unsichtbare Wand hielt den Qualm auf. Dahinter schob sich die Welt immer wieder aus seinem Fokus heraus und wieder zurück, wie das Bild in einer Kamera, das endlich scharf gestellt werden will. Er schüttelte den Kopf und zog den schweren, gefütterten Mantel enger um sich. »Was ist los?«, fragte eine ungeduldige, weibliche Stimme. »Worauf wartest du?« Sie schien irgendwo in den Tiefen seines Mantels zu entstehen und klang tief und wohltönend. Niklas hatte schon vor langer Zeit entschieden, dass sie klang wie flüssige Schokolade. Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann, soweit sich das unter den dicken Pelzschichten erkennen ließ, der im Moment sehr müde wirkte. Er fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht, strich durch den kurzen Vollbart und nahm schließlich die Brille ab, um sich mit dem Handrücken über die Augen zu reiben. Ohne Brille sah man, wie erschöpft er sein musste. Die Brille wieder aufsetzend, nahm er einen letzten Zug von seiner Zigarette. Mit einer lässigen, viel zu oft praktizierten Geste, schnippte er den Filter mit der letzten Glut in den Übergang hinein. Genau an dem Punkt, an welchem die schwach wabernden Luftschichten aufeinandertrafen, blieb die Kippe in der Luft stecken. Dort hing der kleine, schimmernde Glutpunkt, als wäre er plötzlich verwirrt über seine ihm zugedachte Flugbahn. Die Glut nach außen gerichtet, qualmte sie weiter und flackerte immer wieder in und aus der Realität. »Der Übergang ist nicht stabil«, kommentierte Niklas mit rauer Stimme. »Das Haus findet die Zeitlinie nicht.« »Das ist kein gutes Zeichen«, erklärte die Stimme leise. »Nein, ist es nicht«, bestätigte er. »Ist etwas zu sehen?« Niklas kniff die Augen zusammen. »Ein Hügel, der genau vor dem Grundstück liegt. Gekrönt von einem großen Baum.« »Und wie sieht er aus?« »Er kann sich noch nicht entscheiden.« Tatsächlich wechselte der Baum durch verschiedene Phasen seiner Existenz. Er zeigte sich mal unter der Last von Schnee und dann wieder von einer strahlenden Blütenpracht bedeckt. Gelegentlich überlagerten sich die Bilder und der Schnee zusammen mit den Blüten formte eine glühende, weiße Aura. »Das Haus bemüht sich«, kommentierte Niklas, »aber die Linie scheint sich zu wehren.« »Es wäre nicht das erste Mal«, erklärte die Stimme mit besorgtem Unterton. »Auch hier scheint der Anker zu fehlen und ich vermute stark einen fortgeschrittenen Befall.« Niklas nickte stumm. »Wird es stabiler?«, fragte die Stimme. »Du kannst es dir auch gerne selbst ansehen, weißt du?« »Sind die Raben noch da?« »Oh ja.« »Verbindlichsten Dank. Ich habe keinerlei Interesse daran, hier als Frühstück zu enden. Die Viecher sind groß wie Truthähne.« Niklas lächelte nickend. Dem konnte er nichts entgegensetzen. Die Raben waren überall. Sie flackerten noch, unschlüssig, ob eine unverrückbare Existenz den Aufwand wert wäre, gewannen jedoch zunehmend an Realität. Als der Baum sich schließlich entschieden hatte, belagerten sie ihn zu Hunderten. Sie saßen in dichten Gruppen auf den schwarz verkohlten Ästen, die sich in stummer Anklage in den Himmel reckten. Einige ihrer aufmerksamen Vertreter hatten das Anwesen bereits bemerkt und hüpften dem Mann entgegen, während sie den Neuankömmling aus rollenden Augen musterten. Das Haus jedoch schien die Vorurteile der Stimme zu teilen. Wann immer ein neugieriger Vogel die Grenze zum Grundstück überquerte, verschwand er kurz, nur um in entgegengesetzter Richtung hüpfend wieder aufzutauchen. Bei einem besonders hartnäckigen Exemplar führte dies zu einem fortwährenden Hin und Her, sodass es aussah wie ein lebender Grafikfehler im Programmcode der Zeitlinie. Das Flimmern verschwand und die Zigarette fiel zu Boden. »Na endlich«, grunzte Niklas. Er tat einen großen Schritt und löschte die Glut unter seinem schweren Stiefel. Er begann, mit langen Schritten die Steigung des Hügels zu erklimmen, der schwarzen Silhouette des Baumes entgegen, begleitet und angefeuert vom aufgeregten Rufen und Flattern seiner Bewohner. Die Luft war kalt und so trocken, dass sein Atem nicht einmal zu sehen war. Er umrundete den mächtigen Stamm und zog scharf die Luft ein. »Was?