E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Hillerman Mord und Gelächter
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-293-31168-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman. Ein Fall für die Navajo-Police (10)
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ein Fall für die Navajo-Police
ISBN: 978-3-293-31168-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tony Hillerman (1925-2008) besuchte acht Jahre lang ein Mädchen-Internat für Native Americans, kämpfte im Zweiten Weltkrieg, studierte danach Journalismus und war anschließend als Journalist und Dozent an der University of New Mexico tätig. Für seine Romane um die Navajo-Cops Joe Leaphorn und Jim Chee wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Edgar Allan Poe Award, dem Grandmaster Award, dem Grand Prix de Littérature Policière, dem Special Friend of the Diné Award und dem Agatha Award. Hillermans Romane wurden in siebzehn Sprachen übersetzt.
Weitere Infos & Material
1
Es war Officer Jim Chee zunächst reichlich komisch vorgekommen, bei wildfremden Leuten auf dem Dach zu sitzen. Aber das hatte sich rasch gelegt. Mittlerweile hielt er den Aussichtspunkt in luftiger Höhe für eine der wenigen guten Ideen von Cowboy Dashee. Von hier oben konnte Chee alles überblicken. Die Trommler direkt unter den Spitzen seiner frisch gewienerten Stiefel, den Zug der maskierten Tänzer, der gerade zur Linken auf die Plaza einbog, die Zuschauer, die sich entlang der Hausmauern drängten, und die Verkaufsbuden, die das Gewirr der schmalen Straßen säumten. Über die Köpfe der dicht gedrängten Zuschauer auf den flachen Dächern konnte er den Blick auf den unregelmäßig gepflanzten Pappeln in goldenem Herbstschimmer ausruhen lassen, die sich am Flussufer aneinanderreihten, oder auf den blauen Bergen am Horizont oder auf dem Flickenteppich, den die grünen, braunen oder silbern glänzenden Vierecke des künstlich bewässerten Farmlands der Tano bildeten.
Ein exzellenter Hochsitz, um den Tano-Kachina-Tanz zu beobachten – sei es aus persönlichen oder eben dienstlichen Motiven. Besonders, weil sich Janet Petes Oberschenkel so schön warm an ihn schmiegte. Falls Delmar Kanitewa hier auftauchte, würde er ihn sicher nicht verpassen. Und wenn der Junge sich nicht blicken ließ, hatte er zumindest den besten Platz erwischt, um die Zeremonie zu beobachten.
Solche mystischen Rituale hatten schon immer eine große Faszination auf Chee ausgeübt. Seit frühester Jugend hatte er sich gewünscht, in die Fußstapfen von Hosteen Frank Sam Nakai zu treten. Nach dem Familienverständnis der Navajo war Nakai als älterer Bruder von Chees Mutter sein »Kleiner Vater«. Ein Schamane, ein hataalii – oder, wie die Weißen sagten, ein Singer oder Medizinmann, der in hohem Ansehen stand, weil er das Wissen um die traditionelle Religion bewahrte und die segensreichen Gesänge kannte, die die Holy People einst die Menschen gelehrt hatten, damit sie Heilung erlangten und in Harmonie blieben mit allem, was uns auf Erden umgibt. Nakai wirkte auf dem schmalen Grat zwischen Körper und Geist – das hatte Chee schon als kleinen Jungen so fasziniert.
»Sie möchten, dass die Fremden beim Kachina-Tanz oben auf den Dächern sitzen«, hatte Cowboy gesagt, »weil ihr Touristen ihnen dann wenigstens nicht auf den Füßen herumtretet. Vorausgesetzt, ihr fallt nicht herunter, könnt ihr weniger Unsinn machen und die Zeremonie stören. Die Tano brauchen Platz für ihre Tänze, unter anderem, weil sie mit den Kachinas Geschenke austauschen müssen.«
Dashee war vereidigter Deputy Sheriff im Apache County in Arizona, ein Hopi aus dem alten Side Corn Clan – und Chees bester Freund. Obwohl er manchmal eine richtige Nervensäge sein konnte.
