Hesselholdt Gefährten
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26151-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-446-26151-8
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. 2018 erschien ihr Roman 'Gefährten', 2021 das Roman-Porträt 'Vivian' bei Hanser.
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Tiere
[Edward]
Neuerdings verbringe ich viel Zeit im Zoogeschäft, auch wenn es dort wild und stechend riecht und die Vögel einen infernalischen Lärm veranstalten, sie pfeifen und sprechen: »Hallihallo« und »Guten Tag!«, sagen die Papageien mit Stimmen, die klingen wie die Nachrichtensprecher aus den ersten, scheppernden Tagen des Radios, einer längst in die Jahre gekommenen Technik. An den Geruch hat man sich übrigens schnell gewöhnt.
Ich stehe nicht da und denke, dass wir gewissermaßen alle eingesperrt sind, Tiere wie Menschen, stehe nicht da und sehe mir die Tiere an, weil ich mich wie ein Gefangener in meinem eigenen Leben fühle, alle diese modernistischen Fallen und Floskeln kenne ich bis zum Abwinken. Es geht nicht im Geringsten um Identifikation. Ich empfinde kein Mitleid mit den Tieren, ich weiß nicht einmal, ob ich Sympathie für sie hege. Ich denke auch nicht, diese gefederten oder geschuppten Geschöpfe wären das Fundament, auf dem unsere Art steht. Aber ich bin mir, wie aus diesen Zeilen hervorgeht, darüber im Klaren, dass ich es denken könnte.
Ich gebe mich vor den Käfigen und Aquarien der Kontemplation hin. Ich suche den Blick der Tiere und bilde mir ein, sie würden den meinen suchen. Anschließend können sie sich nicht mehr an mich erinnern, selbst schon einen Augenblick später. Wenn ich fünf Minuten später zurückkehre, erkennen sie mich nicht wieder. Und auch ich kann den einen Goldfisch unmöglich vom anderen unterscheiden. Unsere Blicke treffen sich, basta, das war’s. Bin ich ein Mensch, der »basta« sagt … unsere Blicke treffen sich über das Schlachtfeld der Evolution hinweg, über Millionen von Jahren.
Ich habe gelernt, mich an Mäuse zu gewöhnen, was ich nie für möglich gehalten hätte; die kleinen, huschenden Bewegungen, den Schwanz et cetera. Die Augen der Vögel leuchten vor Intelligenz, man darf die Finger nicht zu den Fischen stecken und sie berühren, dann können sie an Pilz erkranken. Eines Tages war ein Kaninchen da, dem (möglicherweise) auffiel, dass ich es betrachtete, jedenfalls drehte es seinen Kopf und sah mir lange und träge in die Augen. Hätte es jeden anderen belebten oder unbelebten Gegenstand auf dieselbe Weise angeschaut? Gibt es Leben auf dem Mars? Es war grau und vermutlich, so pflegt man doch zu sagen, seidenweich.
Es sind auch Haie da, jetzt komme ich allmählich zur Sache. Nicht zuletzt der Haie wegen bin ich hier, meine häufige Wiederkehr ist ihnen geschuldet. Ich hätte sie gar nicht bemerkt und dachte erst, ich hätte mich verhört, als der Praktikant des Zoogeschäfts fragte: »Gibt es heute kranke Fische für die Haie?« Und der Inhaber muss genickt haben, denn dann sagte der Praktikant: »Ich will sie füttern, ich will sie füttern!«
Erst dachte ich, es wäre eine Metapher, der Hai stünde für etwas anderes, und sah mich misstrauisch um. Ich hatte Angst, mich zum Gespött zu machen. Ich wagte nicht zu fragen: »Sie haben Haie?« Langsam suchte ich alle Aquarien ab. Ich kleide mich gut, bin nicht der Typ, der mit Sandalen und einer Schlange um den Hals in der Fußgängerzone hockt (oder schlimmer noch, und jetzt kommt etwas, was mir einmal zugetragen wurde: ein Mann, der die Gewohnheit hat, wenn es klingelt, die Tür aufzureißen und »fang« zu rufen und dem Gast seine Schlange in die Arme zu werfen!), bin keiner dieser Übergewichtigen, die sich Stabheuschrecken halten oder Tausendfüßler – oh, Tausendfüßler! Einmal sah ich auf einer staubigen Straße in Afrika drei monströse Tausendfüßler vorüberfegen, ihre Beine schlenkerten so fröhlich, schwarz wie altmodische Lokomotiven, übertrafen sie den Anblick von Geparden und Löwen bei weitem, und immer wenn uns ein Paar in Geländewagen und mit Tropenhelmen anhielt und fragte: »Did you see any game today?«, sagte ich ja und erzählte von den Tausendfüßlern, »dort, da drüben, diese Richtung, aber achten Sie darauf, sie nicht zu überfahren«.
