E-Book, Deutsch, Band 04, 512 Seiten
Reihe: Ulldart (Die dunkle Zeit)
Heitz Unter den Augen Tzulans
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-492-95055-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulldart. Die Dunkle Zeit 4
E-Book, Deutsch, Band 04, 512 Seiten
Reihe: Ulldart (Die dunkle Zeit)
ISBN: 978-3-492-95055-8
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Heitz, geboren 1971, studierte Germanistik und Geschichte. Mit »Ulldart« begann der Saarländer seine einzigartige Karriere. Seine Romane um »Die Zwerge« wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und standen wochenlang auf den Bestsellerlisten. Mit »Die Legenden der Albae« führte Markus Heitz alle Fans in die Welt der Dunkelelfen. Dazu kamen viele weitere erfolgreiche Werke auf den Gebieten der Fantasy und Science Fiction sowie Thriller. Er erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen.
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DAS BUCH DER SEHERIN
Kapitel I
… Winter 443/444 n. S.
Matuc erwachte durch sein eigenes Zähneklappern. Er fror erbärmlich, Sand knirschte in seinem Mund, und kaltes Wasser umspülte seinen linken Fuß. Die Luft roch nach Meer, Salz und Algen. Vögel schrien unaufhörlich, mal näher, mal weiter entfernt, und die See rauschte im immer gleich bleibenden Rhythmus. Etwas Leichtes hüpfte auf ihm herum.
Vorsichtig hob er den Kopf und schaute auf einen kleinen, flachen Strand, über den morgendliche Nebelschwaden zogen. In wenigen Metern Entfernung erhoben sich schwarze Felsen in die Höhe, die Kante konnte er aus seiner jetzigen Position nicht sehen.
Mit einem Seufzen senkte er sein Haupt wieder in den kühlen Sand. »Ulldrael der Gerechte, ich danke dir für meine Rettung. Lass es nun in all deiner Güte auch die anderen geschafft haben.«
Der Mönch drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf. Zeternd suchten zwei Möwen, die auf ihm gesessen hatten, das Weite.
»Verschwindet! Ich bin nicht tot«, stotterte er undeutlich, so weit es ihm die schnell aufeinander schlagenden Kiefer erlaubten. Er bemerkte, dass jemand trockene Frauenkleider über ihn gebreitet hatte, damit er nicht erfrieren sollte.
Das waren Norinas Sachen, erkannte er und wollte aufstehen. In seiner Hast und Ungeduld übersah er, dass ihm sein Holzbein fehlte, und er stürzte zurück in den Sand. Neben sich sah er die Abdrücke von Schuhen, die von der Größe her durchaus zur Brojakin passten.
Er angelte nach einem Stück Planke, klemmte es sich unter die Achsel und humpelte eilig damit den Strand entlang. In einigem Abstand hatte er die Truhe ausgemacht, in die sie Norina in jener stürmischen Nacht samt ihres Sohnes verfrachtet hatten. Der Deckel stand offen.
Was genau an Bord der Grazie vorgegangen war, wusste Matuc nicht. Er erinnerte sich, wie das Beiboot in die Tiefe geschossen war und die herabstürzende Rahe ein breites Loch in den Rumpf geschlagen hatte, als habe der Sturm nicht schon ausgereicht, die Nussschale zu versenken. Wenige Lidschläge später trieben sie alle im eiskalten Wasser. Zwischen all der Gischt, den Wellen und dem Schaum verlor er Fatja aus den Augen, und wenn er sich noch halbwegs die Geschehnisse ins Gedächtnis zurückrufen konnte, hatte er sich in einem Trümmerstück des Beibootes zusammengekauert.
Während er auf das Gepäckstück zulief, sah er zu den unbewachsenen Steilhängen hinauf, immer in der Hoffnung, Menschen oder das Stück einer Inselfestung der Rogogarder auszumachen. Der Strand mit dem dunklen Sand, der von Trümmerstücken und Wrackteilen übersät war, zog sich wie ein schmales Band scheinbar endlos lang, bis er in weiter Entfernung mit einem scharfen Knick nach links abbog. Die kreischenden Vögel um ihn herum waren jedoch die einzigen Lebewesen.
Keuchend vor Anstrengung und bibbernd vor Kälte, der Atem wurde als weiße Wolke sichtbar, kniete er sich neben die Truhe. Auf den ersten Blick schien sie leer.
Vorsichtig tastete er umher, bis er auf leichten Widerstand stieß. Behutsam zog er den einfachen Unterrock zur Seite. Darunter lag Norinas Kind, zum Schutz gegen die Temperaturen dick in Kleidungsstücke eingewickelt, schlafend. Nur von der Mutter fehlte jede Spur. Matuc entdeckte ihre Fußspuren, die von dem riesigen Behälter weg führten.
Als er die Abdrücke mit den Augen verfolgte, blieb sein Blick an etwas hängen, das er zunächst für ein Stück Holz gehalten hatte. Doch es bewegte sich.
»Norina!«, brüllte er, die nackten Wände ließen seine Stimme widerhallen.
Augenblicklich erwachte das Kind und fing erschrocken an zu weinen.
Hervorragend, dachte der Mönch und beeilte sich, den Knaben zu beruhigen. Dabei beobachtete er die zierliche Person, die sich mühsam auf die Beine stemmte und in seine Richtung kam. Und je näher sie kam, desto sicherer wurde der einstige Ordenszugehörige, dass es sich um die kleine Schicksalsleserin handeln musste.
Es war Fatja, nass von oben bis unten, die Zähne stießen beinahe im gleichen Takt wie die des Ulldraelgläubigen zusammen. Sie zog einen Sack hinter sich her.
