Kapitel 2
Ethik, Moral und Freiwilligkeit
Was Konzerne tun – und was nicht
»Ohne Zweifel droht die Freiheit für sich,
das heißt ohne Ordnung, im Chaotischen zu entarten.«
Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister 1949–1963
Es gehört nicht gerade zu den Charakterzügen großer Konzerne, Verantwortung für Schäden zu übernehmen, die sie anrichten, oder Strategien zu entwickeln, um diese Schäden zu vermeiden. Davon kann der Rhein, Deutschlands mächtigster Strom, ein Lied singen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Menschen andere Sorgen als den Umweltschutz. Abfälle aus der Produktion wurden in die Luft gepustet, in Flüsse oder Seen geleitet oder im Boden vergraben. Pharmaunternehmen, Zellstoffhersteller oder die Kaliindustrie im Elsass leiteten ihre Abwässer ebenso in den Strom wie Flussschiffe ihr Altöl. Der Rhein war bereits in den 1950er-Jahren so stark mit Industrieabwässern belastet, dass selbst Nutztiere sich weigerten, die giftige Brühe zu saufen. Die Wasserwerke in Deutschland und den Niederlanden hatten erhebliche Schwierigkeiten, für sauberes Trinkwasser zu sorgen. Kläranlagen waren selten und mit aus heutiger Sicht meist einfachster Reinigungstechnik ausgestattet. Anfang der 1960er war aus Deutschlands größtem Fluss die »größte Kloake Europas« geworden, so der damalige Bundesminister für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, Siegfried Balke (CSU).
1 Wie so oft weckte erst eine Katastrophe die Menschen auf. Eine Giftwelle hatte im Juni 1969 zu einem Fischsterben nie da gewesenen Ausmaßes geführt. Millionen toter Fische trieben von der Mainmündung bis nach Rotterdam im Wasser. Als Ursache wurde das Insektengift Thiodan ausgemacht. Wer es in den Fluss eingeleitet hatte, ist bis heute ungeklärt.
Erst nach massiven Protesten der in diesen Jahren größer werdenden Umweltbewegung, die sich unter anderem gegen den geplanten Bau zahlreicher Atomkraftwerke entlang des Rheins starkmachte, verabschiedete die Bundesregierung 1971 ein Umweltprogramm, das den Bau von mehrstufigen Kläranlagen vorsah. Sie verpflichtete die Industrie, ihre Abwässer vorzureinigen. Doch Bayer, BASF & Co. leiteten weiterhin giftige Abwässer in den Rhein – und brüsteten sich in einer Werbekampagne 1986 damit, die Belastung mit Schwermetallen in den Jahren zuvor um mehr als 90 Prozent gesenkt zu haben.
Am 1. November 1986 allerdings gelangte mit Pflanzenschutzmitteln verunreinigtes Löschwasser bei Basel in den Rhein. Zuvor war eine Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz (heute Novartis) abgebrannt. Zusammen mit dem Löschwasser ergossen sich rund 30 Tonnen Pflanzenschutzmittel in den Rhein, was ein erneutes Fischsterben auslöste. Als der Fluss und seine Tiere starben, wurde die Kritik der Medien und der Bevölkerung immer lauter. Doch deutsche Chemiefirmen zeigten ihre typische Reaktion: Man sei sich seiner Verantwortung stets bewusst gewesen und habe entsprechend dem jeweiligen technischen Stand alles Mögliche unternommen, um die eigenen Anlagen umweltfreundlicher und sicherer zu machen.
2 Eine Serie von Chemieunglücken nur wenige Wochen später zeigte jedoch in aller Deutlichkeit, dass die Firmen alles andere als verantwortungsbewusst handelten. Den Anfang machte ein »Störfall« bei BASF, bei dem sich 2.000 Tonnen Herbizide in den Rhein ergossen. Danach folgten Hoechst mit Chlorbenzol, Bayer Uerdingen mit Chlormetakresol und Bayer Leverkusen mit Methanol. Es sollten nicht die letzten Zwischenfälle bleiben. Die Industrie tat die Verunreinigungen als bedauerliche Einzelfälle ab und verwies darauf, dass das Rheinwasser die problematischen Stoffe so weit verdünne, dass von ihnen keinerlei Gefahr mehr ausginge.
3 Erst als Greenpeace ab 1985 anhand von Wasserproben an den Abwasserrohren vor allem der großen Chemiekonzerne und Papierfabriken erhöhte giftige Einleitungen nachweisen konnte und der öffentliche Druck auf die Unternehmen wuchs, reagierten die Behörden. Sie erschwerten die Erteilung neuer Einleitungsgenehmigungen oder knüpften sie an Vorgaben wie den Bau von Aufbereitungsanlagen. Auch auf Bundesebene wurden schärfere Gesetze verabschiedet und mehr und mehr Giftstoffe verboten. Neue Analyseverfahren halfen, illegale Einleitungen schneller nachzuweisen.