Ich bin kein armer, einsamer, trauriger Kerl. Nicht pervers, nicht einmal introvertiert. Habe keine Haustiere. Mein Liebesleben ist so unspektakulär wie das einer Landpomeranze (daran hätte ich euch streng genommen nicht teilhaben lassen müssen). Ich bin studiert, schlank und gut zu Fuß, ein Wandersmann. Klingt das wie eine Kontaktanzeige? Ist es auch.
Die Aquarien sind auf einer Breite von zehn Metern in drei Etagen übereinandergestapelt, es ist ein großes Zoogeschäft, und die Haie sind ganz oben angebracht, fast am Ende der Reihe, das heißt tief im Inneren des Ladens, in seinem dunklen Herzen, wo der Raum einen Knick macht und sich zu einem warmen Seitenflügel mit Glastüren öffnet, in dem die Vögel und die Nager leben.
Es sind fünf eifrige kleine Derwische, und sie halten sich ganz dicht hinter der Glasscheibe und stoßen aggressiv mit ihren Nasen dagegen, Seite an Seite, wie ein Pferdegespann, das am Vorankommen gehindert wird.
»Nichts als Münder«, sagt der Zoofachverkäufer über sie; bedrohliche Münder. Die Haie können bis zu einem Meter lang werden, und was die Leute dann mit ihnen anstellen, weiß ich nicht. Nicht, weil sie niedlicher sind, wenn sie noch klein sind (die Haie), denn sie sind kein bisschen niedlich – aber in einem Aquarium von normaler Größe unterzubringen. Vielleicht schlachten sie sie.
In Island wurde mir einmal Hai mit brauner Soße und gebratenen Zwiebeln serviert. Er schmeckte widerlich. Aber nur wenige Tische entfernt saß Björk in einem Outfit, das an einen Strampelanzug erinnerte. Ich war gerade erst angekommen, gehe in das erstbeste Restaurant, und da sitzt ausgerechnet Björk! Das ist so, als … nein, es lässt sich mit nichts vergleichen.
»Vielleicht«, sagte der Verkäufer, »behalten die Leute sie auch (wenn sie ausgewachsen sind), aber dann haben sie wohl nicht mehr viel Platz zum Wenden.«
Sie sind grau und sehen aus wie bissige Anker. Ich habe Lust, sie zu kaufen und auf die Fensterbank meines Büros zu stellen. Immer wenn ich aufsähe, würde ich ihrem Blick begegnen, sie würden sich ganz dicht hinter der Scheibe halten und mich anstarren, nur von einer einzigen Sache besessen: freizukommen und mich zu kriegen. Am Ende würde ich vielleicht schwach werden angesichts all des erregten, konzentrierten Willens und meinen Arm zu ihnen hineinstecken. Wenn jemand etwas von mir will, kann ich nicht gut nein sagen, so hat mich meine Exfreundin Alwilda geangelt, so stehlen mir meine Studenten die Zeit. Ich sehe die Haie vor mir, wie sie an meinen Fingern hängen, einer an jedem, solange noch Finger da sind. Jetzt sehe ich sogar mich selbst, wie ich die Hand aus dem Aquarium ziehe, mit einem Hai (ca. zehn Zentimeter lang) an jedem Finger, und beherrscht an meinem Computer weiterschreibe, die Haie in die Tasten haue, mit ihnen schreibe, bis sie auf der von Blut und Wasser zerstörten Tastatur ihren letzten Atemzug tun.
