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E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Helminger Neubrasilien


1. Auflage 2020
ISBN: 978-99959-4-328-8
Verlag: capybarabooks
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-99959-4-328-8
Verlag: capybarabooks
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Im Frühjahr 1828 macht sich eine Gruppe Luxemburger Landbewohner, darunter die selbstbewusste Bauerntochter Josette, auf den Weg in die Welt. Sie lassen Hab und Gut zurück und schließen sich einem Strom von Auswanderern an, die der wechselnden Herrscher und der schlechten Lebensbedingungen überdrüssig geworden sind. Ihr Ziel: Brasilien. Dort werden Menschen gebraucht, so heißt es, dort könne man neu beginnen.
170 Jahre später, kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert, kommt das Mädchen Safeta mit seiner Mutter und anderen monenegrinischen Flüchtlingen nach Luxemburg. Auch sie haben ihre Heimat aufgegeben und sind einem vagen Versprechen gefolgt. Für keinen von ihnen wird es eingelöst – und doch gibt es für Safeta, die in der Fremde zum Teenager heranwächst, und für Josette, die ihren eigenen Weg findet, wenn auch nicht in Brasilien, kein Zurück mehr in ihr altes Leben.

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1. Herz der Ferne
-  Wie lange dauert es noch? -  Wir sind bald da. -  Ich weiß nicht. -  Gegen neun Uhr, hat er gesagt. Ankunft gegen neun Uhr. -  Der sagt doch gar nichts. -  Doch, hat er. -  Ich hab noch keinen von denen sprechen hören. -  Auf den Bergen glänzt jetzt der Schnee. Das habe ich immer gerne gesehen, dieses wilde Funkeln in der Stille dort oben. -  Da wird irgendwann alles kaputt sein. -  Aber doch nicht die Berge. -  Doch, das kriegen die auch noch hin. -  Wer die? -  Dumm reden können wir alle. -  Was ist das? -  Was? -  Still. Er hat angehalten. -  Was? -  Wir können noch gar nicht da sein. -  Still. Als Betty Hoschert den Anruf erhielt, stieg sie gerade aus dem Wagen. Sie schubste die Tür zu, kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy, verschloss durch Druck auf den Schlüssel das Auto und ging auf die Tür des Gewerkschaftsgebäudes zu. »Nee, auf dem Weg zur Arbeit«, sagte sie, »stehe schon davor.« Tatsächlich blieb sie in diesem Moment stehen, als gehorche sie ihren eigenen Worten. Der Himmel über der Stadt sah dunkel und verregnet aus. Das letzte Licht taumelte über die Häuser, gefiltert durch ein graues Leintuch. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und muss mich noch mit unseren Busunternehmen beschäftigen«, sagte Betty, sog einmal kurz und geräuschvoll Luft durch ihre leicht nach unten gebogene Nase. Ein Kollege kam aus dem Gebäude, nickte ihr zu, ging an ihr vorbei, während sie sagte: »Schon wieder«, und ihre braunen Haare hinter das linke Ohr schob. Durch die Glastür beobachtete sie der Sicherheitsbeamte. Betty drehte sich um. Der Wind blies ihr kalt ins Gesicht. »Ich kann nicht. Ich kann einfach nicht«, sagte sie. Etwas weiter die Straße hoch stieg ihr Kollege in sein Auto. Die Scheinwerfer leuchteten auf, dann bewegte sich der Wagen langsam nach vorn und wieder zurück, um aus der schmalen Parklücke zu kommen. »René, es ist fünf durch. Ich war den ganzen Tag auf den Beinen, komme nie rechtzeitig nach Hause, weiß nicht einmal mehr, wann ich mit Jean und der Kleinen zum letzten Mal zu Abend gegessen habe. Ich finde es auch wichtig, ein Zeichen zu setzen, aber heute ist es halt schlecht.« Betty zog ihre Jacke am Hals zusammen, ging einige Schritte die Straße hoch. »Komm mir bitte nicht so. Sonst raste ich aus«, erwiderte Betty. Ihr Gesicht straffte sich. Aus dem vorbeifahrenden Auto winkte der Kollege ihr zu. »Ich weiß, dass das nicht lustig ist, aber mein Leben ist auch nicht lustig. Scheiße. Ich komme vorbei.« Sie legte auf, ließ das Telefon in ihre Handtasche fallen und ging zu ihrem Wagen zurück. Als sie wenig später am Ortsschild Senningerberg vorbeifuhr, fluchte sie noch einmal, bog in den Kreisverkehr ein, sah einige der Demonstranten vor dem Hotel stehen. Sie rollte auf den Flughafenparkplatz, nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz und ging über die Kreuzung zum Menschenpulk vorm Hoteleingang. »Warum tue ich das?«, sagte sie laut. Die Bogenlampen, die in runde, Flugobjekten ähnliche Schirme mündeten und alle zwanzig Meter die Straße säumten, warfen Lichtkreise auf den Asphalt. Vor dem Hotel standen weiße Kleinbusse, von Polizisten bewacht. Auch vor dem Eingang bildeten Uniformierte eine Kette. Die Demonstranten hielten Abstand, aber es lag Unruhe in dieser Distanz, so als wartete jeder Einzelne darauf, endlich handeln zu dürfen. Ihre Atemwolken bildeten Nebelbänke vor den Mündern, kleine Dunstkegel, die sich mit schleppender Regelmäßigkeit auflösten, um im nächsten Moment wieder zu entstehen. Betty zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis unters Kinn. Sechzig, siebzig werden es sein, dachte sie, erblickte René im Gespräch mit einem Mann, schob sich durch die Menge, an Mützen und Wintermänteln vorbei auf den gegenüberliegenden Bürgersteig. »Genau«, war das erste Wort, das sie René sagen hörte. Er hatte die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben, während das Licht einen gelblichen Schimmer über sein Brillengestell zog. Der Mann erwiderte nichts, schaute zu Betty. »Genau«, wiederholte René, küsste Betty auf die Wangen, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, nickte in Richtung seines Gesprächspartners: »Das ist Guy Regenwetter. Er ist Lehrer. Aus seiner Klasse haben sie heute Morgen eine albanische Schülerin abgeholt.« »Aus dem Unterricht?«, fragte Betty. »Die Schulstunde war so gut wie beendet«, erwiderte der Lehrer, »wir wollten in die Pause, aber das macht die Sache ja nicht besser, oder?« »Genau«, murmelte René. Sein blondes Haar sah hell aus, als läge etwas Reif darauf. »Und jetzt?«, fragte Betty. René zuckte mit den Schultern, schaute zum Hoteleingang hinüber: »Ich weiß es nicht. Vielleicht verhindern wir die Abschiebung, vielleicht nicht, vielleicht ändern sich zumindest die Methoden. Beim nächsten Mal. Jedenfalls ist genug Presse da.« Ein dunkelblauer Audi hielt an der Kreuzung. Die hinteren Türen gingen auf und drei Jugendliche stiegen aus. Während der Wagen wendete und davonfuhr, schlenderten die Jungs zu den Demonstranten, wo sie von Freunden erwartet wurden. Betty sah, wie sie zur Begrüßung die Fäuste zusammenstießen und sich dann gegenseitig mit den Ellenbogen berührten, ehe sie zur Hoteltür schauten. Einer zündete sich eine Zigarette an. »Wie viele sind es diesmal?«, fragte Betty. Sie stand nicht gerne einfach herum, tatenlos, wortlos. Zeit war nichts, was es im Überfluss gab, vielmehr etwas, das stark mit der eigenen Person verbunden war, und Betty Hoschert hatte das Gefühl, dass sie beim Verteilen der Sekunden definitiv zu kurz gekommen war. »Sechsunddreißig Personen«, antwortete René, »sieben Familien aus Montenegro und die anderen aus dem Kosovo.« »Der Kosovo-Krieg ist gerade fünf Monate vorbei«, warf der Lehrer ein, ohne jemanden anzusehen. Seine Kiefer mahlten, als müsse er seine Gefühle wie harte Körner zerbeißen. »Sie kommen nach Bologna«, antwortete René. »Nicht nach Serbien?«, fragte der Lehrer. René schüttelte den Kopf: »Erstmal Italien, weil das das erste EU-Land war, das sie auf der Flucht erreichten. Werden sie dort abgelehnt, geht es zurück.« Wenn man demonstriert, sollte man wenigsten wissen, worum es geht, dachte Betty, ordnete die schmalen Armreifen an ihrem Handgelenk. Im gleichen Moment drückte etwas die Demonstranten nach vorn, schob sie dem Hoteleingang entgegen. Stimmen waren zu hören, sie riefen: »So nicht! So nicht!