Hesselholdt | Venezianisches Idyll | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Hesselholdt Venezianisches Idyll

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28401-2
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-446-28401-2
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Christina Hesselholdt schreibt unglaublich humorvoll und virtuos über ein Versteckspiel in der Serenissima - der dänischste Venedigroman, den es je gab.
Gustava, Psychiaterin, Mitte fünfzig, ist erschöpft von unzähligen Umzügen und dem Leid der anderen. Sie wird ihrem Leben ein Ende setzen und bricht dazu auf in den eisigen Norden. Doch vor dem Polarlicht kommt es zum Sinneswandel: Das neue Ziel heißt Venedig - hier soll ihre Lebenslust neu erblühen. Zu Hause stößt ihr labiler Bruder Mikael auf ihren Abschiedsbrief und reist ihr hinterher. Bloß von ihm, den sie schon ihr Leben lang stützen muss, will sie nicht gerettet werden, jedenfalls nicht, während sie sich mit täglichen Negronis im venezianischen Idyll entspannter Lebensfreude anzunähern versucht. Mit kluger, zärtlicher Komik inszeniert Christina Hesselholdt ein Versteckspiel im Labyrinth der Kanäle, eine Verfolgungsjagd nach dem Glück, das hinter jeder Brücke zu finden sein könnte, aber selten in uns selbst.

Christina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. 2018 erschien ihr Roman 'Gefährten', 2021 das Roman-Porträt 'Vivian' bei Hanser.
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GUSTAVA

Selbst in Gesellschaft meines Allernächsten, meines Bruders, kommt es mir vor, als wäre eine Scheibe zwischen uns geschoben worden. So ist es mittlerweile; er redet und redet, ich nicke und nicke, aber er kann mich nicht wieder aus dem Dunkeln hereinholen. Und dann geschah im Flieger doch etwas, weshalb ich jetzt aufrecht durch den Flughafen gehe. Kurz vor Abflug stieg ein Kapitän ein und setzte sich vor mich auf den Platz am Gang. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ein Flugkapitän als Passagier, und dann auch noch direkt vor mir. Er war rotblond. In Uniform. Er zog das Jackett aus. Sein Hemd war kurzärmelig. Seine Arme waren die eines rotblonden Mannes, gesprenkelt mit kleinen Sommersprossen. Die Hemdsärmel zierten schwarze, goldbesetzte Galonen — man kann sie auch Tressen nennen, aber Galonen klingt besser, weil man an Galopp und Kanone denkt … Galonen, passend zur Mütze, die ebenfalls mit Schwarz und Gold dekoriert war und die er neben sich auf dem Sitz abgelegt hatte. Die Galonen machten irgendetwas Vorteilhaftes mit seinen eigentlich recht dünnen und wie gesagt gesprenkelten Armen. Und seinen trockenen, rauen Ellenbogen. All das sah ich durch den Spalt zwischen den Rückenlehnen und wenn ich mich auf den Gang hinauslehnte. Ich bekam eine unbändige Lust, die Hand in seinen Ärmel gleiten zu lassen und die Galone, diese aufregende Galone, von innen an meinem Handrücken zu spüren. In meiner hartnäckigsten Fantasie bin ich auch in einem Flugzeug, bisher hat sie jedoch nur mit meinen Mitpassagieren gespielt: Ich, zwischen zwei unwiderstehlichen, verschiedenfarbigen Männern sitzend, alle drei angeschnallt, also mit begrenztem körperlichen Handlungsspielraum, aber freien Händen. Und Mündern. Der Flugkapitän ergänzte diese Fantasie um eine neue Möglichkeit. Bevor ich seine Galonen sah, war mir nie bewusst gewesen, dass mich Uniformteile anscheinend anturnen. Der Kapitän war eingeschlafen, sein Kopf baumelte auf den Mittelgang, die Arme hingen schlaff in Richtung Boden. Und dann wagte ich es. Ich schob meine Hand so in seinen Ärmel, dass ich den Arm kaum berührte — weil er so dünn war, blieb im Ärmel viel Platz — und rieb meinen Handrücken an der groben Galone. Erst von innen. Und danach von außen. Mit den Fingern und mit dem Handrücken. In meiner Situation hat man nichts zu verlieren. Doch dann eilte eine Stewardess mit langen Schritten den Mittelgang entlang, beugte sich über mich und flüsterte: »Bitte lassen Sie dem müden Kapitän seine Ruhe, er braucht den Schlaf, weil er in Tromsø sofort den nächsten Flug hat.«

