Heinichen Totentanz
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-552-05624-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-552-05624-4
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Veit Heinichen wurde 1957 zwischen Bodensee und Schwarzwald geboren. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft und einem kurzen Abstecher in die Automobilindustrie arbeitete er als Buchhändler und anschließend für namhafte Verlage in der Schweiz und in Deutschland. 1994 war er Mitbegründer des Berlin Verlags und dessen Geschäftsführer bis 1999. Nach Triest, die Stadt, die seine zukünftige Heimat werden sollte, kam Heinichen erstmals 1980. Und hier erweckte er auch Commissario Proteo Laurenti zum Leben, der nun in bislang sieben Romanen (Gib jedem seinen eigenen Tod, 2001; Die Toten vom Karst, 2002; Tod auf der Warteliste, 2003; Der Tod wirft lange Schatten, 2005; Totentanz, 2007; Die Ruhe des Stärkeren, 2009; Keine Frage des Geschmacks, 2011, Im eigenen Schatten, 2013, alle im Paul Zsolnay Verlag) den Verbrechern in der Stadt am Karst auf der Spur ist. Seine Krimis werden in das Italienische, Niederländische, Spanische, Französische, Slowenische, Griechische, Tschechische,Polnische und Norwegische übersetzt. Die Toten vom Karst und Tod auf der Warteliste wurden bei der Vergabe des Premio Franceo Fedeli in Bologna 2003 und 2004 zu den drei besten italienischen Kriminalromanen des Jahres gewählt. Im September 2005 erhielt Veit Heinichen zudem den Radio-Bremen-Krimipreis für seine 'feinfühlige, unterhaltsame und genaue Erforschung der historisch-politischen Verflechtungen, die Triest als Schauplatz mitteleuropäischer Kultur kennzeichnen' (Begründung der Jury).2010 wurde Die Ruhe des Stärken bei der Vergabe des Premio Azzercagarbugli als bester fremdsprachiger Roman ausgezeichnet, 2011 erhielt Veit Heinichen den 13. Internationalen Literaturpreis Città die Trieste, 2012 wurde er für sein schriftstellerisches Schaffen mit dem Gran Premio Noè ausgezeichnet. Neben seinem literarischen Schaffen ist er Autor kulturhistorischer Beiträge und, zusammen mit der Triestiner Starköchin Ami Scabar, Verfasser des kulturgeschichtlich-kulinarischen Reisebuchs Triest - Stadt der Winde (2005, Sanssouci im Carl Hanser Verlag). Der 90minütige Dokumentarfilm Le lunghe ombre della morte, den Veit Heinichen zusammen mit Regisseur Giampaolo Penco drehte, dokumentiert den Hintergrund seines vierten Kriminalromans Der Tod wirft lange Schatten und wurde im Dezember 2005 vom italienischen Staatsfernsehen RAI ausgestrahlt. Fünf seiner Kriminalromane wurden mit Henry Hübchen als Commissario Laurenti und Barbara Rudnik als dessen Frau Laura für die ARD verfilmt. Im Juli 2008 präsentierte Veit Heinichen in einer Folge der 3sat-Reihe Inter-City spezial 'sein' Triest.'Der Kriminalroman ist ein ideales Mittel, um die moderne Gesellschaft abzubilden', so Veit Heinichen. 'Die Neurosen einer Epoche und eines Raumes kommen im Roman am stärksten zum Ausdruck. Triest, die Hafen- und Grenzstadt am nördlichen Golf der Adria, ist Schnittstelle zwischen romanischer, slawischer und germanischer Kultur, hier begegnen sich die mediterrane Welt und die des Nordens, Osteuropa und der Balkan treffen auf Westeuropa, sowie die ,geistigen Formationen` Meer und Berg. Eine Stadt voller Kontraste, Gegensätze, Widersprüche und der Brücken zwischen diesen. Triest ist, wie Le Monde schrieb, der Prototyp der europäischen Stadt - und eine Fundgrube für denjenigen, der begreifen will, wie dieses Europa funktioniert.'
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Gute Freunde
Es war das Jahr, in dem die Deutschen einen Papst nach Rom schickten, um sich an den Italienern für Trapattoni zu rächen. Bayer gegen Fußballtrainer. Trotz seiner Nervosität prustete Proteo Laurenti vor Lachen, als er im Autoradio hörte, wie der oberste Rockträger mahnte, daß die katholische Kirche keine aufgewärmte Gemüsesuppe sei. Wenigstens stimmte die Grammatik.
Laurenti drehte den Ton leiser und passierte mit dem brandneuen Wagen seiner Frau, einem blauen Fiat Punto, den kleinen Grenzübergang bei Prebenico unterhalb der Burg Socerb, dessen Schlagbäume offenstanden. Kein Zöllner war weit und breit zu sehen, er hätte also auch seinen Dienstwagen nehmen können und Laura keine faule Ausrede servieren müssen, damit sie ihm ihr Auto lieh. In einer Viertelstunde würde er sich mit Živa Ravno treffen, der kroatischen Staatsanwältin aus Pula. Fast vier Jahre dauerte ihre Affäre inzwischen, Laurenti überschlug die Zeit und wurde immer nervöser. Die über fünfzehn Jahre jüngere Frau hatte sich seit Monaten rar gemacht und endlich, nachdem er sie erst lange am Telefon hatte becircen müssen, einen Treffpunkt in einem kleinen Tal auf der slowenischen Seite vorgeschlagen, wo der graue Kalkstein des Karsts in fruchtbaren Boden überging und Obstbäume wie Rebstöcke üppig wuchsen.
