Hawthorne / Brôcan | Der scharlachrote Buchstabe | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Hawthorne / Brôcan Der scharlachrote Buchstabe

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24541-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-446-24541-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Amerika im 17. Jahrhundert: Eine Frau, des Ehebruchs schuldig, steht am Schandpfahl und verrät nicht, wer der Vater ihrer Tochter ist. Die gestrenge puritanische Obrigkeit verurteilt sie, als Zeichen ihrer Schande lebenslang einen scharlachroten Buchstaben zu tragen. Die Folgen dieser übertriebenen Moralvorstellungen und die Mechanismen der gesellschaftlichen Ausgrenzung schildert Nathaniel Hawthorne mit psychologischer Raffinesse. Sein Roman ist einer der wichtigsten amerikanischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, als sich das moderne Amerika mit dem Blick in seine Geschichte neu erfand. Mit seiner glasklaren Neuübersetzung gibt Jürgen Brôcan dem Roman eine Gestalt für heutige Leser; im Anhang erläutert er die historischen und literarischen Hintergründe.

Nathaniel Hawthorne (1804-1864) lebte einen großen Teil seines Lebens in Salem (Massachusetts) und Umgebung. Seine Romane und zahlreichen Erzählungen erweisen ihn als einen der wichtigsten amerikanischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
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Das Zollhaus


Als Einleitung
zum »Scharlachroten Buchstaben«

Etwas merkwürdig ist es schon, daß sich – trotz meiner Abneigung, am Kaminfeuer oder im Freundeskreis allzu viel von mir und meinen Angelegenheiten zu reden – zweimal in meinem Leben ein autobiographischer Impuls meiner bemächtigte und ich mich an die Öffentlichkeit wandte. Das erste Mal ist drei oder vier Jahre her, damals beehrte ich den Leser – unverzeihlicherweise und aus keinem erfindlichen Grund, den sich der nachsichtige Leser oder der zudringliche Autor ausmalen könnte – mit der Beschreibung meines Lebenswandels in der Stille eines Alten Pfarrhauses. Und jetzt knöpfe ich mir das Publikum erneut vor, denn ich hatte das Glück, beim damaligen Anlaß ganz unverdient ein, zwei Zuhörer zu finden, und spreche von meiner dreijährigen Erfahrung im Zollhaus. Getreulicher ist dem Beispiel des berühmten »P. P., Gemeindeschreiber hierorts« niemals gefolgt worden. In Wahrheit jedoch wendet sich der Autor, wenn er seine Blätter in den Wind streut, wohl nicht an die vielen, die sein Buch beiseite schleudern oder nie in die Hand nehmen werden, sondern an die wenigen, die ihn besser verstehen als die Mehrzahl seiner Schul- oder Lebenskameraden. Tatsächlich tun manche Autoren weit mehr als dies und schwelgen in solch tiefer Vertraulichkeit der Enthüllung, wie sie sich in angemessener Weise einzig und allein an das eine Herz, an den einen Geist der vollkommenen Anteilnahme richten kann, als fände das gedruckte Buch, aufs Geratewohl in die weite Welt geworfen, unzweifelhaft die abgetrennte Hälfte vom Wesenskern des Autors und vollendete in dieser Vereinigung seinen Lebenskreis. Es schickt sich allerdings wenig, alles auszusprechen, selbst wenn wir unpersönlich reden. Da die Gedanken jedoch gefrieren und der Ausdruck taub ist, solange der Sprecher nicht in echter Beziehung zu seinen Zuhörern steht, mag es verzeihlich sein, wenn man sich vorstellt, ein Freund, ein liebenswürdiger, besorgter, wenngleich nicht besonders enger Freund, lauschte unserer Rede; und wenn dann die angeborene Zurückhaltung durch dies warme Mitempfinden aufgetaut ist, können wir von den Gegebenheiten ringsum und sogar über uns selbst plaudern, aber das innerste Selbst noch immer hinter einem Schleier verbergen. Bis dorthin und in diesen Grenzen darf, wie mir scheint, ein Schriftsteller autobiographisch sein, ohne die Rechte des Lesers oder seine eigenen zu verletzen.

Es wird sich auch zeigen, daß diese Skizze des Zollhauses ihren rechten, in der Literatur immer schon anerkannten Sinn hat, da sie erklärt, auf welche Weise ein Großteil der folgenden Seiten in meinen Besitz gelangt ist, und die Authentizität der in ihnen enthaltenen Erzählung belegt. Tatsächlich ist dies – das Verlangen, mich in die wahre Position allenfalls als Herausgeber, und wirklich kaum mehr, der weitschweifigsten meiner Geschichten zu setzen, aus denen dieser Band besteht –, tatsächlich ist dies und nichts anderes der wahre Grund dafür, daß ich eine persönliche Beziehung zum Publikum aufnehme. Um dieses oberste Ziel zu erreichen, schien es erlaubt, durch zusätzliche Striche ein blasses Abbild einer bislang nicht dargestellten Lebensweise zu geben, zusammen mit ein paar darin handelnden Personen, von denen eine zufällig der Autor ist.

