Hegemann | Bungalow | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Hegemann Bungalow

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26150-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-446-26150-1
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Während ihre Mutter das letzte Einkaufsgeld versäuft, beobachtet Charlie vom Balkon ihrer Betonmietskaserne die benachbarten Bungalows und deren Bewohner: Sie lernt, dass es mehrere soziale Klassen gibt und sie selbst zur untersten gehört. Dann, kurz nach ihrem zwölften Geburtstag, zieht ein neues Ehepaar ins Viertel. Die beiden sind Schauspieler, unberechenbar, chaotisch, luxuriös, schlauer als alle anderen - und für Charlie das, was der Rest der Welt als ihre 'erste große Liebe' bezeichnen würde: Spielkameraden und Lover, größter Einfluss und größte Gefährdung. Klar und radikal erzählt Helene Hegemann vom Überleben in einer zunehmend apokalyptischen Welt und der vitalen Kraft des freien Willens.

Helene Hegemann, 1992 geboren, lebt in Berlin. 2010 debütierte sie als Autorin mit dem Roman Axolotl Roadkill, der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Die Verfilmung, bei der sie selbst Regie führte, wurde beim Sundance Festival 2017 mit dem World Cinema Dramatic Special Jury Award for Cinematography ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien von ihr die Romane Jage zwei Tiger (2013) und Bungalow (2018), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
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2


Georgs Kindheit ist nicht ganz so erheblich wie die seiner Frau. Großvater, nette Eltern, Scheißumfeld, sein Daddy war Biologe, die Mutter kümmerte sich um demente Verwandte, mit einem Stoizismus, der an den englischen Landadel des neunzehnten Jahrhunderts erinnerte, sie lernte Sprachen in der Volkshochschule, begann Telefonate deshalb mit Sätzen wie »Hello, I am your mother!« und schickte Georg zum Geburtstag mit absoluter Zuverlässigkeit Geld für Unterwäsche. Davon kaufte er sich die immer gleichen Feinrippgarnituren, in denen er, sobald die ausgefranst genug waren, aussah wie Marlon Brando im Spätwestern One-Eyed Jack. Es gibt da diese Szene, in der Marlon Brando seelenruhig zwei Bananen isst, während seine Kumpels im Hintergrund eine Bank überfallen. Danach kommt er ins Gefängnis, schwängert aus Rache die Tochter seines Verräters und verspricht, kurz bevor er sich über die Grenze nach Mexiko absetzt, dass er zu ihr zurückkehren wird.

Sein großer Bruder war inzwischen mit einer Unternehmensberaterin verheiratet, sein kleiner Bruder mit einer Frau, die aus postnataler Erschöpfung über Monate hinweg versucht hatte, ihr Kind aus dem Fenster zu schmeißen. Irgendwann trafen sich alle bei der goldenen Hochzeit ihrer Eltern wieder, und da fragte jemand seinen Vater, ob er ein Lieblingskind habe, und der Vater war besoffen und zeigte auf Georg und schrie: »Ja, das da«, und meinte das ernst. Holzvertäfeltes Schützenvereinsheim in der Nähe von Lüdenscheid. Der Raum verstummte, weil fünfzig Partygäste spürten, dass sie Zeugen einer tiefen, unangemessenen Wahrheit geworden waren.

Georgs Brüder gingen nach draußen, um sich im Hinterhof eine Zigarette zu teilen. Sie wirkten in ihrer Verbundenheit so gedemütigt, dass Georg, der sie durchs Klofenster beobachtete, das Gefühl bekam, jemand hätte ihm mit voller Wucht in den Solarplexus getreten. Er war kriminell und im übelsten Maße vereinsamt, er wurde wirklich zu Unrecht geliebt. War er früher stolz darauf gewesen, zwei Varianten menschlichen Daseins in sich zu verbinden, sich nie entschieden zu haben, ob er besser Einzelkämpfer oder Protegé sein sollte, wurde ihm inzwischen klar, dass ihm dieser Ansatz bisher zu nichts anderem verholfen hatte als gutem Sex und ein paar Möbeln vom Flohmarkt. Aus der Ferne bot sein kleiner Bruder einen ähnlich traurigen Anblick, obwohl er Kohle hatte und ein Haus und eine Sauna, die er nie benutzte. Die Zigarette brannte zu nah an seiner Knöchelkerbe, er starrte in irgendeine Ferne. Mit derselben Frustration hatte Georgs großer Bruder letzte Nacht versucht, auf der Treppe zum Badezimmer seine Pantoffeln nicht zu verlieren.