»Die kleine Wehrkirche von Hrastovlje«, hatte sie gesagt, »ich will, daß wir uns dort treffen.« Laurenti wiederholte ihre Worte, während er den Fiat über die kleine kurvige Straße prügelte. Bei aller Rationalität, die Živa in ihrem Beruf auszeichnete, hatte sie durchaus Sinn für theatralische Gesten. »Diese Kirche ist die Bibel des einfachen, leseunkundigen Volkes. Unglaublich schöne Fresken aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die das Alte und das Neue Testament darstellen. Und einen Totentanz, der ans Herz geht. Du solltest dich schämen, daß du noch nie dort warst in den dreißig Jahren, die du in Triest lebst! Es liegt direkt hinter der Grenze.«
»Und warum ausgerechnet dort?« hatte Laurenti gefragt. »Warum treffen wir uns nicht wie früher einfach in einem Hotel an der Küste?«
Živas Lachen, bevor sie antwortete, klang unecht. »Mir ist nicht danach. Hrastovlje paßt besser zu dem, was ich dir zu sagen habe.« Bevor Laurenti nachfragen konnte, hatte sie das Gespräch unter dem Vorwand, einen dringenden Termin zu haben, beendet.
Während der Küstenstreifen unter der Sonne glitzerte, waren über den Hügeln des istrischen Hinterlands schwere Gewitterwolken aufgezogen. Den Glockenturm mit dem Pyramidendach, der über die starken Festungsmauern mit den Resten der mächtigen Wehrtürme hinausragte, sah Laurenti schon aus der Ferne. Obgleich er zehn Minuten zu spät war, stand kein anderer Wagen auf dem Parkplatz am Fuß des Hügels, auf dem das Kirchlein thronte. Laurenti schloß den Fiat ab und schaute sich um. Živa war im Gegensatz zu ihm bislang stets pünktlich. Laurenti wählte auf seinem Mobiltelefon das slowenische Netz und ging widerstrebend den kleinen Weg hinauf. Ratlos stand er vor dem schweren schmiedeeisernen Tor, das mit einem riesigen Vorhängeschloß versperrt war. Unter dem Symbol eines mit einem dicken roten Balken durchgestrichenen Fotoapparats hing ein kleines zweisprachiges Schild mit der Telefonnummer des Kirchenwärters. Erste schwere Tropfen fielen vom Himmel, und Laurenti beschloß, nicht auf Živa zu warten. Eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung sagte, sie sei in fünf Minuten da, um ihn einzulassen. Er überlegte kurz, ob er besser in der Gostilna, die er weiter unten gesehen hatte, warten sollte, drückte sich dann aber eng an die Tür, um unter dem steinernen Torbogen wenigstens ein bißchen Schutz vor dem Gewitterschauer zu finden.
Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Laurenti versuchte, sich an das Datum ihres letzten Treffens zu erinnern. Es lag genau zwei Monate und vier Tage zurück, und sie hatten nicht einmal miteinander geschlafen. Živa war nervös gewesen und schien mit den Gedanken woanders, ihre Hand hatte sie immer wieder zurückgezogen, wenn er sie fassen wollte. Sie hatten sich, nach einem Termin Živas mit dem Oberstaatsanwalt von Triest, für die Mittagszeit in Koper verabredet. Jahrzehntelang war die kleine Nachbarstadt auf der anderen Seite der Grenze ein fester Anlaufpunkt jener aufmerksamen Familienväter gewesen, die für zwei Stunden über Mittag auch ihre Sekretärinnen nicht vernachlässigen wollten. Laurenti hatte sich immer gefragt, wie sie es anstellten, nicht ständig all den anderen über den Weg zu laufen, doch mit der längst problemlos zu überschreitenden Grenze hatten sich auch ihre Ziele verstreut. So hatte er arglos in Koper ein Hotelzimmer bestellt, doch Živa bestand darauf, im Caffè »Loggia« unter den alten Arkaden einen Apéritif zu nehmen. Offenbar wollte sie nichts von trauter Zweisamkeit wissen. Seinen Fragen wich sie aus und erzählte von einem aktuellen Fall, der sie angeblich sehr in Atem hielt. Es handelte sich um den Bankrott der Ferienresidenz »Skipper« hoch über den Salinen von Secovlje. Vor Jahren bereits hatte dort eine Allianz aus Angehörigen exponierter Saubermänner der scharfmacherischen Lega Nord, Kärntner Hochfinanz und alter kroatischer Nomenklatura mitten im Naturschutzgebiet und mit unverbaubarem Blick auf den Golf von Piran einen enormen Betonkomplex in Angriff genommen, von dem gemunkelt wurde, er solle unter dem Spitznamen »Il Paradiso di Bossi« zur Feriensiedlung der Internationalen der Fremdenfeinde werden. Inzwischen ermittelten die Staatsanwälte wegen betrügerischen Bankrotts, bei dem vor allem Anhänger der Lega Nord über den Tisch gezogen worden waren. Bei Staatsanwältin Živa Ravno liefen die Ermittlungen bezüglich verdächtiger Schmiergeldzahlungen zur Erlangung der Baugenehmigung zusammen, während ein italienischer Kollege in Sachen versteckter Parteifinanzierung tätig war. Und Živa hatte ihm noch von einem anderen Verdacht berichtet. Ein Erzfeind Laurentis war vermutlich in die Sache verstrickt, der sich inzwischen gesellschaftlich etabliert hatte und in den höchsten Kreisen verkehrte. Auch wenn es sich um die üblichen alten Bekannten drehte, die ihm oft genug Probleme machten, hatte Laurenti seiner Geliebten nur mit einem halben Ohr zugehört.