»Aber was ist, wenn ich den Jungen irgendwo entdecke?«, hatte Chee gefragt. »Denkst du etwa, er wartet brav, bis ich runtergeklettert bin?«
»Warum nicht? Er weiß ja nicht, dass du ihn suchst.« Mit gespielter Vertraulichkeit, so, dass Chee es hören musste, hatte er Janet Pete zugeflüstert: »Der denkt doch, dass unser Detective Chee drüben in Thoreau an diesem spektakulären Mordfall arbeitet.«
Asher Davis hatte gesagt: »Ich glaub, ich kenne den Ermordeten. Da gab es einen Lehrer an dieser Saint Bonaventure School, einer von diesen Freiwilligen, und der hat mich ein-, zweimal angerufen, weil ein älterer Herr was verscherbeln wollte, und ich sollte zusehen, dass er einen guten Preis dafür rausschlagen kann. Das eine Mal handelte es sich um ein kleines silbernes Blütenstaubdöschen, hat ganz nach neunzehntem Jahrhundert ausgesehen. Und irgendein schräger Vogel in Farmington wollte dem alten Mann lausige zwei Dollar dafür zahlen. Ich hab glatt zweihundertfünfzig für ihn ausgehandelt. Kann es der sein, der umgebracht worden ist?«
»Sein Name war Dorsey«, hatte Chee gesagt, eher griesgrämig klingend, weil er Davis nicht kannte und sich noch nicht sicher war, ob er den Mann mochte. Aber das war vielleicht nur seiner Laune geschuldet.
»Dorsey«, hatte Davis gesagt. »Ja, das ist er.«
»Seht ihr.« Dashee grinste. »Mit diesen schweren Verbrechen befasst sich Officer Chee. Und er hat dazu noch die Zeit, dem Herausgeber der Zeitung Briefe zu schicken, damit der Rat der Tano endlich kapiert, was er mit den alten Uranminen anfangen soll.«
»Hey!«, sagte Janet. »Nun halt aber mal die Luft an, Cowboy. Das war ein verdammt guter Brief. Mit einem verdammt gescheiten Vorschlag. Die bei der Zeitung haben das genauso gesehen. Sie haben sogar eine fette Balkenüberschrift drüber gesetzt.« Sie stieß Cowboy in die Rippen. »Willst du vielleicht, dass wir für den Rest der Welt zur Giftmüllhalde werden?«
Den ganzen Vormittag über hatte Chee geflissentlich Dashees Sticheleien überhört. Zuerst war es um den Brief gegangen, der an diesem Morgen in der Navajo Times erschienen war. Darin hatte Chee dem Vorschlag widersprochen, eine offene Grube der nicht mehr genutzten Jacks-Wild-Mine als Giftmülldeponie zu verwenden. Er hatte die Idee als »symptomatisch für den verächtlichen Umgang mit Stammesland« bezeichnet. Dann war die Sache mit dem Lehrer in Thoreau dazugekommen – der Mord im Werkraum der Schule; sie hatten im Autoradio davon gehört. Der Mann war an den Folgen eines schweren Schlages auf den Schädel gestorben. Den ersten Meldungen zufolge waren verschiedene Verkaufsobjekte verschwunden, einen Tatverdächtigen gab es noch nicht.
Ein ziemlich aufsehenerregendes Verbrechen, gemessen daran, was sonst so im Reservat passierte. Mit Sicherheit ein Fall, der es eher lohnte als dieser Auftrag hier. Die Sache war zwar gestern passiert, an Chees freiem Tag, aber Lieutenant Leaphorn hätte ihn trotzdem in die Ermittlungen einbeziehen können. Oder zumindest mit ihm reden können. Das wurmte Chee.