Georg musste lachen. Das hatten wir, wie ich später rausfinden sollte, gemeinsam, dass wir anfingen zu lachen in Momenten, in denen wir eigentlich einen Ganzkörperspiegel hätten zertrümmern wollen. Nicht, um »etwas zu spüren«, sondern eher, um die Welt spüren zu lassen, dass sie uns egal war.

Am nächsten Morgen wachte Georg in der Nähe seiner Grundschule auf. Er hatte Nasenbluten und versuchte, anhand bruchstückhafter Erinnerungen zu rekonstruieren, ob er letzte Nacht in eine Schlägerei geraten war. Ihm fiel auf, wie hässlich es hier war und schon immer gewesen sein musste, aschgrauer Himmel, schwarze Fensterisolierungen aus Plastik, schmutzige Fassaden. Er schaltete sein Handy an und stellte fest, dass er keine grenzwertigen Textnachrichten geschrieben und stattdessen seinen Facebook-Status um 01:24 Uhr auf »stay true to this shit« aktualisiert hatte. Keine Likes, bloß zwei unzusammenhängende Kommentare seines ehemaligen Steuerberaters, in denen es, warum auch immer, um Bio-Ethanol für Wandkamine ging. Kurz zuvor hatte Georg sich in der toskanainspirierten Wohnküche einer Nutte zu Sex bereiterklärt und eine Line mit Narkosemittel verschnittenen Kokains genommen, sein Kummer blieb über Stunden, es schien etwas vorgefallen zu sein, das eine Veränderung seiner Empfindsamkeit verursacht hatte. Ihm fiel nur leider nicht mehr ein, was. Er glaubte, sich an ein Frauengesicht zu erinnern. An auf unregelmäßigen Zähnen verschmierten Lippenstift, schwarzen Nagellack, er schlich die Straßen seiner Geburtsstadt zum Hauptbahnhof entlang. Sein Portemonnaie und sein Schlüsselbund waren gestohlen, er konnte die Fahrkarte nicht bezahlen. Er fragte ein Mädchen in der Bahnhofshalle nach einer Seite aus ihrem Spiralblock, sie kauerte neben der Digitaluhr, pauste Mangas ab, sie gab ihm das Blatt, er fragte nach einem Stift, sie gab ihm auch den, dann kritzelte er »Toilette defekt« und bedankte sich. Das Mädchen kratzte an ihren Nagelbetten rum und fing an, Hautfetzen abzuziehen. Darunter traten blutige Rinnsale hervor. Schlechtes Melodram, dachte Georg, suizidale Rich Kids und bindungsunfähige Männer Anfang vierzig hatten den Platz von Elizabeth Taylor und Richard Burton eingenommen.

Zwanzig Minuten später klebte er den Zettel mit Kaugummi an eine Klotür des ICEs und schloss sich in die Kabine ein, so nervös, wie er zuletzt mit sechzehn beim Trampen nach Spanien gewesen war.

Erst unter den Stahlträgern des Hauptbahnhofs fiel ihm ein, dass sich seine Frau noch immer in Südamerika aufhielt. Sie würde erst in zwei Tagen zurück sein. Er beschloss, zu Fuß zu seiner Geliebten zu gehen. An all den Baustellen vorbei, an denen gerade Brachland zum Standort zugangsbeschränkter Wohnkomplexe gemacht wurde. Nirgendwo empfand er die Stadt als bedrohlicher.

Die Straßenecke, an der seine Geliebte lebte, war die gekillteste. Man könnte auch sagen, die toteste, aber das stimmt nicht ganz. Sie war gekillt, auf Englisch. Die Geliebte hieß Judith. Judith war siebenundzwanzig. Aufgrund ihrer Panikattacken hatte Judith einen im vergangenen Jahr absolvierten Psychiatrieaufenthalt vorzuweisen, den Georg nie hatte nachvollziehen können, inzwischen aber höflichkeitshalber ernst nahm. Manchmal ging sie auch in »Fuck me like the whore I am«-Shirts in Uni-Seminare zum Thema Gleichberechtigung, so was war problemlos möglich in dem Teil der Stadt, in dem sie sich aufhielt, während zehn Kilometer weiter nördlich Frauen zusammenhangslos Nutte oder Fotze genannt wurden, einfach so, ohne dass das ein ironischer Bruch war. Irgendwas mochte er an ihr, trotz allem, vielleicht, dass sie anders war, harmloser, wilder, bisschen dümmer als er, dass sie, wie alle anderen, ihre Probleme auf ihr eigenes unüberwindbares Versagen zurückführte statt auf das, was sie immer noch bereitwillig Gesellschaft zu nennen fähig war.

