Hentschel | Zu geil für diese Welt | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Hentschel Zu geil für diese Welt

Die 90er - Euphorie und Drama eines Jahrzehnts
18001. Auflage 2018
ISBN: 978-3-492-99202-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die 90er - Euphorie und Drama eines Jahrzehnts

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-492-99202-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die 90er-Jahre sind nicht nur Piercing und Techno, Buffalo-Schuhe und Neonazis. Dieses stilprägende Jahrzehnt ist zum Scharnier zwischen zwei Zeitaltern geworden: Seine Bewohner vollzogen die Deutsche Einheit, erfanden das Internet, bewunderten die totale Sonnenfinsternis, feierten die Loveparade in Berlin, jubelten den Spice Girls und Nirvana zu, schufen einen nie gekannten Aktienboom und waren im TV live dabei, als Sarajevo beschossen und Helmut Kohl abgewählt wurde. Joachim Hentschel berichtet von den ersten Raves, spricht mit VIVA-Moderatorinnen, besucht Revival-Partys, liest in alten BRAVO-Ausgaben – und ergründet so die Seele eines Jahrzehnts, das historisch eingeklemmt zwischen Mauerfall und 9/11 sehnlichst darauf wartet, von uns wiederentdeckt zu werden.

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Einleitung: Pogo getanzt, nach Aliens gesucht, Gott gefunden


Warum sollen wir uns heute überhaupt noch einmal mit den 90er-Jahren beschäftigen?

Es war Dienstag, als die 90er-Jahre zu Ende gingen. Ein tendenziell blauäugiger, harmloser, verduselter Tag, kein großes Ding. Einer, von dem man im Zweifel eher geglaubt hätte, er könnte der lustige Anfang von irgendetwas sein. Kein Schluss. Keine No-Return-Klappe für eine herrliche, gewaltige Zeit, die theoretisch noch ewig hätte weitergehen können. Und von der man so nicht mal richtig Abschied nehmen konnte.

Die meisten, die man heute fragt, erinnern sich komischerweise daran, dass die Sonne schien. Dass sie in der Postamtsschlange standen oder im Auto an der Kreuzung, als es passierte. Dass sie Besuch hatten oder Zahnweh oder einen Abendtermin, zu dem sie umständlich anreisen mussten. Später konnte man den leuchtblauen Himmel und die Herbstvögelchen noch in tausend TV-Wiederholungen sehen, in Endlosloops, auf großen Bildwänden, über alle denkbaren Blickachsen verteilt. Weshalb sich jetzt, rund zwanzig Jahre später, niemand allzu sicher sein sollte, dass die Erinnerung an diesen Dienstag wirklich echt ist. Und nicht nur ein Phantom, eine multimediale Luftspiegelung.

Was mein eigener Kopf noch weiß: wie der Chef der Hamburger Redaktion, in der ich zu der Zeit arbeitete, gegen drei Uhr nachmittags aus seinem Glaskasten im ersten Stock schlüpfte wie ein Maulwurf. Wie er zur Treppe ging und mich im Vorbeigehen kurz anstarrte, in den Augen eine komische Mischung aus Schock und Belustigung. »Auch gehört?«, fragte er in gespielt amüsiertem Ton. »Eben sind zwei Flugzeuge ins World Trade Center geflogen.«

Wir fangen mit dem Ende an: Der schrecklichste Tag in New York


Und ja, das wäre mal gleich die erste These: Die Dekade der 90er ging nicht, wie oft behauptet wird, am 31. Dezember 1999 zu Ende, sondern am 11. September 2001. Obwohl man es ja eigentlich schon zu Silvester ’99 fest eingeplant hatte, das Finale mit großem, endzeitlichem Tamtam. Bei dem die Boeings vom Himmel fallen und die Toaster uns in die Finger beißen sollten. Bei dem die Atomkraftwerke feierlich schmelzen, die Erde aufsplittern, die »Titanic« als Gruselschiff vom Grund hochkommen und das große Blutgericht über die Welt hereinbrechen würde. Simultan zum Schluss des Jahrzehnts, Jahrhunderts und Jahrtausends würde so praktischerweise gleich die gesamte menschliche Kulturgeschichte enden. Passend zum Feuerwerk, ausgelöst durch den sogenannten Millennium-Bug.

