E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Hill Stummes Echo
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-311-70072-2
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
            ISBN: 978-3-311-70072-2 
            Verlag: Kampa Verlag
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Susan Hill wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und die Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic-Roman Die Frau in Schwarz läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Für ihre Romane, Erzählungen und Jugendbücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Somerset Maugham Award, und zum Commander of the British Empire ernannt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, in dem in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren.
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2
John und Bertha Prime hatten den Beacon von Johns Eltern übernommen und seit Ende der Dreißiger gemeinsam mit ihnen dort gelebt. Bertha war darauf gefasst gewesen, und genauso war sie auf die harte Arbeit gefasst gewesen. Sie stammte zwar nicht aus einer Farmersfamilie – ihre Eltern hatten den Dorfladen geführt –, aber wer auf dem Beacon lebte, wusste, was das Landleben mit sich brachte. Nur die Großgrundbesitzer hatten Cottages, in die manchmal die Söhne mit ihren neuen Familien zogen. John Primes Vater, der ebenfalls John hieß, war keiner von ihnen.
John und Bertha waren gleich nach der Hochzeit in die Dachkammer gezogen, die ihnen zu Ehren gründlich sauber gemacht und hergerichtet worden war, mit neuen Vorhängen und einer neuen Matratze auf dem alten Bett, aber das war auch schon alles, und am nächsten Morgen war Bertha nach unten gegangen, um mit ihrer neuen Schwiegermutter in der Milchkammer zu arbeiten. Danach kamen die Hühner an die Reihe und dann die Gänse und nach den Gänsen die Bienenstöcke, dann die Küche. So war das Leben auf dem Beacon. Einmal die Woche verbrachte sie einen Nachmittag bei ihren Eltern und half im Laden aus. Anfangs kam es ihr vor, als wäre sie nie weggegangen, aber schon bald änderte sich dieses und jenes, Dinge fanden einen neuen Platz, die Regale wurden neu geordnet, und Bertha fühlte sich bald wie eine Fremde, die nicht wusste, wo was hingehörte.
Im Juli hatten sie geheiratet, und im November hörte sie auf, jede Woche in den Laden zu gehen, und wenn sie doch einmal hinging, bediente sie nicht mehr, weil sie, wie sie sagten, nur im Weg stand und störte, außerdem war sie mit ihrem ersten Kind schwanger.
Das Kind, ein Junge, kam am heißesten Tag des folgenden Sommers zur Welt, als alle verfügbaren Männer und Frauen auf dem Feld waren, und Bertha lag dreizehn Stunden in der Dachkammer in den Wehen und schwitzte. John Prime lebte nur eine halbe Stunde, und das Kind im nächsten Sommer war eine Totgeburt, obwohl es in der Nacht während sintflutartiger Regenfälle geboren wurde, bei denen eine Schlammlawine den Hügel herunterkam und eine halbe Schafherde unter sich begrub.
Ihre Schwiegermutter war nicht herzlos oder unfreundlich, aber da sie selbst drei Kinder verloren hatte, nahm sie solche Dinge als unabwendbar hin und sagte kaum etwas, drängte Bertha aber auch nicht, gleich wieder in der Milchkammer oder der Küche mit anzupacken, sondern ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Aber allein in der Dachkammer zu sitzen oder schweigend über die Straßen und Felder rund um den Beacon zu gehen, ließ sie an den Tod denken, und als sie zum zweiten Mal daran dachte, ins Wasser zu gehen, und sich entsetzt dabei ertappte, wie sie den starken Ast eines Baums betrachtete, kehrte sie wieder zur Arbeit in der Milchkammer und bei den Hühnern zurück.
Ihr Mann John war zwar mitfühlend, aber unbeholfen und verbrachte ohnehin nur wenig Zeit mit ihr, weil es immer zu viel zu tun gab und es nun einmal so war. Nur im Winter, wenn das Wetter schlecht war und es früh dunkel wurde, setzte er sich manchmal mit seinem Vater zu ihr an den Kamin, trank ein Glas Ale und sprach ein wenig mit ihr, allerdings immer bloß über den Hof oder den Zustand der Äcker oder die Preise auf dem Markt. Ein-, zweimal hörten sie Radio, danach wendete sich das Gespräch der Welt draußen zu und den Folgen eines neuen, immer wahrscheinlicheren Kriegs. Aber diese Unterhaltungen waren kurz und verstummten mit dem erlöschenden Feuer, und dann war es an der Zeit, dass die Frauen Brot und Käse auf den Tisch stellten und ein letztes Glas vor dem Zubettgehen einschenkten.
Zwei Tage vor Kriegsausbruch lag Bertha kurz in heftigen Wehen und brachte Colin zur Welt, acht Pfund schwer und strotzend vor Gesundheit. Kaum ein Jahr später wurde Frank geboren. Jetzt waren sie selbst eine Familie und schauten nicht mehr zurück, auch wenn Bertha jedes Ostern und Weihnachten auf den Friedhof ging, um Blumen auf die Kindergräber zu legen. In den Jahren, als sie krank gewesen war und zuerst ans Haus und dann ans Bett gefesselt, hatte May diese Aufgabe übernommen, weil man sie darum bat und weil es schon immer so gemacht worden war, wie so vieles in diesem mit Gewohnheiten und Bräuchen und ein paar wenigen Ritualen angefüllten Leben.
May war im Frühling 1942 in derselben Kammer zur Welt gekommen. Diesmal kamen Berthas Presswehen noch schneller, und sie hätte das Kind beinahe in der Küche und dann auf den letzten Treppenstufen geboren.
