Hemon | Liebe und Hindernisse | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 0 Seiten

Hemon Liebe und Hindernisse

Stories
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-18743-9
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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ISBN: 978-3-641-18743-9
Verlag: Knaus
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Hemon at his best: Stories zwischen Joseph Conrad und Led Zeppelin

»Es gibt immer einen Tunnel am Ende des Lichts.« Bogdan, der jugendliche Held in den Geschichten von Aleksandar Hemon, lässt sich schon mit sechzehn nicht von sinnlosen Sprüchen irritieren. Auch wenn ein Aufenthalt in Afrika ihm zeigt, dass er noch nicht einmal ahnt, was er alles nicht weiß, auch wenn der bosnische Krieg ihn heimatlos macht und ein Pulitzer-Preisträger sein Selbstbewußtsein als Schriftsteller hart auf die Probe stellt. Wie unwegsam und steil die Straße des Lebens auch sein mag, eines hat er verstanden: Es gibt keinen Weg zurück ins Paradies, aber wir können wenigstens versuchen, so hoch wie möglich zu steigen. Frech, herrlich schräg und voller hintergründigem Humor erzählt Aleksandar Hemon die Geschichten Bogdans, der sich durch nichts und niemanden am Erwachsenwerden und am Dichten hindern lässt.

Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in "The New Yorker", "Granta" und "The Paris Review". Sein Erzählband "Die Sache mit Bruno" erschien 2000 in acht Ländern gleichzeitig. 2002 folgte der Roman "Nowhere Man", der für den "National Book Critics Circle Award" nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem "Genius Grant" aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman "Lazarus", der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien "Das Buch meiner Leben", wie alle Bücher des Autors in Deutschland bei Knaus. Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.
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Stairway to Heaven


Es war eine vollkommene afrikanische Nacht, wie bei Joseph Conrad: Die Luft war teigig und reglos vor Feuchtigkeit, die Nacht roch nach verbranntem Fleisch und Fruchtbarkeit, die Dunkelheit draußen war weiträumig und undurchdringlich. Mir war, als hätte ich einen Malaria-Anfall, aber es war wohl nur die Reisemüdigkeit. Ich stellte mir Myriaden von Tausendfüßlern vor, die sich an der Decke über meinem Bett versammelten, ganz zu schweigen von den zahllosen Fledermäusen, die in den Bäumen unter meinem Fenster umherflatterten. Am meisten irritierte mich das endlose Trommeln: dieses dumpf dröhnende, sonore Pulsieren um mich herum. Ob es von Krieg, Frieden oder Gebet kündete, wusste ich nicht zu sagen.

Ich war sechzehn, ein Alter, in dem Angst die Fantasie beflügelt. Also machte ich Licht, kramte ein nagelneues Moleskine-Tagebuch aus meinem Koffer – die Trommeln beschworen noch immer die Mächte der Finsternis – und schrieb auf die erste Seite

Kinshasa, 7.7.1983

nur um zu hören, wie die Schlafzimmertür meiner Eltern aufgerissen wurde und Tata fluchend davonstampfte. Ich sprang aus dem Bett – Sestra fing vor Schreck an zu weinen – und lief Tata nach, der bereits die Lampen im Wohnzimmer angemacht hatte. Ich stieß mit Mama zusammen, die ihren beschwerlichen Busen auf den Armen trug. Inzwischen waren alle Lichter an, Nachtfalter flatterten ausweglos im Innern einer Lampe, von allen Seiten hörte man Schreie und das laute Scheppern von Becken. Es war furchterregend.

«Spinelli!», rief Tata in den Lärm. «Eine Unverschämtheit!»

Tata trug einen Flanellschlafanzug, der sich besser für einen Skiort in den Alpen als für Afrika geeignet hätte – angeblich waren Klimaanlagen schädlich für seine Nieren. Bevor er das Zimmer verließ, setzte er außerdem einen Tropenhelm auf, um seine Glatze vor Zugluft zu schützen. Als er fuchsteufelswild in der dröhnenden Dunkelheit des Treppenhauses verschwand, drückte Sestra, die jetzt haltlos weinte, ihr Gesicht in Mamas Seite; ich stand in der Unterhose da, die nackten Füße auf dem kalten Boden, den Stift noch in der Hand. Die Möglichkeit, dass er nicht mehr zurückkommen würde, flackerte im Dunkeln auf. Mir kam es nicht in den Sinn, ihm nachzugehen. Mama versuchte nicht, ihn zurückzuhalten. Die Treppenbeleuchtung ging an, und wir hörten ein lautes Klingeln. Die Trommeln dröhnten ungerührt weiter, und ein neuerliches empörtes Bimbam passte sich ihrem Rhythmus an. Tata gab das Klingeln auf, hämmerte stattdessen an die Tür und rief in seinem gebrochenen Englisch:

«Spinelli, du bist sehr verrückt. Hör auf mit Lärm. Wir sind schlafen. Es ist vier Uhr am Morgen.»

