Heinichen | Entfernte Verwandte | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 11, 320 Seiten

Reihe: Proteo-Laurenti-Krimi

Heinichen Entfernte Verwandte

Commissario Laurenti ahnt Böses
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-99926-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Commissario Laurenti ahnt Böses

E-Book, Deutsch, Band 11, 320 Seiten

Reihe: Proteo-Laurenti-Krimi

ISBN: 978-3-492-99926-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Commissario Laurenti wird in das Dorf Prosecco gerufen. Vor dem Partisanen-Mahnmal auf dem Karst, wo der Opfer der Nazi-Besatzung und des Faschismus gedacht wird, liegt ein Toter. Es gibt Hinweise auf eine Mordserie. Und Laurenti ahnt, dass jemand gekommen ist, um über die Geschichte zu richten. Ausgerechnet in einer Zeit, da der Populismus im Aufwind ist. Die Ermittlungen führen zu den ältesten Bürgern Triests. Vielleicht können ihre Erinnerungen helfen, eine weitere Tat zu verhindern. Doch in der Hafenstadt pflegt jeder seine eigene Wahrheit, und das nächste Opfer ist irgendwo da draußen. »Laurenti gehört zur Riege der großen Kommissare.« DER SPIEGEL

Veit Heinichen, geboren 1957, lebt seit über fünfundzwanzig Jahren in Triest. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und erfolgreich verfilmt. Ausgezeichnet u.a. mit dem Radio Bremen Krimipreis und dem Premio Internazionale Trieste, gilt Veit Heinichen nicht nur als glänzender Autor, sondern auch als »großartiger Vermittler italienischer Lebensart« (FAZ).
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Präludium


Die Gemeinde Beausoleil trug ihren Namen in diesen Tagen zu Recht. Die Schatten der Häuser wurden Anfang Juni schon früh kürzer, gegen Mittag würde flimmernde Hitze die Straßenzüge beherrschen. Wie jeden Morgen verließ Jacques Minuzzi um acht Uhr seine Wohnung im obersten Stock eines Gebäudes aus der Belle Époque am Boulevard de la République. Er wartete noch, bis die schwere Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war. In Fußnähe lagen Rathaus, Post und eine Dienststelle der Police Nationale, wo er die Escalier du Riviera hinunterging und sich wenig später im Fürstentum Monaco befand. Dort lag sein Büro am Boulevard des Moulins in direkter Nachbarschaft zu einer Schweizer Privatbank. Wie an jedem anderen Tag der Woche trug er ein weißes Hemd und Krawatte unter dem maßgeschneiderten Dreiteiler, dessen Jackett er nicht einmal auf dem Rückweg am Nachmittag ablegen würde, wenn er trotz der Rolltreppen, die ihn wieder hinaufbrachten, ins Schwitzen kam. Der Weg war nicht lang und tat ihm gut. Und zu dieser Stunde waren noch nicht viele Leute unterwegs. Der Verkehr erwachte erst, Geschäfte und Büros gingen den Tag ohne Hast an. Es war fast alles so wie immer.

Jacques Minuzzi kannte keine materiellen Sorgen, er arbeitete nur noch aus Gewohnheit und Leidenschaft, in zwei Wochen würde er fünfundsiebzig Jahre alt. Vermögen hatte er genug angehäuft, so viel, dass selbst seine fünf Enkelkinder noch gut versorgt sein würden. Doch seine Kompetenzen im europäischen Steuerrecht, als Vermögensberater sowie seine internationalen Verbindungen waren heute gefragter denn je. Die Wohnung in Beausoleil lief auf den Namen seiner zweitjüngsten Enkeltochter. Offiziell war auch Minuzzi Bürger des Fürstentums. Er war dort geboren worden und längst nicht der Einzige, der sich dieses Tricks bediente. Sein persönliches Einkommen blieb steuerfrei, während er, wie schon sein Vater, seit langen Jahren in Immobilien auf französischem Boden investierte. Eigentlich war sein Leben perfekt verlaufen. Nur seiner Frau Roberta war die Eintönigkeit des mondänen Lebens bereits vor über zehn Jahren zu eng geworden. Das Weingut im nahen Piemont hatte ein Vermögen gekostet, auch die Sammlung moderner Kunst und ihre in großer Regelmäßigkeit veranstalteten Empfänge verlangten häufige Zuschüsse zu ihrem Budget. Nach Beausoleil kam sie höchstens für Familienfeste oder, der Etikette wegen, zu exklusiven Anlässen wie dem Festival International du Cirque de Monte-Carlo, dem Grand Prix de Monaco oder der Saisoneröffnung im berühmten Opernhaus der Grimaldis im Grand Théâtre.