Aber noch mehr wurmte ihn Janet, weil sie Cowboy Dashee mit ihrem Grinsen und amüsiertem Kichern zu seinen Hänseleien ermuntert hatte. Nachdem sie seinen Brief gelobt hatte, war er allerdings bereit, ihr alles zu vergeben und sogar Cowboy nicht länger zu grollen. Zumal er zugeben musste, dass er durch die flapsige Bemerkung, dass die Hopi dazu neigten, in die Breite statt in die Länge zu wachsen, selber mit den Sticheleien angefangen hatte. So wie er auch zugeben musste, dass Cowboy mit dem Dach recht hatte. Falls Kanitewa da unten in der Menge auftauchte, weil er dabei sein wollte, wenn sein Pueblo dieses Herbstfest beging, würde sich der Junge inmitten seiner Familie und seiner Freunde absolut sicher fühlen. Andererseits wissen Kids, die aus einem Internat weglaufen, im Allgemeinen genau, dass jemand hinter ihnen her ist.
Chee war selber mal so ein Junge gewesen. Dieses Gefühl der Angst, das Wissen, gejagt zu werden, würde er nie vergessen. Man kann einfach nicht mehr ruhig durchatmen, selbst wenn die Jagd, wie in Chees Fall, kurz war und die Angst nicht viel Zeit hatte, um erdrückend zu werden. Der Mann aus dem Internat hatte, versteckt hinter dem Schafstall, im Wagen auf ihn gelauert, als Chee auf den Hogan seiner Mutter zugegangen war. Ihn zu sehen, war beinahe eine Erlösung gewesen. Die Erinnerung daran bot eine weitere Ausrede, um nicht dort oben auf dem Flachdach zu sitzen.
»Kanitewa wird ganz schön nervös sein«, meinte Chee, »und sich nicht so einfach schnappen lassen.«
Dashee sah das anders. »Ich sag dir was. Wir werden hier auf dem Dach sitzen. Wenn wir ihn entdecken, behältst du ihn im Auge, und ich klettere runter und greif ihn mir.«
Chee ließ sich das durch den Kopf gehen.
»Wenn diese Leute echte Hopi wären, müssten wir uns bei der ganzen Geschichte gar keine grauen Haare wachsen lassen«, sagte Dashee. »Bei uns Hopi sitzen alle Männer auf dem Dach – und die Frauen und Kinder unten auf den Treppenstufen rund um den Tanzplatz. So gehört sich das bei uns.«
»Nicht in allen Hopi-Dörfern«, widersprach Chee.
»In meinem ist es so, weil wir uns an die alten Traditionen halten.«
»Aber darum geht es doch jetzt gar nicht. Auf dem Dach wird er mich sehen. Ich sitze hier, rudere mit den Armen und deute auf ihn. Da muss er ja Verdacht schöpfen.«
Und alle anderen würden ihn auch sehen – einen Navajo, der sich bei einer Tano-Zeremonie zum Narren macht.
Asher Davis hatte schon die ganze Zeit zur Traufe des Daches hochgeblinzelt, offenbar ziemlich beunruhigt. Unter dem Kragen des Sporthemds wölbte sich sein sonnengebräunter Nacken zu einem dicken Wulst, und der Hemdrücken spannte bedenklich über seinem breiten Kreuz, obwohl Asher vorsichtshalber schon Größe »3XL« trug.
»Ich frag mich, ob mich das trägt?«, sinnierte er mit hörbarem Zweifel in der Stimme.
»Keine Sorge.« Dashee deutete mit weit ausholender Geste rund um die Plaza. »Gucken Sie sich doch all die Leute da oben an. Solche Dächer sind eigens für gestandene Mannsbilder wie uns beide gemacht oder – nach einem kritischen Seitenblick auf Chee und Janet Pete – für doppelt so viele der Sorte, die nichts auf den Rippen hat.«
Asher blieb skeptisch. »Für mich sind die bestimmt nicht gemacht. Und ich muss sowieso ein paar Leute hier treffen. Muss mich um meine Geschäfte kümmern. Die Ökonomie der Tano ankurbeln, ein paar hübsche Sachen aufkaufen.«
Janet Pete hatte die Diskussion beendet. »Kommen Sie, Asher, seien Sie nicht...