Ich zog die Finger zurück, spürte jedoch noch eine ganze Weile das Gefühl der harten, glatten Stickerei an meiner Hand. Ich studierte ihn oder zumindest das, was ich trotz seiner Maske von ihm sehen konnte. Er erinnerte an Leslie Howard. Feingliedrig. Blass. Nicht der Typ Mann, für den ich normalerweise schwärme. Die Feingliedrigen, Blassen sind eher was für meine Mutter. Nicht dass mein Vater so aussehen würde — was er allerdings auch immer wieder zu hören bekam. Er erinnert eher ein wenig an den späten Clark Gable. (Wenn ich diese überholten Filmstars in die Gegenwart übersetzen müsste, wen würde ich dann wählen? Owen Wilson vielleicht und den kompakten Johnny Depp?) Meine Mutter nahm meinen Vater nur, weil er sie so lange verfolgt hatte, bis sie ihm, müde vom vielen Davonlaufen, das Ja-Wort gab. Als sie einmal zu ihrer Mutter nach Hause flüchtete, schubste die sie wieder zurück in die Arme meines Vaters. Sie rief ihn an und sagte: »Komm her, jetzt ist sie da.« Sie machten gemeinsame Sache. Meine Mutter kapitulierte.

Mein Begehren oder zumindest dies plötzliche Verlangen nach dem Flugkapitän wurde von den Vorlieben meiner Mutter infiziert. (Diese hellen, feingliedrigen, blauäugigen Männer, die meine Mutter so begeisterten, dass sie selbst gerne Rollkragenpullover unter Tweed-Jacketts trug.) Plötzlich hatte ich das Gefühl, sie säße auf dem Platz neben mir und würde mich lenken. Oder nein, sie saß zu Hause in Jütland, mit einer Fernbedienung.

»Aber es ist nur die Galone, Mama«, sagte ich in Gedanken zu ihr, »nicht der Mann selbst.« Und aus meinem Kopf heraus erwiderte meine Mutter träumerisch: »Nein, es ist seine Schönheit. Ich glaube, hinter dieser Maske verbergen sich gefährliche Lippen.«

Er ähnelte auch einem verstorbenen Onkel, einem Schiffskapitän, der für immer fern, melancholisch und romantisch, ja durch und durch tragisch bleiben würde, nachdem er während der Bombardierung der Alliierten mit seinem Schiff vor Hamburg gelegen hatte, durch das Öl der zerbombten Tanks verwandelte sich das Hafenbecken in einen Feuersee; er saß fest auf seinem Schiff, mitten in der Hölle. In seinem gequälten Gesicht saß eine vornehm gebogene Nase, beinahe ein Papageienschnabel, in deren Schatten er sein Leben fristete, so kam es mir jedenfalls vor, vielleicht, weil er immer nach unten sah, auch wenn er mir die Hand gab, selbst als ich genauso groß geworden war wie er. Dabei war es das Erlebnis in Hamburg, das sein restliches Leben überschattete. Er hätte Hilfe gebraucht, nicht nur eine Familie, die über den brennenden Hafen tuschelte, wenn er den Tisch verließ und sich in seinen Ohrensessel zurückzog. Und jetzt denke ich an die ikonischste aller Ikonen, ein Stück lähmende Dramatik in Schwarz-Weiß aus demselben Weltkrieg: die Kamikaze-Piloten, als Gruppe versammelt auf der Startbahn, im Hintergrund die Flugzeuge, deren Motoren warmlaufen, jeder Pilot leert ein kleines Glas (Sake?), ihre Kopftücher flattern senkrecht im Wind, sie schlagen die Hacken zusammen und salutieren vor dem Kaiser und marschieren dann wie auf Kommando zu ihrem jeweiligen Bomber, um für den Kaiser und das japanische Vaterland in den Tod zu fliegen.