Weil man ihn nachträglich gern mit dem Weltuntergang von 2012 verwechselt, den irgendjemand bei der Lektüre im Maya-Kalender gefunden hatte, kurz zur Erinnerung: 1999 war es noch um einen apokalyptischen, weltweiten IT-Crash gegangen, der dadurch ausgelöst werden sollte, dass um Mitternacht alle veralteten Computerkalender vom Jahr 99 auf 00 zurückspringen und dabei die Tore der Hölle öffnen würden. Am Ende passierte nichts, fast nichts. Nach all dem Vorabgebömmel war man fast ein bisschen enttäuscht.

Wie gesagt, es knallte dann doch noch, mit Verzögerung, aber dafür besonders schlimm. Die symbolische Bombardierung des World Trade Center in New York und des Pentagons in Washington, ausgeführt mit drei Passagierflugzeugen (das vierte stürzte ab). Verübt von den Möchtegernmärtyrern einer radikal-muslimischen Terrororganisation, die bis dahin nicht mal sonderlich Small-Talk-tauglich gewesen war, in Echtzeit erlebt vom Großteil der Menschheit: All das passierte zu einem Zeitpunkt, an dem viele, zumindest im privilegierten Westen, auch ohne allzu viel Naivität geglaubt hatten, dauerhaft auf die gute, rasengrüne Seite der Geschichte gefallen zu sein. Als man sich schon fast gewöhnt hatte an dieses Gefühl der Good News, der Befreiungs- und Grenzöffnungsszenen, an die virtuelle Allmöglichkeit der Dinge, an den Abschied von den alten, rostigen Ideologien. In den 90ern konnte man das eine Zeit lang glauben: Vielleicht würde am Ende ja doch alles gut werden.

Die Popstars Prince Ital Joe und Mark Wahlberg hatten das Glück in einem Song prophezeit, im April 1994, zum Höhepunkt der Euphorie: »Maybe one day we’ll be united, and our love won’t be divided.« Prince Ital Joe erlebte den 11. September 2001 übrigens gar nicht mehr. Er starb knapp vier Monate vorher bei einem Autounfall nahe Phoenix, Arizona. Auf dem Highway war ein Reifen geplatzt. Er war nicht angeschnallt.

Klar, bei vielen lag das sprichwörtliche undifferenzierte Hochgefühl das Jahrzehnts auch einfach nur an den Nebenwirkungen ihrer Techno-Tabletten oder am Afri-Cola-Rausch. An den Allmachtsfantasien aus den Internetchatrooms von voriger Nacht, am Girl-Power-High-Five oder einfach – an Ibiza. Und ja, natürlich gab es auch in den 90er-Jahren genug Krisenherde, Explosionen und geistesgeschichtlichen Spuk, genug Argumente für depressive Zweifel an der Zukunft. Aber trotzdem, nur mal als Experiment: Man kneift einen Moment lang die Augen zusammen, lässt nur einen Lichtspalt durch. Man guckt dann, nacheinander, erst in die restaurativ-trüben 70er. In die vom Kalten Krieg verklaustrophobierten 80er. Dann noch in die technologisch tadellosen Nullerjahre. Spätestens dann ist die orangefruchtige Sonne, die den 90ern aus beiden glatt rasierten Achselhöhlen zu strahlen scheint, im Vergleich umso blendender.

Eine ganze Ära geht zu Ende – aber welche eigentlich?


Als es dann unwiderruflich vorbei war, am 11. September 2001, saßen wir den Rest des Tages vor dem Fernseher. Kauten an Nägeln oder ungetoasteten Brotscheiben. Hatten plötzlich riesige Angst vor etwas, das wahnsinnig weit weg war, ein Gefühl, das wir fast schon verlernt hatten. Alle schauten in Richtung New York, wo um circa neun Uhr Ortszeit der erste Angriff passiert war. Selbst als das zweite Flugzeug einschlug, meinte der News-Anchorman Steve Bartelstein auf ABC noch, es könne sich nur um einen bizarren Unfall handeln, um den simultanen Ausfall mehrerer Navigationssysteme oder so. Eine so weit hergeholte, nicht terroristische Unschuldsvermutung sollte es in der Historie der Menschheit nie wieder geben. Ab sofort war es andersrum. Wenn irgendwo ein Navigationssystem ausfiel, glaubten wir zur Sicherheit erst mal, es wäre ein Anschlag.