Er vernahm Motorengeräusche, und kurz darauf stieg eine Frau in seinem Alter mit einem mächtigen Schlüsselbund in der Hand aus einem klapprigen roten Renault4 und begrüßte ihn. Wenn Živa nicht kam, dann wollte Laurenti sich das Kirchlein rasch alleine ansehen und schließlich, ohne sie anzurufen, verärgert nach Triest zurückfahren. Das hätte sie dann davon. Er ahnte nicht, daß seine Besichtigung länger dauern würde, als er von draußen vermutete. So klein die Ausmaße des romanischen Gemäuers waren, um so prächtiger waren dafür die Fresken. Er traute seinen Augen kaum. Kein Quadratzentimeter, der nicht bemalt war. Die Angst vor der Leere mußte im Mittelalter noch extremer gewesen sein. Aufmerksam hörte er der Frau zu, die ganz allein für ihn ihr Wissen heraussprudelte und ihn auf die vielen Details aufmerksam machte, die das Mittelschiff mit dem Tonnengewölbe sowie die beiden engen Seitenschiffe zierten: Altes und Neues Testament, Schöpfungsgeschichte und Passion, die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel und zwei frühe Stilleben, Tische mit Brot, Käse und Wein, Teller, Flasche und Krug. »Damals waren die Menschen mehr am Überirdischen interessiert als an der Wirklichkeit. Deshalb gab es dieses Genre vorher nicht«, sagte die Dame, als er einen Windstoß im Rücken fühlte, den das Knarren der Kirchentür begleitete. Die Führerin lenkte seinen Blick auf die dünnen Scheidewände zwischen den Apsiden und zeigte ihm die als Diakone dargestellten Heiligen Stephan und Laurentius. Er mußte lächeln, als er seinen Nachnamen hörte, und spürte im gleichen Moment eine regennasse Hand in der seinen und kurz darauf Živas warmen Atem an seinem Ohr.
»Entschuldige«, flüsterte sie, »ein Unfall auf der Autobahn.«
Die Führerin ließ sich nicht von ihr unterbrechen und ging zu einem Fresko im Südschiff hinüber. »Eine Besonderheit in der christlichen Ikonographie und ganz sicher das Motiv für die meisten Touristen, zu uns zu kommen, ist der Totentanz. Sehen Sie genau hin, der Grundgedanke ist die Gleichheit aller Menschen vor dem Tode, der als einziger gegen alle gerecht ist und dem niemand entfliehen kann. Alle müssen ihm folgen, allen grinst er gleichermaßen unverschämt ins Gesicht, während er sie zur frisch ausgehobenen Grube führt. Er duldet keine Ausnahme. Sehen Sie: Papst, König, Königin, Kardinal, Bischof, armes Mönchlein, reicher Kaufmann, hinfälliger Bettler, Kind. Er läßt sich von niemandem bestechen, auch wenn, wie Sie sehen, alle es versuchen, jeder auf seine Art.«
Laurenti legte seinen Arm um Živas Schulter und schmiegte sich an sie. Die Führerin lenkte über zu der Darstellung der Monate in den Deckengewölben. »Du hast recht gehabt«, flüsterte er, »höchste Zeit, daß mir dies jemand zeigt.«
»Und hier, die Inschrift in glagolitisch, dem kirchenslawischen Alphabet, die Gott sei Dank erhalten geblieben ist: ›Bemalung abgeschlossen am 13.7.1490 – Meister Johannes aus Kastar.‹ Ein Künstler aus der Nähe von Rijeka. Die Fresken wurden irgendwann übertüncht und erst Jahrhunderte später, 1949, wiederentdeckt und freigelegt.«
Laurenti bedankte sich und kaufte noch ein paar Postkarten, auf denen die Kunstwerke abgebildet waren – er mußte sie unbedingt seiner Frau zeigen und sie demnächst selbst zu diesem wunderbaren Ort bringen. Als sie aus dem Kirchlein traten, hatten die Gewitterwolken sich verzogen, und zarter Sonnenschein lag über der üppig grünen Landschaft.
»Gehen wir in das Gasthaus dort unten?«...




