E-Book, Deutsch, Band 3, 362 Seiten
Reihe: Kemper & Wahlberg ermitteln
Heiland Alte Sünden: Der dritte Fall für Kemper & Wahlberg
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96655-407-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 3, 362 Seiten
Reihe: Kemper & Wahlberg ermitteln
ISBN: 978-3-96655-407-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Henrike Heiland, geboren 1975 in Hessen, studierte deutsche und englische Literatur. Danach arbeitete sie zunächst als TV-Producerin und Drehbuchautorin; heute ist sie unter dem Namen Zoë Beck als Schriftstellerin, Übersetzerin und Synchronregisseurin sowie als Verlegerin des Verlags culturbooks erfolgreich. Auf Lesereisen lieh sie internationalen Bestsellerautorinnen wie Denise Mina, Val McDermid und Louise Welsh ihre Stimme. Die vielfach preisgekrönte Autorin - unter anderem erhielt sie den Friedrich-Glauser-Preis und den Deutschen Krimipreis - ist außerdem Mitinitiatorin des Aktionsbündnisses #verlagegegenrechts. Die Autorin im Internet (unter dem Namen Zoë Beck): https://zoebeck.blog/ Bei dotbooks erschienen die drei unter den Namen Henrike Heiland veröffentlichten Kriminalromane um die Ermittler Erik Kemper und Dr. Anne Wahlberg: »Späte Rache«, »Dunkle Spur« und »Alte Sünden«. Die ersten beiden Fälle sind auch als Sammelband erhältlich.
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Kapitel 2
Schon bevor der Wagen zum Stehen gekommen war, hatte Micha die Tür aufgerissen und angefangen, sich zu übergeben.
»Du hättest mich fahren lassen sollen«, stöhnte er, als er fertig war.
»Ich quetsch mich nicht für ein paar hundert Kilometer in deinen Mini«, sagte Erik. »Ich frag mich immer, wie du da reinpasst. Du bist doch noch größer als ich. Wie groß bist du, zwei Meter?«
»Du hättest mich ja dein Auto fahren lassen können, wenn ich selbst fahre, geht's.«
»Was mich sehr wundert, bei deinem Fahrstil. Hast du das schon immer?«
Micha holte tief Luft und schloss fest die Augen. »Das war schon so, als ich noch ganz klein war. Deshalb fahr ich jeden Meter selbst, seit ich den Führerschein hab. Auf der Autobahn ging's ja noch, aber hier ...«
Die Straßen auf Usedom waren eng und kurvig. Viele Alleen wirkten so schmal, dass Erik, der die Strecke nicht kannte, bei Gegenverkehr unwillkürlich auf die Bremse gestiegen war. Nicht, dass ihnen viele Autos entgegengekommen wären, aber dieses unregelmäßige Beschleunigen und Bremsen hatte Micha den Rest gegeben.
Sie standen in einem kleinen Waldstück kurz hinter dem Ort Usedom, nach dem die Ostseeinsel benannt worden war. Nicht mehr lange, und sie würden ihr Ziel erreicht haben.
Erik sah auf die Uhr: gleich sieben Uhr morgens. Sie hatten auf dem Parkplatz des Anklamer Krankenhauses ein wenig gedöst und sich dann vor einer guten Stunde auf den Weg in Richtung Kamminke gemacht. An der Zechiner Brücke hatten sie warten müssen, da diese gerade für durchfahrende Schiffe geöffnet war, aber weil es früh am Morgen war, stauten sich wenigstens noch nicht die touristischen Blechschlangen auf den Zufahrtswegen zur Ostsee.
Die Standpauke vor Mikes Krankenzimmer von Kollegin Thiele aus Anklam war Erik egal gewesen. Er wusste selbst, dass er sich gerade zu weit aus dem Fenster lehnte. Micha Anders, sein Stellvertreter bei der Mordkommission in Rostock, wusste es auch und war trotzdem mitgekommen.
»Meinst du, die von der KTU sind noch da?«, fragte Micha. Er hielt sich mit beiden Händen am Dach von Eriks Volvo fest.
»Keine Ahnung. Risiko.«
»Die Thiele taucht bestimmt auf. Die ist ja nicht blöd. Die weiß, dass wir hinfahren.«
Erik nickte und stieg nun ebenfalls aus. Er ging um das Auto herum zu Micha und fischte eine Zigarettenschachtel aus dessen Hosentasche.
