E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Hickman Fast nackt - Mein abenteuerlicher Versuch, ethisch korrekt zu leben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-87-28-01332-8
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-87-28-01332-8
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leo Hickman ist ein englischer Journalist und Autor. Sechzehn Jahre lang arbeitete er als Redakteur bei der Zeitung 'The Guardian'. Seit 2015 ist er zudem Herausgeber der Website CarbonBrief, die sich auf den Bereich Umweltschutz und Klimawandel spezialisiert. Zu diesen Themen hat Hickman auch bereits mehrere Bücher verfasst. 2020 wurde er von der Association of British Science Writers als 'Redakteur des Jahres' ausgezeichnet.
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1
Jeder weiß, dass sich in den USA die zum Tode Verurteilten vor der Hinrichtung ihre Henkersmahlzeit aussuchen dürfen. Nun könnte man glauben, dass ihnen angesichts des bevorstehenden Ereignisses jeder Bissen im Hals stecken bleibt, aber tatsächlich nutzen viele die Gelegenheit richtig aus. Warum auch nicht? Wenn man sich über Cholesterin und Fettröllchen keine Gedanken mehr zu machen braucht, schadet es ja niemandem, so viel Salz, Fett, Zucker, rotes Fleisch und Kohlehydrate in sich hinein zu stopfen, wie man hinunter bringt.
Am Abend bevor die ethischen Berater eintreffen, frage ich Jane, ob auch wir unser »letztes Abendmahl« zu uns nehmen sollen, bevor unser Leben auf den Kopf gestellt wird. Ich schlage vor, den Anlass mit einem Festessen aus Dingen zu begehen, von denen wir annehmen, dass man sie uns wegnimmt. Um uns Anregungen zu holen, schauen wir uns an, was die Delinquenten in der letzten Zeit als Henkersmahlzeit bestellt haben. Das ist vermutlich ein bisschen geschmacklos, aber wir fühlen uns schutzlos ausgeliefert. Nachdem wir ein wenig herumgesucht haben, steht fest: vor der Hinrichtung wird vor allem von einem geträumt – von Fast Food, und zwar in großen Mengen. Nehmen Sie zum Beispiel John Hooker, der am 25. März 2003 in Oklahoma hingerichtet wurde. Er wusste offenbar genau, was er wollte – schließlich hatte er viele Jahre Zeit gehabt, darüber nachzudenken.
- Drei Hühnerbrüste und drei Chicken Wings von Kentucky Fried Chicken
- Broccoli-Röschen mit Käsesauce
- Eine Ofenkartoffel mit saurer Sahne und Schnittlauch
- Zwei Bacon Cheeseburger
- Zwei Stücke Kirsch-Käsekuchen
- Zwei 7-Ups
Von den fünfundsechzig Personen, die 2003 in den USA hingerichtet wurden, bestellten dreizehn Burger, zwölf Brathähnchen und neunzehn Pommes frites. Aus diesen letzten Mahlzeiten kann man vor allem lernen, dass sich Menschen in Zeiten höchster Angst Trostessen zuwenden. Und je größer die Angst, desto mehr isst man.
Sie können unseren Stresslevel interpretieren, wie Sie wollen, aber wir haben vor der bevorstehenden ethischen Beratung so viel Angst, dass wir, statt uns wie üblich selber etwas zu kochen, die gesamte Speisekarte des indischen Takeaways rauf und runter bestellen und dann alles genüsslich aufessen, bis auf den Kopfsalat mit Zwiebeln, der gratis mitgeliefert wird und den wir nie anrühren.
Während wir auf die Ankunft der Berater warten, überlegen wir krampfhaft, was wir ihnen zum Mittagessen anbieten sollen. Was isst denn eigentlich ein ethischer Berater? Sind sie Vegetarier, Veganer oder essen sie vielleicht nur Fallobst? Muss alles biologisch sein? Oder Fair Trade? Und was sie wohl trinken wollen?
Jedesmal wenn Gäste kommen, entsteht Hektik. Man geht herum und schüttelt Kissen auf, überprüft, ob im Badezimmer alles sauber ist, gräbt Gästehandtücher und »Gästeseife« aus, schnüffelt, ob etwas Raumspray angebracht ist, räumt die Wäsche vom Wäschereck und lauter so paranoide Dinge. Normalerweise ist Jane anfälliger dafür als ich. Aber jetzt bin auch ich nervös.
