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E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Hayes The Sirens' Call
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7453-2688-8
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Ende der Aufmerksamkeit und wie wir sie zurückerlangen können | Auf Barack Obamas Sommer-Leseliste | Der New-York-Times-Bestseller Nr. 1 endlich auf Deutsch
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-7453-2688-8
Verlag: riva
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chris Hayes ist politischer Journalist, Autor und Fernsehmoderator mit einer täglichen Primetime-Sendung bei MSNBC. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New York.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 2
Der Spielautomat und Uncle Sam
Aufmerksamkeit existiert, um ein Problem zu lösen, und das Problem heißt Information. Die Menge an Sinneseindrücken, die ein Mensch in jedem Moment erlebt, ist überwältigend. Man könnte sich theoretisch auf jedes Blatt an jedem Baum konzentrieren, an dem man vorbeigeht, auf den eigenen Herzschlag, die Empfindungen in jedem Finger und das Geräusch des eigenen Atems in der Nase. Wären alle Reize, die wir in jedem Moment erleben, für uns gleich wichtig, könnten wir nicht funktionieren.
In einfacheren Zeiten benötigten wir bestimmte Informationen zum Überleben: den Standort von Nahrung, die Farbe einer Beere, um festzustellen, ob sie essbar ist, das Geräusch eines plätschernden Baches, der uns zu frischem Wasser führt. Doch damals wie heute laufen wichtige Informationen ständig Gefahr, von anderen Informationen, die durch unsere Wahrnehmung fließen, überlagert zu werden. Wenn wir das Rascheln der Blätter nicht ignorieren können, um uns auf das Rauschen des Bachs zu konzentrieren, werden wir das Wasser nicht finden. Der Ökonom Herbert Simon, dessen 1971 erschienener Essay über die Aufmerksamkeitsökonomie eine der aufschlussreichsten Betrachtungen über Aufmerksamkeit ist, die jemals veröffentlicht wurden, stellte lange vor dem Zeitalter ständiger Smartphone-Push-Benachrichtigungen fest, dass »ein Überfluss an Informationen einen Mangel an etwas anderem bedeutet: eine Knappheit dessen, was auch immer Informationen verbrauchen. Was Informationen verbrauchen, ist ziemlich offensichtlich: Sie verbrauchen die Aufmerksamkeit ihrer Empfänger«.1 Informationen sind im Überfluss vorhanden; Aufmerksamkeit ist knapp. Informationen sind theoretisch unendlich, während Aufmerksamkeit begrenzt ist. Deshalb sind Informationen billig und Aufmerksamkeit ist teuer.
Informationen auszusortieren, sie in kohärente, verarbeitbare Einheiten zu ordnen, die meisten von ihnen zu einem gegebenen Zeitpunkt auszublenden ? das ist für unsere Welterfahrung so elementar, dass es nahezu unmöglich ist, sich vorzustellen, wie es wäre, diese Fähigkeit zu verlieren. Ein Psychologe, der an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet, beschreibt eine solche Welt ohne mentale Filter: »Beim Mittagessen stört ein Gespräch in der Nähe unsere Fähigkeit, dem Gesprächspartner gegenüber zuzuhören, so interessant er auch sein mag; in der Stille einer Bibliothek kann das Geräusch eines Stuhls, der zurechtgerückt wird, einen Gedankengang unterbrechen. Unaufhörlich dringen ungeordnete, unerwünschte Informationen ein.«2
»Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist«, verlautbarte William James im Jahr 1890 in seinen Principles of Psychology.3 In gewisser Weise hatte er damals wie heute recht. Aufmerksamkeit ist so allgegenwärtig, dass wir kaum erklären müssen, was sie bedeutet. Wenn Sie jemandem sagen, er solle aufmerksam sein, weiß er, was Sie meinen. Wenn er Ihnen eine Frage stellt und Sie nicht antworten und »Tut mir leid, ich war abgelenkt« sagen, weiß er ebenfalls, was Sie meinen. Dennoch hielt James es für sinnvoll, eine eigene Definition vorzulegen, die bis heute vermutlich unübertroffen ist: Aufmerksamkeit ist »die Inbesitznahme des Geistes durch einen von scheinbar mehreren gleichzeitig möglichen Gegenständen oder Gedankengängen, und zwar in eindeutiger und lebhafter Weise. Fokussierung und Konzentrierung des Bewusstseins sind ihr Wesenskern. Sie impliziert die Vernachlässigung einiger Dinge, um andere besser verarbeiten zu können.«4
Gerade weil uns Aufmerksamkeit so vertraut ist, übersehen wir leicht ihre erstaunliche Komplexität. Sobald wir versuchen, sie genauer zu erfassen, entzieht sie sich uns. Bereits 1886, als William James noch an seinen Principles of Psychology arbeitete, veröffentlichte der Philosoph F. H. Bradley einen Essay, in dem er die Frage aufwarf, ob Aufmerksamkeit überhaupt ein in sich stimmiges Konzept sei: »Gibt es überhaupt eine besondere Aktivität namens Aufmerksamkeit?«5 Vor einigen Jahren verfasste eine Gruppe von Forschenden aus verschiedenen kognitionswissenschaftlichen Bereichen gemeinsam einen Artikel mit dem provokanten Titel »Niemand weiß, was Aufmerksamkeit ist«. Darin argumentierten sie, gestützt auf aktuelle empirische Befunde und modernste Erkenntnisse zur visuellen Aufmerksamkeit, dass das Konzept an sich zugleich inkohärent und theoretisch wertlos sei: »einer der am meisten irreführenden und missbrauchten Begriffe innerhalb der Kognitionswissenschaften«.6
So weit würde ich nicht gehen, aber eines ist unbestreitbar wahr: Je intensiver man sich mit der Frage beschäftigt, was Aufmerksamkeit eigentlich ist, desto komplexer wird sie. Nehmen wir zur Veranschaulichung ein ausführliches Beispiel aus der Literatur zur Aufmerksamkeit. Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Cocktailparty mit Dutzenden Gästen. Sie haben ein paar Drinks intus und kommen mit einer kleinen Gruppe von Menschen ins Gespräch, die in die typische Cocktailparty-Kategorie fallen: weder enge Freunde noch Fremde. Smalltalk auf dieser Ebene sozialer Distanz ist immer etwas anstrengend, daher sind Sie ziemlich konzentriert, lehnen sich leicht nach vorne, um sich vom Lärm um Sie herum abzuschirmen, und achten darauf, dass Sie deutlich hören können, was Ihre Gesprächspartner sagen.