»Das war knapp«, stammelte sie, die Arme um den Körper geschlungen. »Ich freue mich, dich zu sehen, Matuc.« Sie fiel ihm erleichtert um den Hals. »Wo ist Norina?«
Ratlos zuckte der Mönch mit den Achseln, was auf Grund des allgemeinen Zitterns fast nicht auffiel. »Ich habe sie nicht gesehen. Aber sie muss mich zugedeckt haben und ist dann den Strand entlang gegangen. Vermutlich sucht sie Hilfe.«
»Und lässt ihren Sohn zurück?« Das Mädchen wirkte nicht überzeugt. Sie drückte dem Mann das Kind in die Hände, kramte in der Truhe herum und suchte nach halbwegs passenden Kleidungsstücken. Der Geistliche wirkte etwas überfordert und hielt den schreienden Säugling wie ein Stück hauchdünnes Glas.
»Dreh dich um«, verlangte sie, während sie die ersten durchweichten Sachen auszog und in die viel zu großen Kleider der Brojakin stieg. Matuc kam der Aufforderung nach. »Das solltest du auch tun«, empfahl sie ihm. »Sonst wirst du dir den Tod holen. Ulldrael muss uns beschützt haben, sonst wären wir Eiszapfen.« Sie tippte ihm auf den Rücken als Zeichen, dass er sich ihr wieder zuwenden durfte, und hielt ihm einen trockenen Rock hin.
»Ich soll …«, versuchte er zu protestieren.
Fatja nahm den Neugeborenen behutsam in die Arme und wiegte ihn hin und her. Bald wurde das Geschrei leiser. »Sei vernünftig. Du nützt uns nichts, wenn du dir eine Erkältung einfängst.«
»Ulldrael wird sich vor Lachen ausschütten«, grummelte er und nahm seinerseits den Kleidungstausch vor. Zwar waren ihm die meisten Trachten zu eng, aber wenn er die Verschlüsse offen ließ, konnte er sich damit bewegen. Aus mehreren Stolen und Umhängen formte er ein wärmendes Übergewand für sich und das Mädchen.
»Ich hoffe, Norina findet einen der anderen«, sagte Fatja nach einer Weile und bedachte das schlafende Kind mit einem liebevollen Blick. »Schau, es gefällt ihm bei seiner großen Schwester.« Sie hob den Kopf. Ein breites Grinsen legte sich auf ihr Gesicht, selbst die braunen Augen lachten. »Matuc, du siehst hinreißend aus. Die Piraten werden dich lieben. Nur die Bartstoppeln …«
»Sei still«, meinte er mürrisch. Dennoch war er dankbar, dass ihn das Mädchen zu dem Kleiderwechsel gezwungen hatte. Das Kältegefühl ließ nach. Er sah sich um, aber der Strand vermittelte nach wie vor in beiden Richtungen die Lebendigkeit eines Totenackers. »Ich hoffe inständig, Rudgass und Waljakov konnten dem Meer entkommen.«
»Ich wette mit dir, der Pirat sitzt schon lange im Haus eines seiner Brüder und wärmt sich mit Gewürzwein«, meinte Fatja mit gespielter Zuversicht. Angesichts der zerschlagenen Holzstücke ringsherum verneinte sie das Offensichtliche. Als ihr die erste Träne die Wange herablief, brachen die Dämme der jungen Schicksalsleserin. Sie weinte, den Knaben an sich gedrückt, und Matuc nahm sie in die Arme, breitete die Umhänge aus, um ihr mehr Wärme zu geben.
So saßen sie eine geraume Zeit.
Die Sonnen stiegen höher, es wurde ein wenig wärmer. Der Nebel verzog sich, und ein winterlich grauer Himmel zeigte sich. Über dem unruhigen Meer durchbrach ein einzelner Lichtstrahl die Wolken, ließ die Wellen funkeln und glitzern.
Matuc legte es als Aufmunterungsversuch des Gerechten aus. Auch wenn ihre Lage nicht besonders gut aussah, er blieb zuversichtlich, dass Ulldrael sie zu Höherem berufen hatte und sie nicht einfach am einsamen rogogardischen Strand zu Grunde gehen ließ.
Irgendwann schniefte das Mädchen nur noch und zog lautstark die Nase hoch. »Wollen wir tatsächlich so lange warten, bis Norina mit Helfern zurückkommt?«, erkundigte sie sich. »Vielleicht sind die Rogogarder nicht so freundlich? Oder wenn das nächste Fischernest in der ganz anderen Richtung liegt?«
»Unsinn«, meinte Matuc, dem ein Marsch durch den weichen Sand ein Grauen war.
»Mein kleiner Bruder wird bald Hunger haben, wir werden bald Hunger haben. Wir haben, außer den paar schäbigen Süßknollen in dem Sack und dem bisschen Proviant in der Truhe, nichts zu essen und zu trinken, wenn ich das nur mal erwähnen dürfte.« Fatja ließ nicht locker und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. »Du wirst dich nicht auf meinen Visionen ausruhen. Ich sagte doch, dass nicht alles unbedingt festgeschrieben sein muss. Vielleicht sehe ich nur einen möglichen Ausgang. Aber was ist, wenn …«
Der Mönch seufzte. »Na schön. Du hast Recht. Wir werden uns vorsichtshalber ebenfalls auf den Weg machen.«
Das Mädchen half ihm auf, klemmte ihm die Planke unter und band sich ihren Bruder mit Hilfe eines Schals vor den Bauch, unter den wärmenden Umhang.
Sie kamen nur langsam vorwärts, Matuc musste mehr hüpfen als laufen, und als sie endlich die Biegung des Strandes erreichten, stand dem...