«, fragte die Stimme. »Was ist passiert?« Niklas griff in die Seitentasche seines Mantels und zog ein silbernes Etui hervor, dem er eine neue Zigarette entnahm. Sein goldenes Benzinfeuerzeug schnappte mit einem Klicken auf. Erst nach einem langen Zug, als die Rauchfahne schon dabei war, sich auf der weiten Ebene zu Füßen des Hügels zu verlieren, antwortete er mit gepresster Stimme. »Schlachtwelt.« Dem folgte ein verdutztes Schweigen. »Du meinst Schlachtfeld?« »Nein. Denn ein Feld suggeriert eine räumliche Begrenzung.« »Oh.« Unter der teilnahmslosen roten Sonne erstreckte sich die Verwüstung bis zum Horizont. Trümmer, Krater. Schwere Metallgerüste und Maschinen, zerfetzt wie Papiertücher. Der Boden dicht bedeckt von Rüstungs- und Leichenteilen. »Ich rieche keine Verwesung«, kommentierte die Stimme irgendwann. »Es ist schon einige Wochen her«, erklärte Niklas. »Die Raben sind fertig und satt. Dann kam die Kälte. Für diesen Ort bricht die ewige Nacht herein und es ist nicht mehr viel Zeit.« Mit diesen Worten ging der Mann mit langsamen Schritten den Hügel hinab, seine Augen fest auf die Zeugnisse vollständiger Zerstörung gerichtet. Er wäre fast gestürzt, als sich plötzlich der Boden unter ihm bewegte. Das Beben war nicht stark. Es schien, als würde der ganze Planet seufzen und bis in seinen Kern hinein erschauern. Tief und bedrohlich. Ein Bersten und Grollen, das einem, selbst als es verklungen war, noch in den Knochen zu vibrieren schien. »Oje«, machte die Stimme. »Erdbeben?«, kommentierte Niklas. »So in etwa.« »Entschuldigung?« »Schau mal nach oben. Siehst du am Himmel etwas … Ungewöhnliches?« Niklas spähte in das Zwielicht der Dämmerung hinauf und suchte den Himmel ab. »Siehst du da irgendwo einen schwarzen, dunklen Schatten?« Niklas kniff die Augen zusammen. »Ja. Schwach. Aber nur wenn man es weiß, ist er definitiv zu erkennen. Ziemlich groß sogar. Was ist das? Das hatten wir noch nicht.« »Wenn der Befall zu weit fortschreitet, können ganze Planeten in diese Realität überwechseln. Das ist kein echter Planet. Bei so großer Annäherung würde die Erde einfach zerbrechen und meine Scans des Gravitationsfeldes sind unauffällig. Es ist eine Projektion aus der Astralebene. Das bedeutet, dass das Parasitenuniversum diese Zeitlinie fast vollständig übernommen hat. In dem Zuge, wie es mächtiger wird, desintegriert es diese Welt. Sieh mal genau hin. Siehst du Lichter auf der Oberfläche?« Niklas studierte den Himmel. »Ja. Sehr schwach und flackernd.« »Das sind Feuer, in denen die Rohstoffe dieser Welt brennen. Dieser Planet hier wird vollständig zermahlen werden. Es gibt nichts mehr, was wir für diesen Ort noch tun können.« »So weit fortgeschritten«, murmelte der Mann, »war die Zerstörung noch nie.« »Wir nähern uns dem Ende. In Kürze werden alle Zeitlinien ähnlich aussehen. Wenn wir den Anker nicht bald finden, können wir unbegrenzt Urlaub machen gehen. Es wird ein paar verdammte Ewigkeiten dauern, bis sich neue Zeitlinien formen.« »Wenn hier alles verloren ist, warum sind wir dann überhaupt hier?« »Warum wohl?«, entgegnete die Stimme. »Irgendwo auf diesem Schlachtfeld liegt unser Anker! Dort und verteilt auf ein paar Hundert Mägen fetter Raben. Wir sind neuerdings immer zu spät. Etwas sabotiert uns. So langsam wird es peinlich. Siehst du Motoren oder Maschinen irgendeiner Art? Schornsteine oder Transporttiere?« Niklas trat vorsichtig zwischen die Trümmer. Er sah Überreste menschlicher Skelette in übergroßen Rüstungsteilen, soweit das Augen reichte. Zerstörte Maschinen in merkwürdigen Formen. Leere Rüstungen. Verbogenes Metall. Mächtige Konstrukte auf Beinen mit übergroßen Greifarmen. »Nein, nur sehr viel kunstvoll verarbeitetes Metall. Riesige Rüstungen und endlos viel verbogener Schrott, der vielleicht mal Waffen...