In diesem Moment sind Sie genau auf die intuitive Weise aufmerksam, die James beschrieben hat. Psychologen vergleichen diese Art aktiver Aufmerksamkeit oft mit einem Bühnenscheinwerfer, den man schwenken und gezielt auf diese oder jene Person richten kann. Vielleicht ähnelt sie in diesem Zusammenhang auch eher einem Stabmikrofon, das ein Reporter Zeugen vor die Nase hält, um so die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf einen bestimmten Sprecher zu lenken, anstatt auf einen anderen.
In dieser Situation zeigt sich das zentrale Element, das James betont: Aufmerksamkeit ist ein Nullsummenspiel. Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Gespräch vor Ihnen richten, achten Sie nicht darauf, welcher Kellner mit einem Tablett voller Frühlingsrollen mit Ente gerade näher kommt. Sie können sich entweder dem Gespräch widmen oder kurz aussteigen und nach den herannahenden Vorspeisen Ausschau halten. Sie befinden sich in genau dem Zustand, den James beschrieb, der »Vernachlässigung einiger Dinge, um andere besser verarbeiten zu können«.7
Das ist die Form der Aufmerksamkeit, die James in seiner berühmten Passage beschreibt, und sie ist der erste von drei zentralen Aspekten der Aufmerksamkeit. Psychologen nennen diesen ersten Aspekt der Aufmerksamkeit willkürliche Aufmerksamkeit. Willkürliche Aufmerksamkeit entsteht, wenn Sie sich hinsetzen, um einen Roman zu lesen, eine Prüfung zu schreiben oder nach Feierabend ein tiefgründiges Gespräch mit Ihrem Partner zu führen. Sie konzentrieren sich, Sie hören zu, Sie richten Ihre geistige Energie gezielt auf etwas oder jemanden. In unserem Cocktailparty-Beispiel üben Sie willkürliche Aufmerksamkeit aus, wenn Sie sich vorbeugen, um das Gesagte besser verstehen zu können.
Diese Form der Aufmerksamkeit funktioniert nicht durch Verstärkung, sondern durch Negierung. Tatsächlich unterdrückt unser Gehirn alles, das anders ist als das, worauf wir uns konzentrieren. Genau das ist die »Vernachlässigung«, von der James spricht, und es ist ein notwendiger Mechanismus, der willkürliche Aufmerksamkeit überhaupt erst ermöglicht.
Diese Fähigkeit ist eine Art Superkraft. Unsere Kapazität, unwichtige Reize auszublenden und gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, ist so ausgeprägt, dass Menschen in den unterschiedlichsten Versuchssituationen völlig bizarre und oft geradezu merkwürdige Dinge, die sich direkt vor ihnen abspielen, buchstäblich nicht sehen oder hören. Das berühmteste Beispiel dafür ist das Experiment mit dem unsichtbaren Gorilla.8 Probanden sehen sich ein Video von drei Personen in weißen und drei Personen in schwarzen T-Shirts an, die herumlaufen und sich einen Basketball zuspielen. Die Personen in den weißen T-Shirts werfen sich gegenseitig den Ball zu, während sie zwischen den Personen in den schwarzen T-Shirts herumlaufen, die sich ebenfalls einen Ball zuwerfen. Es ist eine chaotische Szene. Die Probanden werden angewiesen, denjenigen in den weißen T-Shirts ihre Aufmerksamkeit zu schenken und zu zählen, wie oft sie sich den Ball zuwerfen. Dazu muss man sich ausschließlich auf die Personen in den weißen T-Shirts konzentrieren und die Aktivitäten derjenigen in den schwarzen T-Shirts ignorieren.
Nach 30 Sekunden kann etwa die Hälfte der Teilnehmenden die Anzahl der Pässe korrekt angeben. Woran sie sich jedoch nicht erinnern können ? weil sie es buchstäblich nicht gesehen haben ?, ist die Tatsache, dass mitten in der Übung eine Person in einem Gorillakostüm in das Bild läuft, sich auf die Brust schlägt, die Muskeln anspannt und die Szene wieder verlässt. Die wichtigste, immer wieder bestätigte Erkenntnis ist, dass höhere Wahrnehmungsbelastungen uns anfälliger machen für eine Art Tunnelblick.9 Der Grund, warum die Probanden den Mann im Gorillakostüm nicht sehen, liegt in der Schwierigkeit der Aufgabe und der Menge der visuellen Reize, die es zu verarbeiten gilt. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen...