E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Hewson Todesritual
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98690-094-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller | »Hewson ist geradezu einschüchternd talentiert!«, urteilt Bestsellerautor Jeffery Deaver
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-98690-094-6
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
David Hewson wurde 1953 geboren und begann bereits im Alter von 17 Jahren für eine Lokalzeitung im Norden Englands zu arbeiten. Später war er Nachrichten-, Wirtschafts- und Auslandsreporter bei der »Times« und Feuilletonredakteur bei »The Independent«. Heute ist er ein international bekannter Bestsellerautor. Sein Thriller »Todesritual«, auch bekannt unter dem Titel »Semana Santa«, wurde mit dem W. H. Smith Fresh Talent Preis für einen der besten Erstlingsromane ausgezeichnet und verfilmt. Er schrieb die Bücher zur dänischen Fernsehserie »The Killing« und seine Nic-Costa-Kriminalromane wurden weltweit zum großen Erfolg. Die Website des Autors: davidhewson.com Bei dotbooks erscheinen von David Hewson die Nic-Costa-Kriminalromane »Das Blut der Märtyrer« und »Der Kult des Todes«, außerdem die Thriller »Todesritual«, »Burning Earth - Der Countdown läuft«, »The Stake - Die Strohpuppe«, »The Cabin - Mörderischer Rausch« und der Spannungsroman »Die dunklen Schatten von Venedig«.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
La Soledad.
Die Worte hallten im Kopf der alten Frau nach, als sie aus schnell verblassenden Träumen erwachte. Wie das leise Knurren eines unsichtbaren Tieres drang der Lärm der Stadt durch die Tür unter dem Mauerbogen. Oleanderduft mischte sich mit dem Geruch von Diesel und Zigaretten. Von ihrem Sessel aus, dessen brüchiges Rohrgeflecht ihr in die Glieder stach, konnte sie über den Garten in den Patio blicken. Ein paar Orangen- und Zitronenbäume mit schrumpeligen, in der Nachmittagssonne verstaubt wirkenden Früchten, die wächsernen, roten Samenhülsen an einem einsamen Granatapfelbaum, der plötzliche Gestank von Katzenpisse in der für die Jahreszeit zu warmen Nachmittagsluft.
Caterina Lucena sah, wie sich die Geister wieder versammelten: heiter, unbeschwert, geräuschvoll. Lachen klang zwischen den glänzenden Wänden wider, die Kacheln schimmerten neu in der Sonne. Sie sah, wie die Leute von Gruppe zu Gruppe schlenderten, genau wie vor mehr als sechzig Jahren, als sie sie als junges Mädchen, von Hochachtung und Bewunderung erfüllt, von ebendiesem Fenster aus beobachtet hatte. Alle großen Persönlichkeiten der Zeit waren hier gewesen. Einmal hatte sie sogar ihn, Lorca, gesehen. Unter Orangenblüten hatten sie Fino und Manzanilla getrunken und über Dinge gesprochen, die sie nicht verstand. Sie hatte gesehen, wie sich der Ausdruck ihrer Mienen im Verlauf zweier Jahreszeiten von strahlender Zuversicht in unausgesprochene Besorgnis verwandelt hatte, dann in bange Furcht und schließlich in nackte, brutale Angst.
Und während dieser ganzen Zeit hatten die Bäume geblüht und Früchte getragen. Ungepflückt blieben sie an den Zweigen hängen und wurden von den Kutschen und Autos, die sie hinter der Mauer hören konnte, mit staubigem Sand bedeckt.
Eines Tages kam sie, von unbekannten Geräuschen geweckt, aus ihrem kleinen, sonnigen Zimmer herunter und fand die Erde mit faulenden Früchten bedeckt vor. Es war, als hätte ein plötzliches Erdbeben sie von den Ästen geschüttelt. Zerfetzt und verformt lagen sie auf der trockenen rotbraunen Erde. Verwesendes Fruchtfleisch quoll aus den aufgeplatzten orangefarbenen und gelben Schalen hervor. Das hatte etwas Obszönes und war über den reinen Anblick hinaus beängstigend.
Eine Lebensspanne später sah sie sich wieder so, wie sie damals war, beobachtete das junge Mädchen in seinem weiten Kleid aus kühler Baumwolle, das an der blaugold gefliesten Tür des Patios in der Sonne stand und schockiert und ahnungsvoll auf die bittere Ernte blickte.