In meiner Heimatstadt Salem, am Ende dessen, was vor einem halben Jahrhundert in den Tagen des alten King Derby ein geschäftiger Pier war – den aber jetzt die Last verfallener hölzerner Lagerhäuser drückt und der nur wenige oder gar keine Anzeichen von Handel aufweist, außer vielleicht mitten auf seiner melancholischen Länge eine Bark oder Brigg, die Felle löscht, oder etwas näher heran ein Schoner aus Neuschottland, der eine Feuerholzladung auswirft –, am Ende dieses brüchigen, oft überfluteten Piers also, an dessen Fundament und hinter der Häuserreihe man die Spur vieler träger Jahre in einem Streifen mageren Grases erkennt –, hier steht ein geräumiges Backsteingebäude, dessen Frontfenster über diese nicht besonders erbauliche Aussicht hinweg aufs Hafenbecken blicken. Jeden Vormittag flattert oder hängt auf dem höchsten Punkt seines Daches für exakt dreieinhalb Stunden, bei Brise oder Flaute, die Fahne der Republik; die dreizehn Streifen jedoch senkrecht gedreht statt horizontal, was darauf hindeutet, daß dies ein ziviler und kein militärischer Posten von Onkel Sams Regierung ist. Die Hausfront schmückt ein Portikus aus einem halben Dutzend Holzsäulen, die einen Söller stützen, unter dem eine Treppenflucht aus breiten Granitstufen auf die Straße hinabführt. Über dem Eingang schwebt ein gewaltiges Exemplar des amerikanischen Mutteradlers mit ausgebreiteten Flügeln, einem Schild vor der Brust und, wenn ich mich richtig erinnere, einem Bündel vermengter Blitze und Pfeile voller Widerhaken in jeder Klaue. In der üblichen Gemütsschwäche, die dieses unselige Federvieh charakterisiert, scheint es durch die Schärfe von Schnabel und Auge und sein allgemein wildes Gebaren der harmlosen Gemeinschaft mit Unheil zu drohen und vor allem sämtliche Bürger, die sich um ihre Sicherheit sorgen, vor dem Eindringen in jene Räumlichkeiten zu warnen, die es mit seinen Flügeln überschattet. Trotz seines verschlagenen Blicks suchen viele Leute derzeit Zuflucht unter den Fittichen des föderalen Adlers; vermutlich stellen sie sich vor, seine Brust sei so weich und warm wie ein Daunenkissen. Doch selbst in bester Laune ist er nicht besonders zärtlich, und früher oder später – meist früher als spät – wirft er seine Nestlinge hinaus mit einem Klauenkratzer, einem Schnabelstoß oder einer schwärenden Wunde von seinen hakenbewehrten Pfeilen.

Im Pflaster rings um das eben beschriebene Gebäude, das wir auch gleich das Hafenzollhaus nennen können, wächst reichlich Gras in den Ritzen, woran man erkennt, daß es seit längerem nicht in strömender Geschäftigkeit genutzt wurde. In einigen Monaten des Jahres gibt es allerdings öfter Vormittage, an denen die Dinge rascher voranschreiten. Solche Gelegenheiten erinnern die älteren Bürger an die Zeit vor dem letzten Krieg mit England, als Salem ein selbständiger Hafen war und nicht wie heute von den eigenen Kaufleuten und Schiffseignern verschmäht, die es zulassen, daß ihre Piers verfallen, während ihre Spekulationen sinnlos und unmerklich die gewaltige Handelsflut in New York oder Boston anschwellen lassen. An einem solchen Morgen, wenn zufällig drei oder vier Schiffe auf einmal anlegen – meist aus Afrika oder Südamerika – oder kurz vor ihrer Weiterfahrt stehen, hört man das Getrappel vieler Füße, die flott die Granitstufen hinauf- und hinablaufen. Hier kann man, noch ehe die Gattin ihn begrüßt hat, dem meergeröteten, soeben eingelaufenen Kapitän mit Schiffspapieren in einer fleckigen Blechbüchse unterm Arm begegnen. Hierher kommt auch der Reeder, fröhlich oder betrübt, freundlich oder mißgelaunt, je nachdem, wie sich der Plan der heute beendeten Reise in Waren umgesetzt hat, die sich alsbald in Gold verwandeln lassen oder ihn unter einem Haufen Unbequemlichkeiten begraben, die ihm niemand abnehmen will. Hier haben wir auch den tüchtigen jungen Kommis – Ursache für den faltenstirnigen, graubärtigen, sorgenzermürbten Kaufmann –, der ein Geschäft wittert wie ein Wolfsjunges das Blut und schon Spekulanten ins Schiff seines Herrn schickt, wo er besser daran täte, Spielzeugboote über den Mühlteich fahren zu lassen. Eine weitere Gestalt auf dieser Bühne ist der zum Auslaufen bereite Matrose auf der Suche nach einem Schutzbrief; oder der vor kurzem eingelaufene, der bleich und kränklich nach einem Passierschein zum Hospital verlangt. Wir dürfen außerdem nicht die Kapitäne der rostigen kleinen Schoner vergessen, die Feuerholz aus den britischen Provinzen bringen; eine rauh aussehende Truppe Teerjacken, die zwar nicht so munter sind wie die Yankees, aber auch keinen geringen Beitrag zum Niedergang unseres Handels leisten.

Versammelt man nun all diese Personen so, wie es manchmal der Fall war, und fügt diverse Individuen hinzu, um die Gruppe aufzulockern, dann ergibt sich vorläufig die geschäftige Szene des Zollhauses. Noch häufiger entdeckt man beim Erklimmen der Stufen – sommers im Eingang, winters oder bei schlechtem Wetter in den entsprechenden Räumlichkeiten – eine Reihe ehrwürdiger Gestalten auf altmodischen Stühlen, die mit den Hinterbeinen gegen die Wand kippen. Oft schlafen sie, gelegentlich jedoch hört man sie miteinander reden, mit Stimmen zwischen Sprechen und Schnarchen und jenem Mangel an Tatkraft, der bezeichnend ist für Armenhausbewohner und sämtliche Menschen, deren Unterhalt von Barmherzigkeit, von monopolisierter Arbeit oder etwas anderem, bloß nicht von selbständiger Bemühung abhängt. Diese alten Gentlemen – die wie Matthäus am Zoll saßen, jedoch gar nicht in Gefahr, von dort, gleich ihm, zum apostolischen Dienst berufen zu werden –, das waren die Zollbeamten.

Wenn man durch die Eingangstür tritt, befindet sich linker Hand ein gewisses Zimmer oder Büro, etwa fünfzehn Fuß im Quadrat und schwindelnd hoch; zwei seiner Bogenfenster bieten einen Blick auf den erwähnten brüchigen Pier, während das dritte auf eine Gasse und einen Teil der Derby Street hinabschaut. Alle drei erlauben einen flüchtigen Blick auf die Läden der Krämer, Blockmacher, Klamottenhändler und Schiffsausrüster; an deren Türen sieht man meist lachende und schwatzende Gruppen alter Seebären und anderer Dockratten, wie sie im Wapping eines Seehafens herumgeistern. Der Raum ist voller Spinnweben und hat einen schmuddeligen alten Farbanstrich; der Boden ist mit grauem Sand ausgestreut in einer Weise, die anderswo längst außer Mode gekommen ist; und die allgemeine Schlampigkeit des Ortes legt den Schluß nahe, daß dies...


Hawthorne, Nathaniel
Nathaniel Hawthorne (1804-1864) lebte einen großen Teil seines Lebens in Salem (Massachusetts) und Umgebung. Seine Romane und zahlreichen Erzählungen erweisen ihn als einen der wichtigsten amerikanischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Brôcan, Jürgen
Jürgen Brôcan, geb. 1965 in Göttingen, Studium der Germanistik und Europäischen Ethnologie, lebt als freier Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer in Dortmund.

Mehrere Künstlerbücher und sechs Gedichtbände, zuletzt “Antidot” (Edition Rugerup: Berlin und Hörby/Schweden 2012), der mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW gefördert wurde. Herausgabe von zwei Gedichtbänden aus dem Nachlaß des Surrealisten Johannes Hübner in der Edition Maldoror und, zusammen mit Jan Kuhlbrodt, der Anthologie “Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht” (Poetenladen, Leipzig 2009). Außerdem weit über hundert Artikel, Rezensionen und Essays, v.a. für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.

Brôcan, Jürgen
Jürgen Brôcan, geb. 1965 in Göttingen, Studium der Germanistik und Europäischen Ethnologie, lebt als freier Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer in Dortmund.

Mehrere Künstlerbücher und sechs Gedichtbände, zuletzt “Antidot” (Edition Rugerup: Berlin und Hörby/Schweden 2012), der mit einem Stipendium der Kunststiftung NRW gefördert wurde. Herausgabe von zwei Gedichtbänden aus dem Nachlaß des Surrealisten Johannes Hübner in der Edition Maldoror und, zusammen mit Jan Kuhlbrodt, der Anthologie “Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht” (Poetenladen, Leipzig 2009). Außerdem weit über hundert Artikel, Rezensionen und Essays, v.a. für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung.

Nathaniel Hawthorne (1804-1864) lebte einen großen Teil seines Lebens in Salem (Massachusetts) und Umgebung. Seine Romane und zahlreichen Erzählungen erweisen ihn als einen der wichtigsten amerikanischen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.



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