Unsere Wohnung lag im fünften Stock; es mussten Dutzende von Menschen in dem Haus wohnen, aber offenbar hatten sie es überstürzt verlassen. Im selben Moment, als das Treppenlicht wieder ausging, hörte auch das Getrommel auf, die Show war zu Ende. Die Tür öffnete sich, und eine näselnde amerikanische Stimme sagte: «Tut mir leid, Mann. Bitte vielmals um Entschuldigung.»

Als ich wieder ins Bett ging, dämmerte es bereits. Auf den Bäumen draußen ersetzten Heerscharen von Vögeln die blutsaugenden Fledermäuse und zwitscherten im Überschwang sinnlosen Lebens. An Schlafen und Träumen war nicht mehr zu denken, und schreiben konnte ich jetzt auch nicht. Ich rauchte auf dem Balkon und wartete darauf, dass alles einen Sinn ergeben würde, bis ich einsah, dass dieses Warten vergeblich war. Drunten auf der Straße hockte ein spärlich bekleideter Mann neben einem Pappkarton, auf dem Zigaretten aufgereiht lagen. Sonst war niemand zu sehen. Anscheinend schützte er die Zigaretten vor einer unsichtbaren Gefahr.

Anfang der achtziger Jahre lebte Tata nicht bei uns zu Hause; er arbeitete als subalterner jugoslawischer Diplomat in Zaire, zuständig für Kommunikation (was immer das sein mochte). Unterdessen begegnete ich in Sarajevo dem Elend meiner Jugend und der bevorstehenden Nichtswürdigkeit des Erwachsenendaseins damit, dass ich mich in Büchern vergrub. Sestra war zwölf und ahnte nichts von dem in mir aufkeimenden Schmerz. Mama war midlifebedingt unglücklich und einsam, was ich aber damals, die Nase stets in einem Buch, nicht wahrnahm. Ich las zwanghaft und kam nur gelegentlich an die Oberfläche alltäglicher Realität, um kurz nach der anrüchigen Existenz anderer Menschen zu schnuppern. Ich las die ganze Nacht, den ganzen Tag, statt meine Hausaufgaben zu machen. In der Schule las ich heimlich unter der Tischplatte, ein Kapitalverbrechen, das oft von einer Clique von Schulhofschlägern bestraft wurde. Nur im imaginären Raum der Literatur fühlte ich mich wohl und sicher – kein abwesender Vater, keine depressive Mutter, keine Schulhofschläger, die mich Buchseiten ablecken ließen, bis meine Zunge von der Druckerschwärze ganz schwarz war.

Asra lernte ich kennen, als ich einmal ausgeliehene Bücher in die Schulbibliothek zurückbrachte, und mir gefiel auf Anhieb ihr bebrilltes Gesicht, das die innere Ruhe einer Leserin ausstrahlte. Ich begleitete sie nach Hause, ging jedes Mal langsamer, wenn ich etwas zu sagen hatte, und blieb ganz stehen, wenn sie etwas sagte. Sie interessierte sich nicht für den Fänger im Roggen; ich hatte Quo Vadis nicht gelesen und heuchelte Interesse am Bauernaufstand. Doch wir teilten die Leidenschaft, uns in ein Leben mit anderen zu versetzen – eine notwendige Voraussetzung für jede Liebe. Schon bald fanden wir Bücher, die wir beide mochten: Die Zeitmaschine, Große Erwartungen, Und dann gab’s keines mehr. An unserem ersten Tag sprachen wir hauptsächlich über Der Zwerg aus einem vergessenen Land. Wir liebten es, obwohl es ein Kinderbuch war, weil wir uns beide mit einem kleinen, in der großen Welt verirrten Wesen identifizieren konnten.

Von nun an verabredeten wir uns. Das heißt, wir lasen einander oft vor, auf einer Bank an der Miljacka, und küssten uns nur, wenn uns der Gesprächsstoff ausging; mit den Zärtlichkeiten hielten wir uns sehr zurück, als wäre andernfalls die kuriose, beherrschbare Intimität, die zwischen uns gewachsen war, aufgebraucht worden. Ich war vollkommen glücklich, wenn ich ihr eine Passage aus Franny und Zooey oder Der lange Abschied ins Haar flüstern konnte. Als Tata, auf Urlaub in Sarajevo, verkündete, dass wir den Sommer 83 alle zusammen in Afrika verbringen würden, fühlte ich mich deshalb seltsam erleichtert: Wenn Asra und ich getrennt waren, konnten wir der quälenden Versuchung widerstehen und der unvermeidlichen Befleckung der Seele durch den Körper entgehen. Ich versprach ihr, täglich Tagebuch zu schreiben, da Briefe aus Afrika erst lange nach meiner Rückkehr ankommen würden. Ich würde jeden Gedanken festhalten, gelobte ich, jedes Gefühl, jede Erfahrung, und sobald ich zurück war, würden wir uns gemeinsam alles vorstellen, als läsen wir beide dasselbe Buch.