«, riefen es sechs, sieben Mal, fanden zu einem schwachen, rhythmischen Chor zusammen. Betty hatte das Gefühl, im Fußballstadion von Jeunesse Esch zu stehen. Die Polizisten an der Tür reagierten so wenig auf die Rufe wie die Spieler sonntags auf dem Platz. Die Demonstranten rückten näher. »So nicht!« Dann wichen sie langsam zurück und standen bald wieder auf ihrem ursprünglichen Platz, als hätten sie sich nie nach vorn bewegt. Bettys Blick glitt an der gelben Säule über dem Eingangsbereich hoch, sprang schräg von Stockwerk zu Stockwerk, von Fenster zu Fenster, balancierte auf dem Flachdachgeländer. Darüber hing ein abnehmender Mond zwischen anthrazitfarbenen Wolken. Sein Licht war von einem durchsichtigen Gelb, fast weißlich, aber voller Schatten, die wie Staubflusen in den Kraterecken lagen. Betty erkannte darin die Umrisse ihres eigenen Hauses, Jeans Skulpturenwerkstatt, das unaufgeräumte Zimmer ihrer Tochter, verklebt von merkwürdigen Postern, die Küche überquellend vom dreckigen Geschirr, das ihr Mann mit einer wütenden Handbewegung zu Boden beförderte. Sie sah die Geste, seit es auf den Kacheln gescheppert hatte, immer wieder, egal ob sie im Büro saß oder mit Arbeitgebern diskutierte. Plötzlich stand Jean vor ihr, wischte die Teller von der Ablage. Sie hob ihre Hände an die Ohren, die Küche begann sich zu drehen. Dann legte sich Stille über die Scherben, ein stummer Splitterteppich. Jean atmete schwer, starrte in ihr Gesicht. Auf seiner Glatze vibrierte ein Lichtpunkt. Betty drehte sich um, ging ins Wohnzimmer, sah wie durch einen Gazevorhang, dass die Pflanzen alles hängen ließen. »Ich muss die noch gießen«, sagte sie vor sich hin. »Was?«, fragte René. Ein Handy klingelte. Betty griff in ihre Tasche, merkte, dass es nicht ihr Klingelton war, nahm trotzdem das Telefon heraus, schaute auf das Display. 19 Uhr. Es würde wieder Ärger geben. »Regenwetter«, sagte der Lehrer, drehte sich um, entfernte sich einige Schritte, ehe er nickte und etwas zu laut in die Muschel rief: »Von wegen. Es hat noch nicht mal angefangen.« Er ging langsam die Straße hinab. Betty sah ihn gestikulieren. Sein Schatten kroch schrittweise unter ihm hindurch, verlängerte sich nach hinten wie eine Schleppe. »Ist schon klar«, winkte der Lehrer ab, »aber die kommen nicht direkt nach Serbien, wusstest du das nicht?« Betty sah zu René, der mit den Achseln zuckte, bevor er einer Abgeordneten zuwinkte. Dann sagte er: »Einer ist seit gestern auf der Flucht, ein Siebzehnjähriger.« »Aber du weißt, wo er ist«, erwiderte Betty. »Nein«, sagte René, »wie kommst du darauf? Ich habe es heute Morgen erfahren. Als die Ersten abgeholt wurden, hat uns ein Landsmann von ihnen, der im Nebenzimmer wohnt, angerufen. Er hat mir auch von dem Jungen erzählt.« Vor ihnen zog sich der Knäuel der Demonstranten leicht zusammen, so als...


Helminger, Guy
Guy Helminger wurde 1963 im luxemburigschen Esch/Alzette geboren und lebt seit 1985 in Köln. Er schreibt Gedichte, Romane, Hörspiele, Theater. Für seine Arbeit erhielt er u.a. den Förderpreis für Jugend-Theater des Landes Baden-Württemberg, den Prix Servais, den 3sat-Preis, den Prix du mérite culturel de la ville d’Esch und den Dresdner Lyrikpreis.
Darüber hinaus moderiert Guy Helminger zahlreiche Literatur- und Kulturveranstaltungen im In- und Ausland.
Bei capybarabooks sind bisher erschienen: Venezuela. Drei Stücke; Rost. Stories; Eng Taass fir d'Nefertiti Nilpäerd. Kannerbuch mat Zeechnunge vum Manuela Olten; Die Allee der Zähne. Aufzeichnungen und Fotos aus Iran. Jockey. Theater; Die Lehmbauten des Lichts. Aufzeichnungen und Fotos aus dem Jemen.



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