E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Heinrichs / Prange de Oliveira Journalismus auf der Couch
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82754-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
So kommen wir aus der Krise. Lösungsvorschläge von Isabel Schayani, Maren Urner, Giovanni di Lorenzo, Ulrik Haagerup u. a.
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-451-82754-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ellen Heinrichs: Aufbauen ist ihr Lebensmotto. Beim Auslandsrundfunk Deutsche Welle trieb Ellen Heinrichs die digitale Transformation voran. Die gelernte Journalistin wirkte beim Aufbau der DW Akademie mit, begründete das interne Wissensnetzwerk DW Minds und nahm als erste Deutsche am Fellowship-Programm des Constructive Institute an der Universität Aarhus/Dänemark teil. Die führende Expertin für konstruktiven Journalismus begann ihre Karriere bei der Rheinischen Post und ist seit 2022 Geschäftsführerin des von ihr gegründeten Bonn Institutes für Journalismus und konstruktiven Dialog. Astrid Prange de Oliveira: Journalistische Hingabe und Liebe zu Brasilien bestimmen ihre Karriere. Als langjährige Brasilien-Korrespondentin der Berliner Tageszeitung taz berichtete Astrid Prange de Oliveira über die ersten freien Wahlen im größten Land Lateinamerikas nach der Militärdiktatur. Nach Stationen beim Rheinischen Merkur und den ZEIT-Extraseiten Christ&Welt erklärt sie nun bei Deutschen Welle ihr Lieblingsland einem internationalem Publikum. Sie will Klischees aufbrechen und Menschen verbinden. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Lorenzo Natali Preis der EU-Kommission für Menschenrechte und dem Medienpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet.
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Seit Ihrer Rückkehr als ARD-Korrespondentin in New York im Oktober 2015 beschäftigen Sie sich sehr fokussiert mit den Themen Flucht und Migration. Wie hat sich dadurch Ihr Alltag als Journalistin verändert?
Vielleicht zeigt eine kleine Begebenheit, wie sich mein Leben verändert hat. Ich bin neulich kurz aus dem Haus gegangen, um etwas einzukaufen, und dann sitzen da zwei Typen in einem etwas abgewrackten Auto und sagen: „Hallo Isabel, können wir ein Foto mit dir machen?“ Das waren zwei iranische Flüchtlinge. Vor 2015 hat mich niemand angesprochen. So einen direkten Kontakt mit Usern, Zuschauern und Hörern kannte ich früher nicht. Es ist ja auch so, dass die Interessen von Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, von den etablierten Medien kaum berücksichtigt werden. Mit „WDRforyou“, einem Angebot für Geflüchtete in vier Sprachen, will der WDR hier Abhilfe schaffen.
Bietet die Redaktion den neuen Usern auch ein Stück Heimat?
Vielleicht eine Art sicheren Raum im Netz. Eine virtuelle Heimat. Aber von unserem Selbstverständnis her wäre das eher schwierig. Wir haben immer gesagt, wir erklären Deutschland, wir sagen euch, was hier geht und was nicht. Wer bleiben darf, und wer gehen muss. Wir erklären auch sehr detailliert, wie Abschiebungen funktionieren. Aber durch die Mehrsprachigkeit haben wir natürlich einen anderen Ton.
Dann ist WDRforyou also eine Art Vorbereitung für den Alltag in Deutschland?
Wir erreichen mit diesem Programm viele Menschen direkt und ungefiltert und machen sie mit unserer Gesellschaft und auch mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vertraut. Für Geflüchtete ist es zum Beispiel schwierig, die tagesschau zu verstehen, weil sie eventuell sprachlich nicht mitkommen oder nicht mit dem politischen Kontext vertraut sind, also zum Beispiel der Entstehungsgeschichte der Riester-Rente. Ich halte an der Vision fest, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk es schaffen sollte, alle gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen. Ob uns das gelingt, weiß ich nicht. Aber ich würde es mal als Ziel formulieren. Und solange das auch in Zahlen und Abrufen gut funktioniert, würde ich dazu raten, die Programme laufen zu lassen.