Es gab vieles, was ich in jener ersten Nacht in Kinshasa hätte niederschreiben wollen: das flammende Abendrot im Westen, der undurchdringlich dunkle Osten, als wir bei Sonnenuntergang den Äquator überquerten, die Erinnerung an den Duft ihres Haars, eine Zeile aus Der Zwerg aus einem vergessenen Land, die wir beide so liebten: Ich muss den Heimweg finden, bevor es Herbst wird, bevor die Blätter den Pfad zudecken. Aber ich schrieb nichts und beruhigte mein Gewissen, indem ich alles auf das störende Getrommel schob. Was ich nicht schrieb, behielt ich im Hinterkopf, wie die Geburtstagsgeschenke, die ich erst aufmachen durfte, wenn alle Gäste gegangen waren.

Wie auch immer, am nächsten Morgen stand Sestra im Wohnzimmer und betrachtete einigermaßen fasziniert einen winzigen Mann in einem T-Shirt, auf dem ein in der Luft abgeschossener Engel dargestellt war. Mama saß ihm gegenüber am Couchtisch, lauschte aufmerksam seinem Gezwitscher, die Beine übereinandergeschlagen, der Saum ihres Rocks im Bogen über der nördlichen Hemisphäre ihres Knies.

«Svratio komšija Spinelli», sagte sie.«Nemam pojma šta prica.»

«Guten Morgen», sagte ich.

«Guten Tag, Kumpel», sagte Spinelli. «Der Tag ist schon fast vorbei.» Er zeigte seine Zähne, die von der Mitte zu den Wangen hin gleichmäßig an Größe abnahmen, wie Orgelpfeifen. Sestra lächelte simultan mit ihm; er hatte beide Hände auf den Oberschenkeln geparkt, sie lagen völlig reglos, ruhten sich aus vor ihrer nächsten Aufgabe, die darin bestand, die beiden Locken auseinanderzuschieben, die seine Stirn wie runde Klammern umrahmten. Sie kehrten jedoch augenblicklich in ihre Ausgangsposition zurück. Ihre Spitzen berührten symmetrisch seine Augenbrauen.

Dies war das erste Mal, dass ich Spinelli gegenüberstand, und von dem Moment an veränderte sich sein Gesicht ständig, wobei alle Veränderungen sich nur in den zwei Runzeln zwischen seinen Augen abspielten, parallel wie Gleichheitszeichen, sowie in dem sanften, bestrickenden Lächeln, das jeden seiner Sätze abschloss. Er sagte: «Tut mir leid wegen dem Lärm. Ein gelangweilter Hund macht die komischsten Sachen.»

Mit sechzehn verwendete ich viel Zeit und Mühe darauf, mich gelangweilt zu geben: Augenverdrehen, kurze, knappe Antworten auf inquisitorische elterliche Fragen, der einstudierte leere Blick, wenn die Eltern eine Begebenheit aus dem wirklichen Leben erzählten. Ich hatte mir einen eisernen Schild der Gleichgültigkeit geschmiedet, der es mir ermöglichte, mich abzusetzen, in...


Hemon, Aleksandar
Aleksandar Hemon wurde 1964 in Sarajevo geboren. 1992 hielt er sich im Rahmen eines Kulturaustauschs in den USA auf, als er von der Belagerung seiner Heimatstadt erfuhr. Er beschloss, im Exil zu bleiben. Seit 1995 schreibt er auf Englisch und veröffentlicht regelmäßig unter anderem in "The New Yorker", "Granta" und "The Paris Review". Sein Erzählband "Die Sache mit Bruno" erschien 2000 in acht Ländern gleichzeitig. 2002 folgte der Roman "Nowhere Man", der für den "National Book Critics Circle Award" nominiert war. Die MacArthur Foundation zeichnete Hemon 2004 mit dem "Genius Grant" aus. Spätestens seit seinem international gefeierten Roman "Lazarus", der in Deutschland auf der Shortlist des Internationalen Buchpreises 2009 stand, gehört er zu den meist beachteten Stimmen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. 2013 erschien "Das Buch meiner Leben", wie alle Bücher des Autors in Deutschland bei Knaus. Hemon lebt mit seiner Familie in Chicago.

Hermstein, Rudolf
Rudolf Hermstein, geb. 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.



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