Minuzzi hätte nur am Telefon mit ihr über die andeutungsreichen Briefe zur fragwürdigen Vergangenheit seines Vaters sprechen können, die er seit etwa zwei Monaten ausgerechnet an die Adresse in Beausoleil erhielt und nicht in sein Büro. Der unbekannte Absender wusste offensichtlich über Jacques’ Leben Bescheid. Minuzzi war beunruhigt, aber nicht besorgt. Steuerrechtlich konnte ihm niemand Probleme bereiten, und sein Vater Arnaldo selig hatte nie über jene Zeit im Nordosten Italiens gesprochen, woher er stammte. Verwandte ersten oder zweiten Grades, die er zu den Anwürfen hätte befragen können, hatte Jacques dort nicht. Andere Personen zu fragen, verbat sich von selbst, jeglicher Tratsch über seine Person wäre schädlich. Schon die ersten beiden Briefe waren auf Italienisch verfasst worden. Er hatte sie schließlich ratlos im Kamin verbrannt. Den dritten hingegen, der erst gestern eingetroffen war, würde er dieser Tage vielleicht doch einem der Privatermittler zeigen, die er im Auftrag seiner Kunden bei strittigen Forderungen durch Vermögensteilungen, Scheidungen und Ähnlichem einsetzte. Doch auch das war ein zweischneidiges Schwert, und im Zweifel konnte jeder Mitwisser seiner Reputation schaden. Auch wenn Jacques Minuzzi frei von persönlicher Schuld war, könnte die düstere Vergangenheit seines Vaters seinen eigenen makellosen Ruf belasten. Vorausgesetzt natürlich, die Vorwürfe wären auch nur halbwegs glaubhaft.

Am Boulevard de France überschritt Minuzzi die unsichtbare Staatsgrenze und nahm die letzte Treppe hinunter. Vor dem Maison du Caviar wurde gerade der Gehweg erneuert. Wie jeden Morgen richtete der Kellner die Tische unter den Sonnenschirmen und kehrte den Staub der Baustelle zur Seite. »Bonjour, Monsieur Jacques«, grüßte er den gelegentlichen Gast. »Auch heute wartet ein schöner Tag auf uns.«

»Eine Spur zu warm vielleicht, mon cher Émile«, lächelte der Mann im Dreiteiler im Vorübergehen und bog am noch provisorisch errichteten Kreisverkehr in den Boulevard des Moulins ein, der ihn ohne weitere Anstrengungen bis zu seinem Büro führte. Eine kleine Grünfläche mit vier hohen Palmen über dichter mannshoher Bepflanzung lag auf der Straßenseite gegenüber.

Als er den Eingang der Apotheke passierte, fasste Jacques Minuzzi sich ruckartig an die Brust und brach mit aufgerissenem Mund und weit geöffneten Augen auf dem Gehweg zusammen. Innerhalb weniger Augenblicke verfärbten sich seine Weste und das Jackett durch einen sich rasch vergrößernden dunklen Fleck. Ein weißer Fiat Panda stoppte vor dem Palmengärtchen, ein Mann mit Sonnenbrille sowie einer tief ins Gesicht gezogenen gelben Ballonmütze trat hinter den Bäumen hervor und setzte sich auf den Rücksitz. Der Wagen verschwand so schnell, wie er gekommen war, in der nächsten Seitenstraße.