„Fragen zulassen, User ernst nehmen, Anregungen aufgreifen“
Welche relevanten Themen für diese Zielgruppe decken denn die Hauptprogramme wie tagesschau und Tatort nicht ab?
Es gibt Themen, die diese Gruppe besonders interessieren. Es kommt zum Beispiel jetzt in der Coronakrise immer wieder die Frage: Wann machen die Fahrschulen auf? Und warum? Weil viele Geflüchtete, die vor fünf oder sechs Jahren hier in Deutschland angekommen sind, mittlerweile sprachlich, finanziell und beruflich so weit sind, dass sie einen Führerschein brauchen. Das ist natürlich für den Otto Normalverbraucher kein Thema. Oder Familienzusammenführung – ein ganz großes Thema.
Welche Themen und Formate sind denn bei WDRforyou noch besonders gefragt?
Bei uns laufen in der Regel Sachen gut, die auf Augenhöhe sind. Auf Augenhöhe zu berichten heißt, schnell Fragen zuzulassen, User ernst nehmen, ihre Themenanregungen aufgreifen und im Dialog bleiben. Der Gipfel der Augenhöhe und Transparenz heißt zurzeit „Stream Yard“. Auf dieser Plattform machen wir unsere Livestreams. Dort können sich unsere User einfach in die Sendung hineinklicken, ihre Meinung sagen und Fragen stellen. Und sie bekommen eine Antwort. Unmittelbar. Live. Das machen wir fast jeden Tag.
Was ebenfalls sehr gut funktioniert, ist eine gesunde Mischung aus Erfolgsgeschichten und Geschichten von Menschen, die noch auf dem Weg sind. Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, laufen immer Granate. Wir haben mehrere Reportagen über den Abiturienten aus Afghanistan mit einem Notendurchschnitt von 0,8 gemacht. Die Kehrseite der Medaille ist natürlich, dass sich dann alle, die keinen Notendurchschnitt von 0,8 haben, unter ihrem Schreibtisch verstecken und schämen. Die Überflieger machen ja nur einen ganz kleinen Teil aus. Bei den meisten dauert es lang, es ist schwer und schmerzhaft. Das entscheidende Kriterium ist immer, wie nah man am Menschen dran ist. Aber es ist die Hoffnung, die solche Berichte geben. Hoffnung in einer schwierigen Lebensphase.
Stimmt. Aber nicht alle, die Fußball spielen, verkriechen sich gefrustet unter ihrem Schreibtisch, wenn sie nicht zu einem Stürmerstar wie Thomas Müller werden.
Der Vergleich würde stimmen, wenn nicht alle im selben Jahr angefangen hätten, zur Schule zu gehen. Doch im Gegensatz zum Fußball gibt es bei der Gruppe der Geflüchteten eine unmittelbare Vergleichbarkeit, weil die meisten zum selben Zeitpunkt und unter ähnlichen Umständen hierhergekommen sind. Ein anderer Aspekt ist, dass wir unter keinen Umständen die Mär vom wunderbaren Deutschland erzählen wollen, für das es sich lohnt, alles hinter sich zu lassen. Wir wollen ein realistisches Bild zeigen, und dazu gehört sowohl der Geflüchtete mit dem Einser-Abi als auch der Fahrschüler, der viermal durch die Führerscheinprüfung gefallen ist. Letzterer gehört unbedingt zur Wirklichkeit. Außerdem sind Integration und Erfolg eine Frage der Perspektive. Wir haben neulich über eine Frau berichtet, die fünf Jahre nach ihrer Ankunft zum ersten Mal Straßenbahn gefahren ist, von irgendeinem Ort im Sauerland nach Dortmund. Das war für sie eine riesige Nummer. Und sie hat sich getraut, dies vor der Kamera zu sagen. Das ist Gold wert. Sehr mutig.
Das sind ja beides Erfolgsgeschichten.
Ja, das stimmt. Wir haben oft Beiträge, die den Blick nach vorne richten. Wir können nicht immer nur Katastrophen zeigen.