Sie wartete. Es würde kommen. Es kam immer.
Eine Explosion hinter der Patiomauer, so ohrenbetäubend, so gewaltsam, als würde die Welt auseinandergerissen. Die Luft, der Himmel erbebte. Sie schrie, und die Zeit spielte verrückt, die Sekunden wurden zu Stunden, als wollte sie die Schmerzen, das Leid verlängern.
Die Bäume waren wie elektrisiert. Ihre Äste zuckten, als durchliefen sie stahlharte Muskeln, die sich plötzlich aus Wut oder Angst verspannten. Sie ballten sich wie Fäuste, entspannten sich wieder, und die Luft füllte sich mit Blättern, Zweigen und dem widerlich süßen Aroma faulender Früchte. Die Detonation der Kanone trieb einen neuen Geruch heran, den scharfen Gestank von Kordit und Verbranntem.
Über ihr Flügelschläge, angstvolle Schreie der Vögel, Flattern, Flattern.
Ein Gegenstand taucht vor ihr auf, sinkt vom Himmel, blutige Tränen auf Weiß, nahe genug, um ihn zu berühren. Er schwebt wie eine Feder herab, langsam, fast anmutig. Sie kann das Rot, tiefdunkel und sehr real, auf den Federn sehen. Kann den blutigen Streifen am Hals sehen, wo die Explosion den Kopf abgerissen hat. Und spürt irgendwo in ihrem Hinterkopf, dass sie schreit. Doch da ist kein Laut, kein Schmerz, überhaupt keine Empfindung. Die Welt ist zu einem einzigen Ereignis zusammengeschrumpft: Vor ihr schwebt eine kopflose Taube mit unwirklicher Langsamkeit zu Boden.
Sie sieht, wie der Hals krampfhaft zuckt. Sie sieht, wie Blut aus dem Körper pulst. Die Tropfen fliegen langsam durch die Luft, perfekte rote Perlen, halb erstarrt in ihrer Bewegung. Sie fallen auf ihr Kleid, ihre Haut. Sie sieht das Rot auf ihren Armen, spürt es klebrig in ihrem Nacken. Sie schreit, fühlt den leichten roten Regen auf ihrer Zunge und kommt nicht umhin, ihn zu schmecken – frisch, warm und salzig –, als sie sich automatisch mit der Zunge über die Lippen fährt. Und die gedankliche Umsetzung dreht ihr den Magen um, lange bevor die physische Reaktion einsetzt.
Die Zeit bleibt stehen. Die Taube verharrt vor ihr, als wolle sie sagen: Das ist der Moment. Dann setzen die Sekunden wieder ein. Mit einem plötzlichen, brutalen Klatschen prallt sie auf der Erde auf, und als sie zu würgen beginnt, weiß sie, dass dieses Ereignis, obgleich nur Vorbote anderer, weit verhängnisvollerer Geschehnisse, sie für den Rest ihres Lebens prägen wird. Irgendwann, in einer anderen Zeit, erbricht sich ein junges Mädchen im Patio seines Elternhauses, den kleinen, zerfetzten Körper einer Taube vor seinen Füßen. Draußen der Lärm der Waffen, der Geruch von Blut.
La Soledad.
Doña Caterina sieht ihre Geister schwinden, langsam in der Nachmittagssonne verblassen. Unvermittelt kommt Ärger in ihr hoch: Warum jetzt? Warum ruhen die Toten nicht in ihren Gräbern? Tränen brennen in ihren Augenwinkeln. Sie empfindet Scham über den sauren schalen Nachgeschmack von Manzanilla in der Kehle. Ein kleines Mittagessen, ein Schluck aus dem Plastikbehälter, den die Stundenhilfe um die Ecke kauft, heiße, schlafträge Nachmittage. Aber wenigstens hat das die Träume vertrieben, schon seit Jahren, fast so erfolgreich, dass sie sie vergessen konnte.
Ein Geräusch erregt ihre Aufmerksamkeit. Bei aller Hinfälligkeit sind ihre Augen, ihre Ohren so scharf wie eh und je. Eine Bewegung in einer Ecke des Patios. Sie beobachtet, wie eine Gestalt hinter der purpurfarbenen Bougainvillea in Richtung Mauer verschwindet. Die Gestalt ist halb von den Bäumen verdeckt. Sie sieht nur Rot, überall Rot. Kein Gesicht, keine Identität.
Tiefes Rot, die Farbe von Taubenblut.