Mehr als 35 Jahre später missbrauchen Unternehmen den Rhein immer noch als kostenlosen Abwasserkanal. Jetzt sind es riesige Mengen kleiner Plastikpartikel, weniger als fünf Millimeter im Durchmesser, die in immer größeren Mengen flussabwärts und ins Meer treiben. Wieder sind es Chemiekonzerne, die für einen Großteil der Verschmutzung verantwortlich sind. Selbstverpflichtungen der Chemieindustrie, in Hygiene- und Kosmetikprodukten kein Mikroplastik mehr zu verwenden, haben wenig gebracht. Obwohl wir inzwischen im Plastikmüll versinken, wird unentwegt neues, nicht recycelbares Plastik hergestellt. Das Geschäft ist einfach zu lukrativ für die Öl- und Gasindustrie, die das Ende des fossilen Zeitalters vor Augen hat. Denn aus Erdöl lässt sich eben nicht nur Benzin herstellen, sondern auch Plastik. Doch Plastik bedeutet nicht nur ein Müll-, sondern auch ein Klimaproblem. Einem Greenpeace-Bericht aus dem Jahr 2021 zufolge bezieht allein der Schweizer Konzern Nestlé jährlich etwa 1,5 Millionen Tonnen Plastik. Dabei entstehen rund 7,6 Millionen Tonnen CO2-Emissionen
4 – in etwa die Menge, die rund 3.800 Mittelklassewagen durchschnittlich jährlich erzeugen.
5 Verantwortliches Wirtschaften sieht anders aus.
Verantwortlich wirtschaften – mehr Schein als Sein
In der Theorie ist es wie immer ganz einfach: Würden Unternehmen, groß oder klein, nach dem kategorischen Imperativ handeln, den der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas in seinem Werk
Prinzip Verantwortung in Anlehnung an Kant formulierte, gäbe es viele Umwelt- und Menschenrechtsprobleme nicht: »Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden.« Jonas’ Überzeugung war es, dass sich auch Unternehmen vorausschauend Gedanken machen sollten, was sie mit ihrer Geschäftstätigkeit anrichten könnten. Schnelles Profitstreben lässt sich damit freilich kaum vereinbaren. Und so werden allzu oft unbequeme Wahrheiten lieber unterdrückt, obwohl sie den Unternehmen bekannt sind – etwa die negativen Folgen des Tabakkonsums oder die Auswirkungen fossiler Brennstoffe (s.
Kapitel »Hier erlaubt, dort verboten – Profit vor Menschenleben«) –, als dass sie ihr Geschäftsmodell hinterfragen, modifizieren oder sogar einstellen.
Der neoliberale Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman glaubte, die soziale Verantwortung von Unternehmen erschöpfe sich darin, hohe Gewinne zu generieren. Die Einbindung in Marktprozesse mache es ihnen unmöglich, gesellschaftliche Aufgaben und Funktionen zu übernehmen, da dies zu Wettbewerbsnachteilen führen könnte, so Friedman. Hinter der ihm zugeschriebenen Formel »The business of business is business!« konnten es sich die Unternehmen viele Jahrzehnte bequem machen.
Das war schon immer verantwortungslos. Umso mehr gilt das heute, da die Welt ein Dorf geworden ist. Im Zuge regionaler Integration sind Landesgrenzen gefallen, Handelsabkommen ermöglichen den weltweiten Austausch von Waren und ihre Produktion fernab der Verbraucherorte, und das World Wide Web schafft einen grenzenlosen Raum der Kommunikation.
Die fortschreitende Entgrenzung zeigt aber auch ein hässliches Gesicht, wenn globale Umweltgüter wie Luft, Wasser und Klima über Landesgrenzen hinweg gefährdet werden, wenn internationaler Datenmissbrauch betrieben wird, wenn Demokratien zielgerichtet mit Fake News angegriffen werden oder wenn sich unlautere Börsentricksereien zu globalen Finanzkrisen ausweiten. Mit sich verändernden Lebensrealitäten und allgegenwärtiger Transnationalität geht auch ein verändertes Verständnis von Verantwortung einher, das heißt dem Einstehen eines Akteurs für die Folgen seiner Handlungen in Beziehung zu einer geltenden Norm. Wer wofür wem gegenüber verantwortlich ist, muss deshalb regelmäßig von der Weltgemeinschaft neu ausgehandelt werden.
Doch normative Regelungen wollen kontrolliert werden. Das betrifft Konzerne, die Profiteure der fallenden globalen Schranken, in besonderem Maße. Denn das komplexe grenzüberschreitende Zusammenspiel vieler Akteure macht es immer schwieriger, einzelnen Rechtssubjekten konkrete Verantwortung zuzuweisen. Freiwillige Selbstverpflichtungen – so die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte – reichen in diesem Kontext nicht aus. Die bestehenden Rechtsnormen werden den wachsenden Verflechtungen nicht gerecht, es ist, konstatiert die Rechtswissenschaftlerin Anja Seibert-Fohr, zu einer »Diskrepanz zwischen normativen Regelungen und moralischen Gerechtigkeitserwartungen« gekommen.
6 Die Herausforderung für den Staat und übergeordnete Kontrollinstanzen besteht darin, den Mittelweg auszuloten, der einerseits rechtliche Grenzen formuliert (und Fehlverhalten sanktioniert), andererseits klar definierte Handlungsspielräume bestehen lässt. Diese »Neuvermessung« von Verantwortung muss der zunehmenden Vernetzung gerecht werden, ohne in eine diffuse globale Form von Verantwortung zu münden, die anonym und daher wirkungslos bleibt. Funktionieren kann diese Neuausrichtung aber nur mit vielfältigen, transparenten Kontrollinstanzen, die neben einer sanktionierenden Institution auf transnationaler Ebene, Staat, Markt und individuellem Gewissen auch Medien, NGOs und Kirchen als beobachtende Stellen mit einbeziehen.
7 Für weniger Leid in den komplexen Lieferketten global agierender Unternehmen brauche es ein Verantwortungsprinzip, das Opfer...