»Glaubst du, wir sollten die Fernbedienungen wegräumen?«, frage ich. »Wir wollen doch schließlich nicht, dass sie glauben, wir säßen den ganzen Tag vorm Fernseher. Es stimmt ja auch nicht.«
»Nein, lass sie einfach liegen. Sie müssen ja ganz genau mitbekommen, wie wir leben.«
»Was ist mit den Windelpaketen in Esmes Zimmer?«
»Lass sie da stehen.«
Ich sehe Jane an, dass sie ebenfalls nervös ist, aber entschlossen, sich so zu verhalten, als ob wir uns wegen nichts schämen müssten. Gerade wollen wir wieder anfangen zu debattieren, was wir ihnen denn nun zum Mittagessen anbieten sollen, da klingelt es.
Hannah Berry kommt als Erste. Sie arbeitet für Ethical Consumer, ein Verbrauchermagazin, das alle zwei Monate erscheint und seine Leser über die »sozialen und umweltrelevanten Wirkungen von Produkten und die ethischen Voraussetzungen der Unternehmen, die sie produzieren« informiert. Auch Hannah kommt mir ein bisschen nervös vor, als sie sich in unserem Wohnzimmer hinsetzt. Angesichts ihres Kapuzenshirts, der kurzen Haare und der Jeans muss ich an Wohngemeinschaften, Katzen und Linsensuppe denken.
Ich frage sie, ob sie Tee oder Kaffee möchte, wobei ich feststelle, dass ich damit beginne, die Details unseres Lebens der kritischen Analyse preiszugeben.
»Kaffee, bitte«, erwidert Hannah.
»Wenn Sie möchten, kann ich statt löslichem auch richtigen Kaffee kochen.« Aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass es uns Punkte bei Hannah einträgt, wenn wir frischen Kaffee anbieten. Jane runzelt die Stirn.
Während ich in die Küche gehe, um den Wasserkessel aufzusetzen, spekuliere ich darüber, mit welchen Etiketten Hannah uns bereits versehen hat, einfach nur, weil sie unseren Namen, unsere Adresse, unsere Jobs und so weiter kennt: Mittelschicht, berufstätige Stadtmenschen, die wahrscheinlich bei Sainsbury’s einkaufen, einen Kombi fahren, mehrmals im Jahr Kurzurlaube machen, Pinot Grigio trinken und Cashew-Nüsse essen, während sie sich im Fernsehen Dokumentarfilme anschauen.
Das Wasser kocht gerade, als Mike Childs eintrifft. Er ist der englische Marketingleiter von Friends of the Earth, einem internationalen Netzwerk von Umweltgruppen, und ist von seinem Wohnort in Yorkshire mit dem Zug nach London gekommen. Er trägt Jeans, T-Shirt und ein offenes grünes Hemd und hat das entspannte, sorglose Aussehen eines Umweltaktivisten. Ich stelle ihn Hannah vor und biete ihm etwas zu trinken an, und dann ziehe ich mich mit Jane in die Küche zurück, um zu überlegen, was wir ihnen denn nun zum Mittagessen anbieten wollen. Wir durchwühlen unsere Küchenschränke und den Kühlschrank auf der Suche nach etwas Tollem und Besonderem, das uns ethische Fleißpunkte einträgt, finden jedoch nur Dosen mit Baked Beans, Pastaschachteln und Gläser mit Mango Chutney (wobei ich schuldbewusst an das indische Curry von gestern Abend denke). Jane schimpft mit mir, weil ich das Essen nicht schon früher geplant habe. Ich stecke den Kopf durch die Wohnzimmertür und frage, ob sie irgendwelche Wünsche für das Mittagessen hätten, aber sie antworten nur freundlich und höflich (und nicht im Geringsten hilfreich), wir sollten einfach das zubereiten, was wir normalerweise auch essen würden. Also einigen wir uns auf einen Salade Niçoise: Kopfsalat, ein paar Eier, grüne Bohnen, eine Dose Thunfisch und Oliven. Zumindest ist er gesund, denken wir.
Vor unserem Haus hält ein schwarzes Taxi. Ethische Berater fahren doch nicht mit dem Taxi vor, oder? Sollten sie nicht besser zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmittein fahren? Ich spähe aus dem Fenster und sehe, wie eine schick gekleidete Frau mit schulterlangen blonden Haaren aus dem Taxi steigt. Ich finde, für eine ethische Beraterin sieht sie ein bisschen zu glamourös aus, aber sie kommt auf unser Haus zu.
»Hallo, Sie sind bestimmt Leo«, sagt Renée Elliott, Aufsichtsratsmitglied der Soil Association und Gründerin der Planet Organic-Bioläden in London. Ihr gelassenes Selbstbewusstsein, ihre Kleidung und ihr Benehmen vermitteln den Eindruck der erfolgreichen Geschäftsfrau, was durch ihren amerikanischen Ostküsten-Akzent noch verstärkt wird. Sie ist das genaue Gegenteil der etwas schüchternen und misstrauischen Hannah, die nebenan auf dem Sofa sitzt, und wenn jemand sich mit brutaler Offenheit darüber...