Sie spürt, wie ihre Verärgerung zunimmt, stützt sich auf die Armlehnen ihres Sessels und stemmt sich hoch. Ihre Glieder schmerzen. Sie greift nach dem alten Krückstock, ohne den sie inzwischen nicht mehr auskommt; und ihre Hilflosigkeit macht sie noch zorniger.
»Gesindel, Gesindel, Gesindel«, schreit sie durch die geöffnete Tür. Ihre Stimme hallt durch den Patio, klingt in ihren Ohren wie das Krächzen einer Krähe. Neue Tränen treten ihr in die Augen.
»Du diebischer Nichtsnutz! Spionierst einer alten Frau hinterher, anstatt dir dein Essen durch ehrliche Arbeit zu verdienen. Komm her. Du kriegst von mir, was du verdienst. Ich schiebe dir meinen Stock ins Hinterteil, du nichtsnutziger Lümmel!«
Blätterrascheln in der Ecke des Patios, ein Schnaufen. Die rote Gestalt klimmt an der Mauer empor und verschwindet.
Sie verspürt Erleichterung, dann Scham über ihr Leben: Sie erwacht, isst, schläft und zählt dann die Pesetas, um sich zu vergewissern, dass sie morgen das gleiche machen kann. Und jetzt muss sie junge Diebe anschreien, die sie berauben wollen.
Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück und sieht sich im Raum um. Die wertvollsten Möbel sind längst fort, im Auktionshaus an der Calle Mayor gelandet. Die Gemälde, das Porzellan, die chinesischen Teppiche. Das Gefüge ihrer Erinnerungen an die Kindheit hat sich aufgelöst, wurde verstreut. Vor ihrem inneren Auge, dem aktiven, vielgestaltigen Bereich ihrer Imagination, den sie neuerdings bevorzugt, kann sie die Wohnungen der nouveaux riches in den neuen Vierteln sehen, in denen sie in engen Schuhkartons leben, Schulter an Schulter wie die Armen, aber mit Fernsehgeräten und lauten Radios. Die Symbole ihres Lebens und ihrer Herkunft verleihen ihren oberflächlichen, schäbigen Existenzen zwischen den dünnen Gipswänden einen Hauch von Authentizität.
Aber es fehlt nichts. Dessen ist sie sich fast sofort gewiss. Alles, was noch da ist, stellt einen festen, greifbaren Eckpfeiler in ihrem Leben dar. Den Verlust einer Vase, einer Scherbe der Vergangenheit, hätte sie sofort bemerkt.
Blinzelnd macht sich Doña Caterina bewusst, dass ihr Denken für kurze Zeit ausgesetzt hatte. Keine Überlegung, nicht einmal das vertraute und willkommene Aufwallen von Ärger, dieses plötzliche, stechende Gefühl, das sie am Leben erhielt. Das Alter fing an, sie zu versteinern, langsam, von Tag zu Tag mehr. Dieser Prozess hatte bereits vor Jahrzehnten begonnen, mit dem sanften Herabstürzen einer kopflosen Taube. Doch dem unvermeidlichen Ende entgegen beschleunigt er sich jetzt. Es macht ihr nichts aus.
Sie schnuppert und weiß Bescheid. Es ist der Geruch, der alte Geruch.
Wieder quält sie sich aus dem Rohrsessel hoch. Sie trägt ein altes ausgeblichenes Kleid, das wie ein Sack an ihr herabhängt. Die aufgedruckten, einst azurblauen Rosen heben sich blass vom Untergrund schwärzlicher Blätter ab. Ihre Haare, grau mit wenigen hellbraunen Strähnen, sind zu einem strengen Knoten zusammengefasst. Ihre zerfurchten, walnussbraunen Züge wirken noch immer aristokratisch: ein Blick, der Unbedachte vernichten kann, eine Hakennase, mindestens seit der Reconquista ein Merkmal ihrer Familie, Wangenknochen, die fast spitz unter den Augen aufragen. Als sie sich an ihrem Stock zur Tür müht, sieht sie aus wie ein gebrechlicher alter Adler, der auf Beute aus ist.
Doña Caterina dreht am Türknauf und betritt die Halle. Sie ist groß und hoch, vornehmer als ihr Zimmer. Sonnenlicht strömt durch die staubtrüben Fensterscheiben über der messingbeschlagenen Flügeltür. Der Boden ist gefegt, die Fliesen glänzen, wie das nur...