Aber über Katastrophen und katastrophale Zustände können Journalisten ja auch nicht hinwegsehen. Sie haben 2014 in dem Film „Deutschlands neue Slums – Das Geschäft mit den Armutseinwanderern“ über die katastrophalen Lebensumstände von Roma und Sinti berichtet und sind dafür mit dem Deutschen Sozialpreis ausgezeichnet worden. Sind es auch diese Geschichten, die Sie als Journalistin antreiben?
Ich war nicht sofort begeistert. Aber die ehemalige WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich riet mir damals, das Thema umzusetzen. Und in dem Moment, in dem man anfängt, nicht mehr eine gesellschaftliche Gruppe zu sehen, sondern den einzelnen Menschen, sieht die Welt anders aus. Ich sah in Dortmund im Schnee keinen Bulgaren, Sinti oder Roma vor mir stehen, sondern einen frierenden Menschen, der keine Handschuhe hatte. Und dann fange ich als Reporterin an, mir andere Fragen zu stellen. Nämlich: Wo hat dieser Mensch übernachtet? Was hat er dafür pro Nacht bezahlt?
„Ich finde es zunehmend schwerer, zu kommentieren“
Sie haben auch aus dem Flüchtlingscamp Moria berichtet. Angesichts der menschenunwürdigen Umstände dort verschlug es Ihnen vor der Kamera selbst für ein paar Sekunden die Sprache. Ist es richtig und wichtig, seine Ergriffenheit zu zeigen?
Ich habe mich hinterher gefragt, ob mein Verhalten professionell oder unprofessionell war. Vor zehn Jahren hätte ich wahrscheinlich gesagt, ein bisschen mehr Emotion täte uns gut. Im Moment versuche ich, mich zu rationalisieren und nüchterner zu werden. Was nicht gerade meinem Temperament entspricht. Aber heute ist das anders. Weil sich viele Themen gefährlich hochschaukeln und zuspitzen, finde ich es auch zunehmend schwerer, sie zu kommentieren. Ich versuche, nüchterner zu sein.
Werden die Themenvorschläge Ihrer Redaktion seit 2015 im WDR stärker gehört und berücksichtigt?
Ja, das hat sich total verändert. Anfang 2015 durften wir morgens in der Konferenz zwar auch unsere Themen vortragen, und da hat man mit Interesse zugehört. Aber die Wahrnehmung und die Wertschätzung wurde in dem Moment eine andere, als klar war, dass unsere Redaktion einen unmittelbaren Zugang zu Menschen hat, die in Chemnitz von irgendwelchen Rechten verfolgt wurden – und von diesen Menschen sofort Videos zugeschickt bekommen könnte.
Stichwort Chemnitz: Sie tauschen sich regelmäßig mit einem Pegida-Demonstranten aus. Hat sich dadurch Ihr Blick auf diese Gruppe verändert?
Ja, das stimmt. Ich habe den Pegida-Anhänger auf einer Demo in Chemnitz kennengelernt. Er hat mir seinen Namen gegeben, und ich habe die Nummer im Internet gefunden und ihn angerufen. Er hatte schon über mich recherchiert und meinte, er hätte auf meinen Anruf gewartet. Der Witz war, dass in seinem Betrieb zwei Flüchtlinge aus Afghanistan arbeiteten, mit denen er sogar zusammen zum Fußballspiel ins Stadion gegangen ist. Spätestens an dieser Stelle war mein Schwarz-Weiß-Denken vorbei. Als ich ihn dann gefragt habe, „Sind die beiden afghanischen Kollegen nett?“, hat er trocken geantwortet: „Ja, die sind nett, aber sie sind bestimmt Schläfer, also inaktive Attentäter“.
Für einen Pegida-Anhänger scheint dies eine eher ungewöhnliche Reaktion zu sein.
Das weiß ich nicht. Es gab noch einen anderen Pegida-Anhänger, mit dem ich gesprochen habe. Der war auch total offen. Der war in der DDR kirchlich engagiert, deswegen durfte er nicht...