Ich habe zurzeit nur ein Tier in meinem Büro. Es ist ein Teddybär, den ich im Russischen Museum in Sankt Petersburg gekauft habe; eines dieser Museen, bei dem man erst durch den Museumsshop muss, um in den Sälen zur eigentlichen Sache zu kommen. Und in einer Vitrine des Ladens saßen also drei Bären, ein großer, ein mittlerer und ein kleiner Bär, entworfen von Malewitsch. Wie die Orgelpfeifen. Vater-Mutter-Kind. Ach, ich hätte solche Lust gehabt, alle drei zu kaufen. Aber das wäre zu gierig gewesen. Mir selbst gegenüber konnte ich nur verantworten, den kleinsten zu kaufen, den kleinsten für mich. Alle drei zu kaufen – da sah ich eine alte Jungfer mit einem Bett voller Porzellanpuppen vor mir, deren vergilbte Rücken in vergilbten Kleidern jeden Morgen von fleckigen Händen an die Wand gedrückt wurden, stumm wie Kaninchen. In meiner Kindheit kannte ich so eine Jungfer. Gerda hieß sie. Nachts, wenn das Bett Gerda gehörte, wo waren die Puppen da? Es ist diese Aufgabe, sie zu entfernen und am nächsten Morgen wieder auf ihren Platz zu setzen, die mich nicht mehr loslässt. So will ich auf keinen Fall enden.
Anfangs hatte ich Herzklopfen, bevor ich den Bären vorzeigte. Jetzt ist er ein normalisiertes Objekt, das auf meinem Schreibtisch sitzt, und an den meisten Tagen beachte ich ihn kaum. Aber ursprünglich, ganz zu Beginn, verspürte ich einen starken Drang, meine Eroberung vorzuzeigen.
Er ist weder weich noch niedlich. Er ist wie das gemeine russische Volk, von dem Malewitsch ihn nahm und dem er ihn wiedergab, jetzt malewitschfarben, in klarem Rot und klarem Blau, Weiß, Schwarz und Gelb. Er geht mit den Hühnern ins Bett und steht mit der Sonne auf, und zwischendurch isst er ein wenig Hirse.
Ich trug ihn, Gott weiß warum, in meiner Tasche umher. Ich wartete auf den richtigen Moment, ihn hervorzuziehen, wartete auf eine Gesprächspause. Wenn sie kam, schlug ich zu.
Einmal im Restaurant mit meinen besten Freunden … er brannte während des Hauptgangs und Desserts in meiner Tasche, die Tasche stand hinter meinem Stuhl. Unter dem Vorwand, meine Zigaretten hervorzukramen, hob ich den Überschlag ein wenig und schaute zu ihm herein, er brodelte. Das Gespräch handelte von ihren Präferenzen und Antipathien, beide sind Maler, und wir hasteten durch die Kunstgeschichte, hechelten reihenweise Ausstellungen durch. Muss die Erklärung für meinen übertriebenen Affekt in der Vergangenheit gesucht werden? Ich hatte als Kind einen Hund, der genauso fest gestopft war wie der Malewitsch-Bär, und wenn man ihn tanzen ließ, sang man über ihn: »Schau – mit einer Rassel auf der Nase kommt der karierte Hund zu dir, er will dir ein Liedchen singen, er ist ein ganz besonderes Tier.«
Und jetzt wollte ich so gern mein ganz besonderes Tier vorzeigen. Dazu kam...