»Auch eine?« Er grinste und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Dann suchte er nach einem Feuerzeug.
»Bleib mir weg mit dem Zeug! Ich kann jetzt echt nicht.«
»Dann geht's dir wirklich schlecht.«
»Nee, ich kotz nur so zum Spaß«, langsam kam wieder etwas Farbe in Michas Gesicht. »Was weißt du eigentlich über die Thiele?«, wechselte er das Thema.
Erik überlegte kurz und inhalierte tief. »Natalie mit Vornamen, glaub ich. Ist seit neunzehn Jahren dabei, gleich nach der Schule hat sie angefangen und sich seit der Wende hochgearbeitet. Ich hab sie mal vor Ewigkeiten auf einem Lehrgang kennen gelernt. Tougher als fünf Kerle, jedenfalls versucht sie das. Sei froh, dass du ihr heute Nacht nicht auch noch in die Arme gelaufen bist.«
»Meinst du, sie beschwert sich über dich?«
»Hat sie schon längst. Aber was erwartet die? Dass wir zu Hause sitzen und Däumchen drehen, wenn ein Kollege von uns stirbt? Da scheiß ich doch auf Zuständigkeiten!«
Micha zuckte mit den Schultern. »Das gibt richtig viel Ärger.«
»Wegen der Thiele?«
»Wegen dir.« Micha stieg ein und knallte die Tür zu. Dann ließ er das Fenster runter. »Was ist jetzt, fahren wir weiter?«
Erik warf die Kippe auf den Boden. Im selben Moment fiel sein Blick auf das Hinweisschild: »Waldbrandgefahr«. Er hob sie wieder auf und steckte sie in den Aschenbecher seines Wagens.
»Mister Vorbild des Jahres«, lästerte Micha.
»Hey, eben noch fast mein Auto vollkübeln und jetzt Sprüche reißen. Ein bisschen Zurückhaltung wäre angesagt, glaube ich.«
»Sei froh, dass ich dir nicht auf deinen schicken Anzug gereihert hab. Wieso hast du dich eigentlich so rausgeputzt? Warst du im Konzert oder was? Noch eine schwarze Krawatte, und du siehst aus, als kämst du von einer Beerdigung.«
Erik stieg auf die Bremse. Micha, der sich noch nicht angeschnallt hatte, stützte sich am Armaturenbrett ab.
»Sag mal, spinnst du?«, brüllte Micha.
Erik brüllte zurück: »Du faselst hier was von Beerdigung! Überleg mal, warum wir hier sind! Geschmackloser geht's wohl nicht!«
Wortlos schnallte sich Micha an und blickte starr nach vorne. Erik fuhr wieder los. Nach einigen Minuten eisigen Schweigens sagte er: »Ich komm wirklich gerade von einer.«
»Beerdigung?«
»Ja. Frag nicht.«
Sie schwiegen weiter.
Es ging über malerische Alleen, vorbei an hochsommerlich gelben Feldern, die von Kiefernwäldern begrenzt wurden, bis die Straße wieder durch ein dunkles Waldstück führte. Die hellen Sonnenstrahlen, die durch die Blätter brachen, irritierten Erik. Es sieht aus wie in einem Märchenwald, dachte er.
»Kennst du diese eine Geschichte von Stephen King«, brach Micha plötzlich die Stille. »Da suchen die immer nach Abkürzungen, um schneller irgendwo anzukommen, und die Abkürzungen werden immer abgefahrener, also mit ganz komischen Pflanzen und schrägen Tieren, die es sonst nirgendwo gibt, und dann kürzen die Leute so extrem ab, dass sie selbst immer jünger werden ...«
»Basiert auf Einsteins Relativitätstheorie«, unterbrach Erik und freute sich.
»Woher weißt du denn so was?« Micha klang erschüttert.
»Allgemeinwissen.«
»Klugscheißer.«
Erik verriet nicht, dass er es von seiner Tochter aufgeschnappt hatte und im Grunde gar nichts darüber wusste. Er dachte an Cordelia und drehte die Musik ein bisschen lauter, denn die CD war, wie fast alle, die er besaß, von ihr. The Verve: Bittersweet Symphony.