May war weder groß noch kräftig, sie war ein dünnes, blasses kümmerliches Baby, das nicht trinken wollte und nicht besonders lebhaft war. Nachdem Berthas Milch versiegt war, war es zu guter Letzt ihre Großmutter, die sie Tag für Tag ein wenig weiterlockte, ihr frische Kuhmilch gab und geduldig mit ihr auf einem Küchenhocker saß, bis sie das Fläschchen leer getrunken hatte. Die beiden Jungen gediehen prächtig und rannten herum.
Ihr Leben war bereits hart, und so machte der Krieg es nicht viel schlimmer, in mancher Hinsicht wurde es sogar leichter, weil die Farmen Unterstützung in Gestalt von Kriegsgefangenen und sogar Erntehelferinnen erhielten, auch wenn von Letzteren nie eine auf den Beacon kam. Die Primes hatten mehr zu essen als viele andere – die Männer schossen Kaninchen, und es gab immer Früchte und Pilze, wenn man wusste, wo man sie fand.
May war drei, als ihr Großvater starb, und sie erinnerte sich nur an den Tabakgeruch, der offenbar aus jeder seiner Poren und den Haaren auf seinem Kopf kam und wie ein zusätzlicher Faden in jedes seiner Kleidungsstücke gewebt schien. Als er starb, rückte John Prime an seine Stelle, und das Einzige, was sich änderte, war, dass er jetzt Anordnungen gab, statt ihnen Folge zu leisten. Die Arbeit blieb die gleiche. Allerdings stand nie zur Debatte, dass John und Bertha aus der Dachkammer in das große Schlafzimmer mit dem großen Bett zogen. Falls die Witwe jemals dachte, dass es an ihr war, ihren Platz für die folgende Generation zu räumen, wie es andere in ihrer Lage gedacht und getan hätten, sagte und tat sie jedoch nichts, und so blieb alles beim Alten, und Bertha wagte nicht zu fragen. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis Bertha das große Zimmer und das größte Bett übernahm, und da hatte sie schon vergessen, dass beides einmal so begehrenswert erschienen war. Die Dachkammer war ihrs. In der Dachkammer hatte ihre Ehe begonnen, die Dachkammer war der Rückzugsort der Eheleute, ihre kleine Welt, und sie verließ sie zuletzt nur ungern. Mittlerweile brauchten Colin und Frank jedoch ein größeres Zimmer, und May übernahm ihr altes Zimmer, und so kam es, dass sich alles veränderte und das Leben nach einer kurzen Pause, in der die Matratzen ausgetauscht wurden, weiterging wie gehabt.
Sie hielten Milchkühe und wegen des Fleischs ein paar Rinder, Schafe, Schweine und Hühner und für Weihnachten Gänse und Truthähne. Sie bauten Weizen, Gerste und Kartoffeln an, und weil das Land zum Teil an dem Hügel lag, der sich hinter dem Beacon erhob, und zum Teil in der Flussebene, war die Arbeit nie gleichförmig und gab es immer etwas zu tun. Nach dem Krieg nutzten sie keine Pferde mehr, sondern kauften einen Traktor, und das Melken wurde nach und nach mechanisiert, aber dadurch wurde die Arbeit nicht weniger, und sieben Monate im Jahr war das Wetter an diesem hochgelegenen einsamen Ort gegen sie.
May erinnerte sich an ihre Kindheit auf dem Beacon in Bruchstücken, gleich Bildern in einem Album, nur dass die Bilder manchmal von Tönen, einem bestimmten Geruch oder Geschmack begleitet waren. Ein Dorfbewohner hatte seine Enkeltochter Sylvia mitgebracht, und die beiden gleichaltrigen Mädchen waren zum Erdbeerbeet gelaufen und hatten die sonnenwarmen Früchte gegessen, bis ihre Münder rot waren und ihnen der Bauch wehtat. May musste fortan nur das Wort »Erdbeere« lesen oder hören, und sofort war alles wieder gegenwärtig, der Geschmack und Geruch der Beeren, des Strohs, auf dem sie lagen, und der Erde.
Das Ziehen in ihren Waden, nachdem sie den Hügel hinaufgestiegen war, und das beißende Gefühl von Regen und Wind auf ihrem Gesicht.
Der Geruch ihrer Großmutter, als sie alt war. Wegen dieses zugleich fauligen und seltsam süßlichen Geruchs mochte May sich nicht dem Sessel mit der Großmutter nähern oder ihrem Bett.
Zur Schule war sie mit dem Bus gefahren, der am Ende des Weges hielt, aber die Erinnerungen an die Schule selbst waren noch bruchstückhafter. Das Gefühl eines Holzlineals in ihrer Hand, und einmal die Nachricht, dass ein Mädchen aus ihrer Klasse heftig an Masern erkrankt war, und dann die Nachricht, dass das Mädchen tot war.
Die glänzenden grünen Fliesen im Waschraum. Das kalte Wasser, von dem einem die Zähne wehtaten, wenn man es direkt aus dem Hahn trank, statt es erst in die hohle Hand laufen zu lassen und daraus zu trinken.
Zumindest hatte sie keine richtig schlechten Erinnerungen, und das war wichtig. Als sie sich später Schritt für Schritt ihr Leben – und das der anderen – von der fernen Vergangenheit bis in die Gegenwart vergegenwärtigen musste, fiel ihr nichts ein, das mehr als ein vorübergehendes Unwohlsein gewesen wäre, wie es jedes Kind erlebte – Zahnschmerzen oder eine Verbrennung oder Enttäuschung, weil etwas auf später verschoben wurde. Ihr Leben war ereignislos verlaufen, bis sie sechs war und ihre Schwester, das letzte Kind, geboren und auf den Namen Berenice getauft wurde. Ihre Großmutter hätte sie am liebsten Sheila genannt, John Prime wäre alles recht gewesen. Eigentlich wusste keiner genau, wo Bertha den Namen Berenice...