Zum ersten Mal war er ihr, zusammen mit seiner Frau, in einem Café begegnet. Judith hatte den beiden aus ihrem Auto zugewinkt und direkt vor ihnen im Halteverbot geparkt.

Seine Frau kannte sie, wusste aber nicht mehr, woher.

Judith stieg aus, lief auf die beiden zu, ließ sich ohne Begrüßung zu ihnen an den Tisch fallen und grinste.

»Wie läuft es im Laden?«, fragte seine Frau. Laden konnte alles sein, Schuhgeschäft, Plattenfirma, Pharmakonzern.

»Voll okay, nur zu heiß da drin, bräuchte ’ne Klimaanlage.«

»Lass doch die Tür offen.«

»Schon versucht, vorne und hinten. Zu große Angst vor den Waschbären.«

»Waschbären?«

»Nicht Waschbären, sorry, zu lange Amerika. Füchse. Vor den Füchsen. Stellt euch vor, da läuft ein Fuchs rein und ich kriege den nicht mehr raus. Da schwitze ich lieber.«

Während seine Frau noch immer zu grübeln schien, in was für einer Art von Laden sie dieser Person mal begegnet war, fuhr Judith übergangslos damit fort, dass sie vorherige Nacht »1 km/h langsamen Liebessex« mit einem Typen gehabt hätte, der Florian oder Fabian hieß.

»Er jedenfalls bei mir, hat mich ’ne Stunde geleckt, ich wollte dann blasen, aber er wollte, wie er sagte, keinen Sex beim ersten Mal.«

Sie bestellte ein Omelett mit Pilzen, rief dem Kellner, als er wegging, jedoch hinterher, dass sie dafür gar nicht genug Zeit hätte und »okay for now« sei. Dann fuhr sie fort: »Ich habe ihn dann genötigt. Man kann es auch Vergewaltigung nennen. Wie der sich gewehrt hat. Das hättet ihr sehen sollen. Immer wenn ich den in den Mund nehmen wollte, hat er seine Beine verschränkt. Dann hab ich die auseinandergedrückt und ihn erst gelutscht, bis er besinnungslos war, und mich dann draufgesetzt.«

»So, wie sich das für eine richtige Vergewaltigung gehört«, sagte Maria.

»Genau«, sagte Judith.

Irgendwann stand sie auf. Genauso plötzlich, wie sie gekommen war, wollte sie auch wieder abhauen, vorher ließ sie noch die Information fallen, dass sie seit neuestem einen 90 x 70 cm großen Porträtdruck von Judith Butler über dem Bett hängen habe. Nachdem Georg seine Frau beim Zahnarzt abgeliefert hatte, fuhr er nach Hause, zog sich einen Schlafanzug an und googelte Judith Butler. Sie stellte sich als amerikanische Genderphilosophin heraus, deren gesamtes Werk auf die zentrale These reduziert werden konnte, dass die Gebärmutter gar nichts Realbiologisches, sondern nur diskursiv erzeugt worden war. Ihn befiel eine Reumütigkeit, die ihn irritierte.

Am nächsten Abend war Maria bei einem Essen mit Freunden noch besser drauf als sonst, sie ließ Theorien vom Stapel, die Georg noch nie von ihr gehört hatte, die ihn in der Ausführlichkeit ihrer Beobachtung beeindruckten, unter anderem, dass Menschen soziale Wesen und deshalb auf Geschichten über sich und ihre Beziehungen angewiesen seien, das kannte er schon von ihr, aber nicht das Buch, über das sie im Anschluss sprach, von einem italienischen Autor, der vor 1900 geboren wurde und sich vom skeptischen Zyniker irgendwann zum Folklorekatholiken...


Hegemann, Helene
Helene Hegemann, 1992 geboren, lebt in Berlin. 2010 debütierte sie als Autorin mit dem Roman Axolotl Roadkill, der in 20 Sprachen übersetzt wurde. Die Verfilmung, bei der sie selbst Regie führte, wurde beim Sundance Festival 2017 mit dem World Cinema Dramatic Special Jury Award for Cinematography ausgezeichnet. Bei Hanser Berlin erschien von ihr die Romane Jage zwei Tiger (2013) und Bungalow (2018), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.



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