Die Website Spiegel Online, im Jahr 2001 noch relativ jung, brach wegen der irren Nachfrage zeitweise zusammen. Man starrte auf die Skyline, wie man noch nie auf eine Skyline geschaut hatte, und viele dachten widerwillig, aber automatisch an die Schlussszene des Films »Fight Club« von 1999, in der Edward Norton und Helena Bonham Carter von der Galerie aus verfolgen, wie das Bankenviertel einer unbenannten amerikanischen Großstadt in die Luft fliegt. Freunde riefen an, die aus irgendwelchen Gründen nichts mitgekriegt hatten. Man sagte Sachen ab.

Mitten im stummen, stumpfen Häufchen vor dem Fernseher in der Hamburger Redaktion, unter dem ungebremsten Eindruck der Feuerbälle, Staublawinen und fallenden Menschen, ergriff einer, der meiner Erinnerung nach Ingo hieß, das Wort. »Leute, das gibt Krieg«, sagte Ingo. Er hatte recht. Er hatte natürlich nicht die leiseste Ahnung. Davon, was für ein bislang unbekannter, anomaler, welt- und gedankenverändernder Krieg das werden würde. Davon, wie lange er dauern würde.

Was genau war hier eigentlich zu Ende gegangen? Es gab bald Antworten. Große, widersprüchliche, deshalb ja nicht unbedingt völlig falsche Antworten – von Leitartikeln bis zu UN-Resolutionen, von zeichentheoretischen Puzzleanleitungen bis zu dunkel gestreiften Verschwörungstheorien.

Osama bin Laden, das mutmaßliche Evil Brain hinter dem Großanschlag, habe »die Geschichte des Terrorismus neu geschrieben und möglicherweise sogar der Geschichte des nach dem Kalten Krieg erkennbaren neuen Zeitalters ein Ende gesetzt«, sagte der US-Terrorismusforscher Bruce Hoffman im November 2001 bei einem Vortrag in der Frankfurter Paulskirche. Der Soziologe Jean Baudrillard stellte im Rückblick einen »Streik der Ereignisse« in den 90ern fest (im Original kam die Formulierung vom argentinischen Schriftsteller Macedonio Fernández). Dieses Vakuum hätten die 9/11-Terroristen auf besonders gerissene Art zum Platzen gebracht, indem sie die westliche Moderne mit ihren eigenen Errungenschaften bekämpft hätten: mit der Technologie, den Medienmechanismen. Mit der Vorstellung davon, was ein Event ausmacht.

Eine Woche nach den Anschlägen erklärte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass es in einer Welt, die seit den 90ern im Prozess der Globalisierung stecke, keine wirklichen Angriffe »von außen« mehr gebe, nur noch von innen. Und Terroristen, denen der Tod im Prinzip egal sei, meinte Enzensberger, hätten den auf Selbsterhaltung getrimmten Kapitalistenkindern nun mal einen strategischen Vorteil voraus. Der marxistische Donnerkopfphilosoph Slavoj Žižek wiederum schrieb: »Amerikas Frieden wurde durch die Katastrophen anderswo erkauft.« Mit anderen Worten: Wir, die Profiteure der Globalisierung, waren selbst schuld am Elend, das hereinbrach.

Ein Slogan, der sich im Zug dieser Diskussionen durchsetzte, rief das »Ende der Spaßgesellschaft« aus. Der Begriff selbst war zwar schon etwas älter, aber die Ereignisdeuter schienen ihn herzlich zu begrüßen. In Zusammenhang mit den Anschlägen von New York brachte ihn bereits am Tag danach in der ARD-Fernsehsendung »Friedman« der Nahost-Expertenveteran Peter Scholl-Latour. »Wenn man nun Krieg führt und vielleicht sogar einen Teil der deutschen Jugend an die Front schickt«, erklärte derselbe Scholl-Latour kurz darauf höhnisch der (von ihm rätselhafterweise geschätzten) rechten Wochenzeitung Junge Freiheit, »dann kann man...


Hentschel, Joachim
Joachim Hentschel, Jahrgang 1969, erlebte die 90er-Jahre in Deutschland, England und den USA, schrieb erste Reportagen und sah angeblich dem Sänger Beck ähnlich. Später arbeitete er als Journalist für die Süddeutsche Zeitung, GQ, Rolling Stone, Wired und Business Punk. Zu seinen Interviewpartnern zählten 90er-Ikonen wie Robbie Williams, Juliette Lewis, Harald Schmidt, David Lynch, Ewan McGregor, die Fantastischen Vier und Blümchen.



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