»Na, jedenfalls sieht's hier so aus, wie ich mir das in der Geschichte von dem King immer vorgestellt hab. Mich wundert echt, dass du so was weißt.«
»Und mich wundert, dass du liest.«
Aus der asphaltierten Straße wurde plötzlich Kopfsteinpflaster. Dann lichtete sich das Wäldchen, und wenige hundert Meter weiter kamen sie vor einer Absperrung zum Stehen.
»Polen«, sagte Micha.
»Die hätten ja auch mal irgendwo ein Schild hinstellen können.« Erik wendete den Wagen und fuhr wieder zurück. Dann sah er, was er eben übersehen hatte, den Wegweiser nach Garz und Kamminke, das Hinweisschild auf den Golm. Erik blinkte links, bog ab, und wenn er eben schon gedacht hatte, er sei im Märchenwald gelandet, dann wurde nun alles noch viel verwunschener. Sie mussten unter einer stark bewachsenen alten Eisenbahnbrücke hindurch, deren Durchfahrt kaum mehr Platz als für ein Auto bot. Wie das Tor zu einer anderen Welt, dachte Erik.
»Das steht, glaube ich, alles unter Naturschutz«, murmelte er, als er langsam um eine scharfe Rechtskurve hinter der Eisenbahnbrücke bog. Micha interessierte sich gerade herzlich wenig für die landschaftlichen Schönheiten. Er riss wieder die Autotür auf und übergab sich. Erik bremste.
»Sag doch was«, schrie er verärgert. »Das ist gefährlich!« Und dann, als er sich etwas beruhigt hatte: »Außerdem klebt jetzt bestimmt die Hälfte am Auto.«
Micha drehte den Kopf nach rechts. »Nein. Das Auto ist okay. Kann ich doch nicht vorher wissen, wann ich kotzen muss.«
Erik wartete noch, bis Micha sich wieder erholt hatte, fuhr dann langsam weiter durch den Wald, bis sich dieser öffnete. Zur Rechten erschien ein rosa gestrichenes Gehöft, ungefähr einen Kilometer weiter kam die Ortschaft Garz, ein winziges Nest, dessen ganzer Stolz ein ebenfalls winziges Feldsteinkirchlein war, umringt von einer Mauer aus Findlingen. Neben der Kirche stand ein hölzerner Glockenturm. Hinter Garz ging es weiter durch sanfte Hügel und gelbe Getreidefelder, bis sie endlich nach einer Biegung wieder Häuser sahen. Häuser und einige Aufsteller, die Werbung für die Gastronomie in Kamminke machten.
Kleine Häuser duckten sich am Straßenrand. In der nächsten Biegung fand sich gegenüber einer Gaststätte die Abzweigung zum Golm. Fast sah es aus, als endete die Ortschaft hier, doch Erik hatte sich getäuscht. Nach einem unbebauten Stück Land kamen wieder Häuser, jedoch zunächst nur auf einer Straßenseite. Der Moränenhügel zur Rechten war zu steil zum Bebauen.
Hinter den Häuschen zur Linken sah man weite grüne Felder, die bis zur polnischen Grenze reichten. Die klare Gliederung der einstigen Grenzanlage war bis heute sichtbar, auch wenn das meiste abgebaut war. So gerade war der Grenzstreifen, als hätte man seinerzeit mit einem Lineal gearbeitet. Wahrscheinlich hatte man das wirklich. Auf polnischer Seite lugten die Dächer einer Gartenkolonie hervor.
Kamminke machte den harmonischen Eindruck eines verschlafenen Fischerdörfchens. Ein Seeadler kreiste am Himmel, auf den Wiesen hinter den Häusern stand ein Storchenhorst. Jedes Haus, an dem sie vorüberkamen, sah anders aus. Hier ein komplett renoviertes, dort ein verfallenes Gebäude, da ein Reetdach, rote Backsteinziegel, glänzende neue schwarze Dächer. In einem Vorgarten wimmelte es von Gartenzwergen, beim Nachbarn blühten die sattesten Blumen, der nächste hatte nicht einmal seinen Zaun repariert.
Das Haus von Karl Rohde lag wie die Nachbargrundstücke etwas niedriger als die Straße. Nicht so tief wie die Häuser, die Erik noch weiter vorne am linken Straßenrand gesehen hatte. Diese hatten ihren Eingang gute eineinhalb Meter unter dem Niveau des Gehsteigs gehabt.
Natürlich war alles abgesperrt. Ein Streifenwagen stand auf dem Hof....