Die Untersuchungen am Tatort dauerten nicht lang. Das Fürstentum sollte von negativen Schlagzeilen beschützt werden, so gut es ging. Vor einiger Zeit hatten die Vorwürfe in der Monaco Tribune und dem Nice-Matin gegen den bisherigen Direktor der Police judicaire monégasque und seine Verstrickungen mit einem russischen Milliardär für Aufsehen gesorgt. Ein Nachfolger war noch nicht bestellt. Die Sicherheitsbehörden waren bemüht, sich von weiteren Skandalen fernzuhalten. Sie sperrten den Gehweg um das Opfer, das den Ermittlern mindestens vom Sehen bekannt war, nur kurz und nicht einmal weiträumig ab und errichteten einen hohen, undurchdringlichen Sichtschutz. Die Kriminaltechniker aus Nizza waren schon bald vor Ort und nahmen Spuren und Daten auf. Normalerweise hing in Monaco an jeder Ecke eine Überwachungskamera. Wegen der Baustelle aber fehlten sie derzeit ausgerechnet an dieser Kreuzung. Kaum hatte der Gerichtsmediziner die Leiche begutachtet, wurde sie bereits abtransportiert. Da der Todeszeitpunkt bekannt war, würde er sie erst in seinem Labor in Nizza eingehend untersuchen. Lediglich die Brieftasche sowie ein blutdurchtränktes Schriftstück hatte er in transparente Beutel gesteckt und den Ermittlern übergeben. Trotz des Blutes konnten die Beamten die Seiten noch entziffern und ablichten, bevor es sich mit der Gerinnung dunkler verfärbte. Es schien sich dabei um Fotokopien zu handeln. Manche Wörter waren mehrfach dick und fast bis zur Unlesbarkeit durchgestrichen. Commissaire Bénédict, der interimistische Amtsinhaber, beugte sich tief darüber. Er sollte vielleicht doch endlich eine Lesebrille akzeptieren.

Wir wissen so viel und doch nichts, Nora. Weil niemand sich
die Mühe macht, die unzähligen Informationen zusammenzutragen. Auch deshalb sind zu viele ungestraft davongekommen. Obgleich es an Zeugnissen nicht fehlt. Bepe, mein Cousin, hat mir ausführlich von den Massakern berichtet. Lange bevor er nach Triest zurückkam, war er von der Partei im Widerstand im östlichen Friaul eingesetzt gewesen. Dort war es Partisanenverbänden 1944 gelungen, die Nazis zurückzuschlagen. Der Widerstand war groß und gut organisiert. Die Vergeltungsakte der Deutschen waren es auch. Ich glaube, die meisten Familien haben Angehörige verloren, die völlig unschuldig waren und nur ermordet wurden, um Terror zu säen. Die Deutschen hatten gehofft, dadurch den Widerstand zu schwächen. Das Gegenteil geschah. Nur will niemand mehr etwas davon wissen. Auch deshalb schreibe ich diesen Bericht. Ich habe viel zu lange gewartet. Als ich jünger war und glaubte, dass mein Leben
noch eine Perspektive hat, fiel es mir noch schwerer, darüber
zu sprechen. Bepe hat so viel gewusst. Ich habe mitgeschrieben und es später aus dem Gedächtnis ergänzt.

Stell dir vor, selbst mehr als fünfzig Jahre später stritten die Menschen noch über die Ursachen der deutschen Untaten. Einige gaben den Partisanen die Schuld, behaupteten, ohne Widerstand hätten die Massaker vermieden werden können. Als wollten sie die Täter entschuldigen, die ihre Opfer wahllos aus der Bevölkerung herausgegriffen hatten. Männer und Frauen, Alte und Kinder. Viele wollten nicht begreifen, was Schuld bedeutet. Und ich sage dir, Nora, solchen Menschen kann man niemals trauen. Das habe ich schmerzvoll lernen müssen.

Für einige Wochen konnte die Widerstandsbewegung die Deutschen vertreiben und die Freie Zone Ostfriaul ausrufen. Das war nach der Schlacht am Monte Plaiul oberhalb von Torlano, einem Dorf bei Nimis. Die Partisaneneinheiten hatten die Kosakentruppen zurückzuschlagen, die sich schließlich
zum Sitz des deutschen Kommandos zurückzogen. Die Leute ahnten, dass das nicht ohne Folgen blieb. Aus Angst vor der Rache der Nazis flohen die meisten aus Torlano. Nur wenige blieben. Sie glaubten, die Deutschen von ihrer Unschuld überzeugen zu können. An ihren Haustüren hängten sie Zettel mit Namen und Alter der Familienmitglieder auf, um zu zeigen, dass sie selbst keine Partisanen waren. Es waren vor allem Familien mit vielen Kindern und Angst vor einer anstrengenden Flucht mit ungewissem Ausgang....



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