Wir landeten, und ich hätte fast meinen Schal vergessen, denn jetzt war der Kapitän wach und fesselte meine ganze Aufmerksamkeit, ich sah, wie er sich die Augen wischte, die Maske hochzog und mit der Hand über seinen in der Tat verführerischen Mund fuhr, von dem ein feiner Speichelfaden herabhing. Es ist ein rotkarierter Schal aus hundert Prozent reiner Lammwolle, hergestellt in Schottland; im Fernsehen sah ich den Prinzen, nicht Harry, sondern den anderen, mit genau dem gleichen Schal. Da ich mich schon länger leicht derangiert fühle und nicht die Kraft habe, viel aus mir zu machen, beflügelte mich diese Übereinstimmung mit der Garderobe eines Prinzen ein wenig. Sie überraschte mich auch, ja, es weckte beinahe mein Misstrauen, dass er etwas trug, das für ihn am untersten Ende der Preisskala liegen musste; denn ich sah sofort nach, was der Schal gerade kostete, über tausend Kronen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich vor zehn Jahren höchstens ein paar hundert dafür bezahlt hatte. Vielleicht trug er ihn, um ein Signal an die Schotten mit ihren eifrigen Unabhängigkeitsbestrebungen zu senden: »Bleibt brav in eurem Pferch, dann werde ich bis in alle Ewigkeit ein gutes Wort für eure Wolle einlegen.«

Ich habe nur Dunkelheit zu signalisieren, wer will die schon empfangen? Und ich habe nur meinen Bruder; aber der empfängt keine Signale.

ERZÄHLER

habe das Signal empfangen. Deine Dunkelheit ist undurchdringlich, sie erinnert an Leder, an geöltes Eichenholz. Ich möchte sie einsaugen wie CO2, sie in einen Sack stecken und von einer Brücke werfen. Die Dunkelheit muss ertränkt werden.

Man erlaube mir den Einschub, dass ich fest entschlossen , in dieser Erzählung so leicht und flüchtig zugegen zu sein wie ein (von Wolken geworfener) Schatten, den der Wind über Gras oder Getreide treibt; wie eine Welle, die über die Halme rollt und sie für einen Moment verdunkelt. Oder, da wir nun einmal in einem waldreichen Land leben … wie der Wind, der an weißglasierten Kiefern rüttelt, sodass der Schnee aufstiebt und die Luft erfüllt — und meine Wangen wie Splitter trifft. Das hatte ich beabsichtigt, aber ich weiß jetzt schon, dass ich diese diskrete Rolle nicht spielen kann. Ich bin zu angefasst, zu aufgebracht, und der rosafarbene Daunenmantel, den Gustava trägt, löst etwas in mir aus; am liebsten würde ich auf die Knie sinken, in Kindshöhe meine Arme um ihre Hüften schlingen, mein Gesicht in diesen Mantel bohren und ihn knistern hören. Eine Frau Mitte fünfzig in einem rosa Mantel, ist das nicht entzückend? Ich bin der Alterspräsident dieser Reisegesellschaft. Der Flugkapitän ist jung, der Jüngste von uns. Ältere Männer, so sagt man,...


Allenstein, Ursel
Ursel Allenstein, geboren 1978, ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u. a. Tove Ditlevsen, Jonas Eika, Christina Hesselholdt und Karin Smirnoff. Für ihre Übersetzungen wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jane-Scatcherd-Preis der Ledig-Rowohlt-Stiftung.

Hesselholdt, Christina
Christina Hesselholdt, geboren 1962, gilt als eine der außergewöhnlichsten Stimmen der zeitgenössischen dänischen Literatur. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt (2018) mit dem Grand Prize of the Danish Academy. 2018 erschien ihr Roman "Gefährten", 2021 das Roman-Porträt "Vivian" bei Hanser.



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